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Ausgabe:

Juli/August/2018

Spalte:

736–738

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Mayer, Günter, u. Michael Tilly

Titel/Untertitel:

Lebensform und Lebensnorm im Antiken Judentum. Untersuchungen zur jüdischen Religionssoziologie und Theologie in hellenistisch-römischer Zeit. Hrsg. v. D. Schumann.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2015. X, 341 S. = Deuterocanonical and Cognate Literature Studies, 30. Geb. EUR 99,95. ISBN 978-3-11-041590-2.

Rezensent:

Stefan Beyerle

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Eshel, Hanan: Exploring the Dead Sea Scrolls. Archaeology and Literature of the Qumran Caves. Ed by Sh. Tzoref and B. L. Selavan. Göttingen u. a.: Vandenhoeck & Ruprecht 2015. 314 S. m. 9 Abb. = Journal of Ancient Judaism. Supplements, 18. Geb. EUR 130,00. ISBN 978-3-525-55096-0.


Die beiden Sammelbände stellen Beiträge zur Geschichte des antiken Judentums um die Zeitenwende – und darüber hinaus – zu­sam­men. Während Hanan Eshel (1958–2010) gleichermaßen lite-rarische und archäologische Evidenz, mit dem Schwerpunkt auf Qumran, berücksichtigt und in methodisch reflektierter Weise aufeinander bezieht, widmen sich Günter Mayer (1936–2004) und Michael Tilly ausschließlich den literarischen Texten des antiken Ju­dentums.
Hanan Eshels Aufsätze sind nach den Fundhöhlen der Texte in der Umgebung von Chirbet Qumran angeordnet. Die ersten drei Beiträge nehmen zum »Kairo Damaskus«-Dokument (CD) Stellung, während weitere Neudrucke, neun davon ursprünglich in Ivrit und hier zum ersten Mal in englischer Sprache, Texte und Themen u. a. aus den Höhlen 1, 3, 4, 11 analysieren.
Der Eröffnungsbeitrag diskutiert das Bildwort von den »drei Netzen Belials« in CD 4,15–18, einem Auslegungstext (Pescher) zu Jes 24,17f., das mit der Triade von »Unzucht«, »Gier« und der »Verunreinigung des Heiligtums« erläutert wird. Ein Schüler des »Lehrers der Gerechtigkeit« habe an dieser Stelle des »Kairo Damaskus«-Dokuments auf eine ähnliche Dreiheit im aramäischen Levi-Dokument (6,1–3) Bezug genommen, die in 4QMMT als Grund für den Rückzug der (essenischen) Qumran-Gemeinschaft in die Wüste am Toten Meer gedient habe. Spuren der Triade sind auch im Neuen Testament (Eph 5,1–3.5) auszumachen. Mit der »490 Jahr-Prophezeiung« in CD 1,5–11 verbindet Eshel Rekonstruktionen zur Ge­meinschaft vom Toten Meer. Dann setzt Eshel chronologisch etwas früher, bei Jer 25,11f.; 29,10 und Dan 9,2.24–27, ein und diskutiert 4Q390 1 i 2–12; 2 i 1–10 und CD 1,5–11 als Interpretationen. Der Beitrag zu CD 12,15–17 greift ein dezidiert archäologisches Problem auf: die (vermeintliche) Reinheit von Steingefäßen: Nicht das Material der Steingefäße entscheidet über Reinheit und Unreinheit, sondern der Kontakt mit Öl (vgl. Josephus Bel 2,123).
Der Abschnitt zu Höhle 1 setzt mit kompositions- und redaktionsgeschichtlichen Studien zur Kriegsrolle ein. Aus Gründen des differierenden Inhalts, Kontexts und aus orthographischen Erwägungen liegt in 1QM 19 und 4Q492 eine gegenüber 1QM 12,12–15 ältere Textrezension vor. Ein ähnlicher Befund ergibt sich aus dem Vergleich von 1QM 2,1–10 und 4Q471 1 1–9. Insgesamt stellt also 1QM eine späte Rezension der Kriegsrolle dar. Im Anschluss an Fragen zu Priesterordnung und Kalender (1QM 2) diskutiert Eshel 1QpHab: Es handelt sich dabei um die Kopie einer älteren Handschrift, die aus zwei Abschnitten zusammengestellt wurde: Eine »Grundschicht« stammt aus den Lebzeiten des »Lehrers der Gerechtigkeit« (150–110 v. Chr.) und wurde in der Mitte des 1. Jh.s v. Chr., unter dem Eindruck der erstarkenden Römer (»Kittim«), überarbeitet.
Der Abschnitt über Höhle 3 bietet zwei Untersuchungen zur Kupferrolle. Die Tatsache, dass die Quelle »Schätze« und ihre Orte listet, spricht gegen einen realen Hintergrund, und das Material für einen eher rituellen Kontext (Beständigkeit des Kupfers im Gebrauch). Da zeitgenössische Notizen belegen, dass die Ausstattung des Ersten Tempels nicht mehr in Gebrauch war, reflektiert die Kupferrolle zur Zeit des Zweiten Tempels die Erinnerung daran. Die Kupferrolle bezeugt also legendarisch das Schicksal der Tempelgeräte der »biblischen Zeit«.
Der Abschnitt zu Höhle 4 startet mit einer Analyse des »Gebets Josephs« (4Q371, 4Q372), einem Text, der sich offensichtlich gegen den Tempel auf dem Garizim wendet. Eshel akzeptiert jene Lesart, die im Gebet eine anti-samaritanische Polemik erkennt. Archäologisch geht Eshel davon aus, dass in der Mitte des 4. Jh.s v. Chr. ein Tempel in Sichem gebaut wurde. Die Tempel in Samaria und auf dem Garizim seien dagegen erst kurz vor den Eroberungen Alexanders bzw. im 2. Jh. v. Chr. gegründet worden. Letzteres Heiligtum habe erst zum Schisma zwischen »Juden« und »Samaritanern« geführt. Da das »Gebet Josephs« sich gegen den Tempel auf dem Garizim wendet, datiert die nicht gruppenspezifische Komposition in das 2. oder 1. Jh. v. Chr. Eine Bestätigung dieser Polemik biete ein Masada-Papyrus aus dem 1. Jh. n. Chr. Liturgisch geprägte Quellen diskutiert der Beitrag zu den 13 Sabbatopfer-Liedern. Entgegen der Mehrheitsmeinung sei die Komposition auf das ganze Sonnenjahr verteilt viermal rezitiert worden.
Der Abschnitt zu Höhle 11 wird mit einem Beitrag zur Tempelrolle eröffnet. In einem Überblick über die Forschung verdeutlicht Eshel, dass die übliche, aber zu grobe Unterscheidung von gruppenspezifischen und nicht gruppenspezifischen Texten zugunsten einer Triade von Handschriften der Anhänger des »Lehrers der Gerechtigkeit«, gruppenspezifischen Texten, die nicht aus der en­geren Qumrangemeinschaft kamen, und nicht gruppenspezi-fischen Texten aufgegeben werden muss. Die Tempelrolle gehört dann in die zweite Kategorie. Nach Beiträgen zu den Psalmen (etwa Ps 155) folgen Aufsätze aus dem historischen Umfeld der Qumrantexte. Mit Esther Eshel zusammen abgefasst, diskutiert ein Aufsatz Entstehung und Datierung des Samaritanischen Pentateuch aus der Sicht der »biblischen« Schriftrollen vom Toten Meer und zahlreicher Inschriften. Den Eshels gelingt hier eine plausible Rekonstruktion der Entstehungsbedingungen des Samaritanischen Pentateuch.
Der abschließende Aufsatz befasst sich mit dem Hohepriester im ersten Jahrhundert. Er geht von den unbefriedigenden Angaben bei Flavius Josephus aus und vergleicht eine Ossuar-Inschrift aus dem Grab des »Kaiaphas«, die Finanzdokumente der »Seiyal-Sammlung« aus dem Umfeld der Handschriften vom Toten Meer, eine Krug-Inschrift aus Masada und eine Bulle.
Die Herausgeberin und der Herausgeber haben, in Zusammenarbeit mit Esther Eshel, die hier versammelten Beiträge, die Hanan Eshel selbst noch kurz vor seinem Tod auswählen konnte, höchst sorgfältig ediert und vorsichtig mit aktuellen Literaturhinweisen versehen. Es liegt ein wichtiger Beitrag zur Qumran-Forschung vor, der die textliche, archäologische und methodische Kompetenz des viel zu früh verstorbenen Hanan Eshel dokumentiert.
Der zweite Sammelband vereint Aufsätze des ehemals Mainzer Judaisten Günter Mayer und seines Schülers Michael Tilly.
Günter Mayers Beiträge bieten Studien zum jüdischen Kanon, zur »Tora« in den rabbinischen Überlieferungen, zur Abraham-Interpretation in der Zeit des Zweiten Tempels (in Artapanos, Pseudo-Eupolemos, dem Epiker Philo, Kleodemos, dem Jubiläenbuch, Philo Alexandrinus und Josephus), der Funktion von Gebeten in ZusEst, Jdt, Tobit sowie in 1/2Makk, dem Midrasch zu Thr 1,1 (Ekha Rabbati), dem Kind und Jugendlichen in jüdischer Sozialisation und Pädagogik, zu den Herrschaftsvorstellungen Gottes bei Philo von Alexandrien und zu »Lebensnorm und Lebensform« im griechisch überlieferten jüdischen Schrifttum aus hellenistisch-römischer Zeit.
Die Beiträge Mayers stammen aus den 1970er bis 90er Jahren, bieten teilweise nicht mehr aktuelle Forschungspositionen, wie etwa zur antik-jüdischen Sozialgeschichte, und wurden nicht auf den Stand gebracht. Dezente Hinweise in den Fußnoten, ähnlich wie im Sammelband Eshels, wären hier hilfreich gewesen. Die Aufsätze von Michael Tilly datieren zwischen 1997 und 2011 und erschienen sämtlich in gut erreichbaren Zeitschriften und Sammelbänden.
Tilly behandelt die Kosmologie des Aristeasbriefes (Arist 83–120), widmet sich Tod und Trauer im Judentum der römischen Kaiserzeit und in der Tempelrolle, behandelt die midraschartige Interpretation der Kenas-Episode in Pseudo-Philo (LibAnt 25–28), Lesarten des Danielbuches im hellenistischen Judentum, bietet Septuaginta-Studien zu Mal 2,1–9.10–16 und Jes 66,14b–24, analysiert schließlich die Polemik und Anti-Polemik in der Josephus-Schrift Contra Apionem.
Der Sammelband lässt einen etwas ratlos zurück: Schon die Beiträge von Günter Mayer passen nur teilweise zu der im Titel ge­wählten Thematik. Auch die bisher gut zugänglichen Beiträge von Michael Tilly haben mit jenen seines Lehrers lediglich die Be­handlung literarischer Quellen des antiken und rabbinischen Ju­dentums gemeinsam. Mayers Beiträge, die sich durch exzellente Quellen- und philologische Kenntnis auszeichnen, sind mit den ge­nannten Einschränkungen immer noch lesenswert. Selbiges gilt, nunmehr ohne jede Einschränkung, für die Aufsätze zur Qumranforschung von Hanan Eshel.