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Ausgabe:

Juli/August/2018

Spalte:

747–749

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Köhler, Sarah

Titel/Untertitel:

Jeremia – Fürbitter oder Kläger? Eine religionsgeschichtliche Studie zur Fürbitte und Klage im Jeremiabuch.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2017. X, 295 S. = Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, 506. Geb. EUR 99,95. ISBN 978-3-11-054069-7.

Rezensent:

Christl M. Maier

Die von H. Bezzel an der Universität Jena betreute Dissertation von Sarah Köhler will die Rolle Jeremias bei der Entstehung des Jeremiabuches klären. Sie nimmt dabei die seit Duhms Kommentar von 1901 un­hinterfragte Zuordnung der Gedichte in Jer 4,19–22; 6,9–15; 8,18–23 und 10,19–25 zum ältesten Textbestand als Ausgangspunkt.
Auf eine knappe Einleitung folgen eine text- und literarkritische Analyse der genannten Texte (Kap. 1), deren Einordnung in den Kontext altorientalischer Klagetraditionen (Kap. 2), ein kurzes Kapitel zur Fürbitte als Element dieser Klagetraditionen (Kap. 3), die Diskussion der Leitfrage des Titels (Kap. 4) sowie eine Ergebnissicherung. Ein Literaturverzeichnis und ein Bibelstellenregister schließen den Band ab.
Die Analysen in Kapitel 1 bieten jeweils eine Übersetzung und Beobachtungen zum Text, die ausführlich die Textkritik sowie die Semantik einzelner Wörter behandeln. Die sich anschließende Li-terarkritik folgt methodisch dem Vorgehen Duhms, Levins und Bezzels und ist daher weitgehend deskriptiv angelegt. Sie führt zu geringen Umfängen des Grundbestands und zur Differenzierung von bis zu drei weiteren Bearbeitungsschichten sowie punktuellen Fortschreibungen, die jeweils in Tabellenform präsentiert werden. Der Grundbestand der Klagen ist demnach Jer 4,19–21; 8,18.21–23; 10,19a.20.22a β.b; Sprecherin der Klage in Jer 4* und 10* ist die als Frau personifizierte Stadt Jerusalem (20.56), in Jer 8* das als Tochter personifizierte Volk (47). Jer 6,9–15 bietet K. zufolge eine Zeichenhandlung (V. 9b.12b), der eine erste Bearbeitung Klagen über Ge­fangennahme und Besitzverlust (V. 11b.12a) hinzufügte.
Kapitel 2 zur altorientalischen Klagetradition referiert kurz an­hand der Studien von J. W. Dobbs-Allsopp und M. Wischnowsky die Methodik des Vergleichs von altorientalischen und biblischen Texten im Blick auf cultural patterns. K. stellt dann die neuere Diskussion zu den sumerischen Stadtklagen sowie den balağ- und eršemma-Klageliturgien des ersten Jahrtausends vor. Demnach wurden balağ-Klagen von kalū-Priestern zu festen Tageszeiten vor der Götterstatue vorgetragen, kopiert und weiter überliefert (101f.). Am Rande verweist K. auch auf Parallelen in den ägyptischen sog. »Admonitions«. Der Vergleich dieser Klagetexte mit den Jeremiafragmenten sowie Versen aus Threni und Psalmen ergibt folgende Gemeinsamkeiten: die Themen Ich-Klage und Klage über die Zerstörung von Land und Besitz, drei Motive (vom Unheil betroffene Personengruppen, Übernahme des Stadtraums durch wilde Tiere und Aussagen über das Kultpersonal) sowie die Form der Frage nach der Dauer der Not. In weiteren altorientalischen Texten, u. a. dem Erra-Epos, macht K. eine weisheitliche Verarbeitung von Klagetraditionen und die Bitte um Rache aus. Diese bereits von Dobbs-Allsopp, Emmendörfer und Wischnowsky herausgearbeiteten Mo­tivparallelen sind Grundlage für K.s These, der historische Jeremia sei ursprünglich nicht als Prophet, d. h. als Übermittler göttlicher (Unheils-)Botschaften (vgl. 208.214) aufgetreten, sondern habe in Analogie zu einem assyrischen kalū-Priester (sumerisch: gala) Klagen zur Herzberuhigung der Gottheit vorgetragen und Fürbitte eingelegt.
Da solche Klagen überwiegend im sumerischen emesal-Dialekt überliefert sind, stützt K. sich vor allem auf jene Passagen, die in akkadischer Interlinear-Übersetzung vorliegen, in der An­nahme, Gelehrte in Israel und Juda sowie nach Assyrien und Babylonien deportierte »Juden« hätten Akkadisch verstanden (153). Die Kenntnis des liturgischen Amtes des kalū zur Zeit Jeremias begründet K. mit einer Verknüpfung mehrerer gewagter Analogieschlüsse: Zum einen postuliert sie für das vorexilische Juda die Kenntnis assyrischer Kriegsrituale und Rituale für Grenzstelen. Erstere bitten aus Anlass eines feindlichen Angriffs um göttlichen Beistand für den König und enthalten Anweisungen zur Rezitation von Klagegebeten. Freilich sollte die Behauptung, Judäer hätten solchen Ritualen beigewohnt (73), begründet werden. Für die Rituale an Grenzstelen, die an der Peripherie des assyrischen Reiches errichtet wurden, liegen bisher über Initiationsriten hinaus keine Texte vor. Hier schließt K. aus der Aufführung von Klageliturgien bei Götterprozessionen auf analoge Rituale an den Grenzstelen mit dem Hinweis, die Stelen seien ebenfalls Königsmonumente (73).
In Kapitel 3 definiert K. die Fürbitte als Eintreten vor einer Gottheit zugunsten einer Personengruppe (157). Da die sog. Herzberuhigungseinheit am Ende der balağ- und eršemma-Klagen eine Fürbitte untergeordneter Gottheiten enthält, deutet K. die Aufführung solcher Liturgien durch den kalū als Hinweis auf dessen Aufgabe der Fürbitte, die jeglichem zerstörerischen Beschluss einer Gottheit vorbeugen soll. Allerdings findet sich in dem von K. herausgearbeiteten Grundbestand der Klagen in Jer 4–10* keine ein-zige Bitte oder gar Fürbitte. Für die Erzählungen in Jer 37 und 42 postuliert K., eine ursprüngliche Fürbitte Jeremias sei in eine Orakelanfrage umgearbeitet worden, auf die der Prophet mit einer Unheilsankündigung antworte, so dass die Fürbitte wirkungslos scheine (175.178). Ziel der Klage und Fürbitte sei in den kalū-Texten wie in der Jeremia-Tradition, die Gottheit von ihrem Zerstörungswillen abzubringen. Im Verbot der Fürbitte (Jer 7,14; 11,14; 14,11) komme dagegen zum Ausdruck, dass ein bereits eingetretenes Un­heil retrospektiv nicht gedeutet werden dürfe und einer Fürbitte nicht mehr zugänglich sei (166.206).
Die Antwort auf die im Buchtitel aufgeworfene Frage »Fürbitter oder Kläger?« lautet daher: »Jeremia, der literarische wie der historische, ist beides zugleich. Der Unterschied zwischen ihnen ist nur, dass der historische es zu bleiben vermag, während dem literarischen die Fürbitte verboten wird, da dessen im Buch festgehaltene Aufgabe die Unheilsankündigung ist.« (254) Abgesehen davon, dass es eigentlich »Klagender«, oder im Sinne der These »Klagepriester«, heißen müsste, da ein »Kläger« bei einer Gerichtsverhandlung auftritt, ist die These, der historische Jeremia habe ursprünglich mit liturgischen Klagen auf die Herzberuhigung JHWHs gezielt, damit dieser erst gar kein Unheil über Juda beschließe, nicht überzeugend. Erscheint es an sich sinnvoll, eine Dissertation in Textumfang und Fragestellung zu begrenzen, so reichen K.s punktu-elle Textanalysen in Verbindung mit weitgehend hypothetischen A nnahmen zur Begründung einer so weitreichenden These be-züglich der ursprünglichen Jeremiatradition keinesfalls aus. Die de­taillierte Analyse von 22 Versen (Kap. 1, 9–64) steht in krassem Ge­gensatz zu einer auf 14 Seiten auf Basis von Studien Levins, Pohlmanns und Bezzels postulierten These zur Entstehung des ge-samten Buches (238–251). Die im Verlauf der Studie zunehmende Redundanz der Argumentation mag ebenfalls ein Indiz für die Problematik der These sein, die Argumente unterschiedlicher me­thodischer Ebenen freizügig verknüpft. Die Auseinandersetzung mit Sekundärliteratur beschränkt sich weitgehend auf ein Aufgreifen von Thesen, ohne abweichende Meinungen begründet zu entkräften. Ob die vorgetragene Hypothese in der Jeremia-Forschung Bestand haben wird, muss sich zeigen; die Rezensentin ist da eher skeptisch. Dass das Manuskript hinsichtlich sprachlicher Klarheit, Rechtschreibung, Satzbau und Kommasetzung die traditionell hohe Qualität eines BZAW-Bandes deutlich unterschreitet, hindert ebenfalls eine wohlwollende Rezeption.