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Ausgabe:

Juli/August/2018

Spalte:

744–747

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Hopf, Matthias

Titel/Untertitel:

Liebesszenen. Eine literaturwissenschaftliche Studie zum Hohenlied als einem dramatisch-performativen Text.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2016. 416 S. = Abhandlungen zur Theologie des Alten und Neuen Testaments, 108. Kart. EUR 76,00. ISBN 978-3-290-17858-1.

Rezensent:

Stefan Fischer

Bei diesem Werk von Matthias Hopf handelt es sich um eine 2014 an der Augustana Theologische Hochschule Neuendettelsau angenommene Dissertationsschrift, die von Helmut Utzschneider be­treut wurde. Für die Publikation wurde sie leicht überarbeitet und aktualisiert. H. kommt zu dem Ergebnis, beim Hohenlied handle es sich um einen dramatischen Text mit einem hohen Performanzpotential.
Das Buch gliedert sich in drei Abschnitte: A) Grundlegung: Hinführung, Übersetzung, Methodik (13–60); B) Hauptteil: Das Hld –Analyse eines dramatischen Textes (61–292); C) Der Ertrag der Studie: Das Hld – ein dramatischer Text mit Performanz-Potential (293–367). Es wird abgeschlossen durch eine umfangreiche, in Textausgaben, Hilfsmittel und Sekundärliteratur gegliederte Bibliographie, zwei Anhänge und ein Stellenregister. Anhang 1 beinhaltet eine Synopse der Rubriken in vier griechischen Handschriften mit eigenständiger Übersetzung. Anhang 2 bietet eine vollständige Übersetzung des hebräischen Textes von Hld, wobei der Text in Szenen und Auftritte arrangiert ist. Das Stellenregister gliedert sich in Hebräische Bibel, Qumran und Rabbinische Texte.
H. legt seine Vorgehensweise strukturiert und nachvollziehbar dar. Die sechs Elemente, welche Aristoteles für das Drama kennt, reduziert er auf die Trias von Lexis, Opsis und Plot. Da zum Drama eine on-stage-Realisierung gehört, zieht er es vor, von einem dramatischen Text zu sprechen, welchen er in seiner Kommunikationsstruktur von erzählenden Texten abgrenzt, deren vermittelnde Instanz eines fiktiven Erzählers nicht vorhanden ist. An Opsis und Plot lässt sich aufzeigen, ob ein Text nicht nur Redesubstrat ist, sondern ihm potenziell eine dramatische Performanz zukommt, er also Performanz-Potential hat. Da Lexis, Opsis und Plot für H.s dramentheoretisches Analyse-Instrumentarium wesentlich sind, stellt er sie in seinen Grundzügen dar. Dieses erfolgt in Anlehnung an Manfred Pfister (Das Drama. Theorie und Analyse) und mit Zuspitzung auf Hld. Bei der Lexis definiert er Replik, semantischen Richtungswechsel und die referentielle Sprachfunktion. Als komplizierte Aufgaben der Lexisanalyse erweisen sich die Sprecherzuweisung, die Bestimmung des Figurenensembles, die Segmentierung der Figurenrede und die Identifizierung der Adressaten einer Replik.
Da H. von einem dramatischen Text und nicht von einem Drama spricht, definiert er bei der Opsis die Bühne konsequent metaphorisch als den Spielbereich des kommunikativen und aktionalen Geschehens. Er unterscheidet metaphorische Sprache und echte Beschreibungen der Opsis und bedenkt die Kommunikationsebenen, an denen sich entscheidet, ob eine optische Beschreibung on stage anzusiedeln ist. Für die Analyse zieht er besonders die Bestimmung der Orte und Ortswechsel, die Informationen über das Er­scheinungsbild der Figuren und das aktionale Bühnengeschehen ein.
In der Analyse des Plots unterscheidet H. handlungszentrierte und figurenzentrierte Plots und hebt hervor, dass der Konflikt für ein Drama nicht zwingend notwendig ist – dieses in impliziter Abgrenzung von den konfliktorientierten Dramentheorien des 19. Jh.s. Was die Zeitstruktur betrifft, so ist diese stringenter und linearer als in einem erzählenden Text. Die Replik treibt die Zeit voran, welche in primäre, sekundäre und tertiär gespielte Zeit differenziert wird. Die Segmentierung des Textes unterscheidet den Auftritt, der durch Kontinuität in der Figurenkonstellation und der raum-zeitlichen Struktur bestimmt ist, von der raum-zeitlich diskontinuierlichen Szene. Auch muss unterschieden werden, ob die Handlung on stage oder als verdeckte Handlung off stage, in einem Botenbericht, einer Mauerschau, oder einer virtuellen Wortkulisse stattfindet. Zum Plot gehören schließlich die Figurencharakterisierungen und deren Charakterprofile. Für Hld ist hier besonders die Travestie, in der eine Figur verschiedene Rollen übernehmen kann, zu berücksichtigen. Außerdem ist die Interaktion zwischen den einzelnen Figuren für deren Bewertung wichtig. Mit dem Verweis auf die eingeschränkte Relevanz der Nebentexte aus Qumran und der LXX-Tradition schließt der erste Hauptteil ab.
Die Übersetzung zielt auf weitgehende Wörtlichkeit bis in die Satzstruktur hinein. Die Einteilung in Teilverse erfolgt nach dem leicht modifizierten, syntaktischen Prinzip Utzschneiders. Die Übersetzung ist mit vielen semantischen und grammatikalischen Anmerkungen versehen.
Zwar wird der gesamte Text vom Hld analysiert, aber in detaillierter Tiefe wird sich auf die Anfangs- und Schlussszenen (Szenen I–III; 1,1–2,3b; Szene X, 8,5–14) und Szene VII,1 (5,2–6,3), da diese oft als die ›dramatischste‹ angesehen wird, begrenzt. Hier erfolgt je­weils eine Auswertung der (Teil-)Szene, während sich in den anderen Teilen auf die Analyse von Lexis, Opsis und Plot beschränkt wird. Kleinschrittig und reflektiert legt H. seine Übersetzungs- und Zuordnungsentscheidungen dar. Der Text wird auf die dargelegte Methodik hin ausgewertet: Das Fehlen von Namen, welche die Sprechenden eindeutig zuordnen würden, wird als »Hinweis a uf die Praxis der Performanz« gewertet, da beim Auftreten der Figuren die »sprachliche Uneindeutigkeit figural vereindeutigt wird« (69). Ebenso wird die optativische Aufforderung »er küsse mich« (1,2a) nicht als Äußerung eines Wunsches oder einer Phantasie, sondern als indirekte Aufforderung verstanden, deren »aktionale Verwirklichung […] on stage folgen soll.« (71)
Was die Szenen I–III betrifft, so rekonstruiert H. jeweils den Plot und weist ggf. auf unterschiedliche Optionen hin. Er grenzt die Szenen nach den dargelegten Methoden voneinander ab und schließt sie jeweils mit einer Auswertung ab, in welcher er ein deutliches Figurenprofil von Mann, Frau und den Töchtern Jerusalems herausarbeitet. Die Analyse der Sprechenden und Adressaten nach den LXX-Nebentexten bietet im Hauptteil, der Analyse des dramatischen Textes, Interpretationsmöglichkeiten, die aufzeigen, wie die jeweiligen Szenen gegliedert und zugeordnet wurden.
H. fasst die Ergebnisse seiner Lexis-, Opsis- und Plotanalyse zusammen und wertet sie aus: Die Bestimmung der Sprecherzuweisungen führt zu einem erstaunlich sicheren Gesamtbild mit einem Ensemble von drei Figuren und Redestrukturen, wie sie aus vielen anderen dramatischen Texten bekannt sind. Eine Opsis ist prinzipiell gegeben, aber für die Handlung on stage ist wenig vorgegeben, so dass an eine »leere Bühne« zu denken ist. Dieser lokal unterbestimmte Raum wird durch die Beziehung der Liebenden gefüllt. Was den Plot betrifft, so findet H. zehn Szenen, je unterschiedlicher Figurenkonstellationen, mit insgesamt dreizehn Auftritten. Eine durchgängige Handlung mit kausalisch-logischer Ereigniskette gibt es nicht. Da diese nicht als notwendig betrachtet wird, kann sich die dem Text zugrundeliegende Einheit wie eine Perlenkette vorgestellt werden. Im Anschluss wertet er die Nebentexte und andere Hinweise aus der Rezeptionsgeschichte aus und fasst sein Resultat, dass Hld ein dramatischer Text mit Performanzpotential ist, zusammen. Als Nebenergebnis seiner Untersuchung kann der sich anschließende kurze Abschnitt über die Kanonisierung angesehen werden. Hier vermutet er, dass eine weite performative Verbreitung von Hld in Abwehr hellenistischer Einflüsse dazu führte, diesen Hld entgegenzustellen und es in den Kanon aufzunehmen.
Der Rezensent hat sich über das Werk gefreut, da er in seiner eigenen Habilitationsschrift auf die ausstehende Aufgabe hingewiesen hatte, Hld »einer Dramenanalyse zu unterziehen und zu einer performativen Darstellung zu gelangen«. Diese Aufgabe hat H. in gründlicher, systematischer und abwägender Weise gelöst. Ihm ist es gelungen, Hld unter dem Aspekt der Performanz neu zu erschließen. Die konsequente Anwendung seiner Methodik, welche Kohärenz und Dialogizität viel stärker als den Inhalt gewichtet, führt dazu, einzelne Szenen neu zu bewerten. So wird etwa die inhaltliche dramatische Szene 5,2–7 als narrativ-episierende Episode klassifiziert und die dramatische Anlage der Szenen I–III aufgezeigt.
Natürlich bleiben Differenzen im Detail. Die Beschränkung auf drei Figuren ist zwar eine nützliche Arbeitshypothese, sie führt aber zu einer Reduktion, die manchmal gezwungen wirkt. Sollte 8,8–9 tatsächlich von den Töchtern Jerusalems gesprochen sein, die so ein- und erstmalig zu sich selbst sprächen (275)? Könnte bei 7,1 nicht auch den Nebentexten gefolgt werden? Werden Figuren, die nicht an der Handlung beteiligt sind, nicht per definitionem ausgeschlossen, obwohl sie als Sprechende denkbar wären?
Obwohl H. Bühne metaphorisch als den Spielbereich des kommunikativen und aktionalen Geschehens versteht, entsteht am Ende der Eindruck, er wolle eine Aufführungspraxis nahelegen. Für den Rezensenten scheint die Aufführbarkeit des Ganzen als ein Bühnenstück, auch als szenische Darstellung auf einer »leeren Bühne« zu wenig kohärent zu sein. Wenn durchgängige Handlungen und kausal-logische Ereignisketten zwischen den Szenen fehlen, so führt die Vorstellung der Aneinanderreihung, wie auf einer Perlenkette, eben dazu, dass es sich um Einzelszenen handelt, die – wie H. zu Recht mit Verweis auf die Rezeptionsgeschichte an­führt– »in unterschiedlichen Kontexten und zu unterschiedlichen Gelegenheiten« (367) in unterschiedlichen Varianten vorgetragen wurden. Dabei wäre auch der Gattung Lied in der Aufführungsform noch Rechnung zu tragen. Die von H. herausgearbeitete Deutungsoffenheit der Figuren, die zu einer leichteren Identifikation der rezipierenden führt, kommt diesem entgegen, ebenso die Re­zeption vom Hld in den Nebentexten. Diese Schlussbemerkungen sollen als Beitrag zur Diskussion verstanden werden, die H. mit seinem gelungenen Werk eröffnet hat.