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Ausgabe:

Juli/August/2018

Spalte:

733–736

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Boyarin, Daniel

Titel/Untertitel:

The Talmud – A Personal Take. Selected Essays­. Ed. by T. Hever-Chybowski.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2017. X, 499 S. = Texts and Studies in Ancient Judaism, 170. Lw. EUR 169,00. ISBN 978-3-16-152819-4.

Rezensent:

Matthias Morgenstern

Der Talmud wird in dieser Sammlung ausgewählter Aufsätze des bekannten kalifornischen Religionshistorikers (mit religionsphilosophischen Ambitionen) »persönlich genommen«: Der Herausgeber – Tal Hever-Chybowski ist u. a. Direktor der Pariser Medem-Bibliothek (Maison de la culture yiddisch) – hat 17 Texte Daniel Boyarins aus mehr als drei Jahrzehnten zusammengestellt, die zeigen, wie der Autor, ausgehend von seiner langjährigen akademischen Beschäftigung mit der rabbinischen Literatur als seinem »Standbein«, sein »Spielbein« in Bewegung bringt (so B. selbst in seiner Einführung, 1). Dabei rücken unterschiedliche Themenfelder ins Bild: die Linguistik, die Gendertheorie, aber auch der Vergleich von rabbinischer und patristischer Literatur (und davon ausgehend die historische Rekonstruktion der jüdisch-christlichen Beziehungen in der Spätantike) sowie andere Fragestellungen, die sich mit den Stichworten intercultural und postcolonial studies zusammenfassen lassen.
Der erste Hauptteil des Buches enthält zwei frühe Aufsätze B.s, die sich mit orthographischen Besonderheiten des Aramäischen der babylonisch-jüdischen Diaspora in der Spätantike beschäftigen. Die erstmals 1976 erschienene Studie The Loss of Final Consonants in Babylonian Jewish Aramaic (BJA) beschreibt das im Titel genannte Phänomen in morphologischer Hinsicht als Missverständnis der Sprecher, die bestimmte Verbformen nicht richtig einordnen konnten. Die 1978 erschienene Arbeit On the History of the Babylonian Jewish Aramaic Reading Traditions: The Reflexes of *a and *Á ordnet phonetische Variationen der Sprache der babylonischen Juden linguistisch ein.
Obwohl nur aus einem einzigen Beitrag bestehend (Pilpul: The Logic of Commentary – Erstveröffentlichung 1986), ist der zweite Hauptteil von besonderem Interesse, da es hier um ein Arbeitsgebiet geht, in dem B. ansonsten in hebräischer Sprache veröffentlicht hat, vor allem seine 1989 publizierte Studie Ha’iyyun Hasefaradi (The Sephardic Speculation).
Die Relevanz der Frage nach der Methode und pädagogischen Ausrichtung des Lehrhauses, der wichtigsten Institution, die das rabbinische Judentum nach der Zerstörung des Tempels begründete, ergibt sich für die Judaistik in doppelter Hinsicht: Zum einen ist hier mit dem Lernen zugleich der Lebensstil vieler Generationen von Talmudstudenten betroffen; zum andern war der in Osteuropa, vor allem in Litauen, betriebene Pilpul, das »gepfefferte Lernen« der dialektisch verstandenen Talmudstoffe im Sinne eines l’art pour l’art, in Westeuropa seit dem 19. Jh. in Verruf gekommen. Der Frankfurter Rabbiner Samson Raphael Hirsch lehnte den Pilpul bekanntlich ab, sprach etwas verächtlich von »Charifut-Turnieren« (etwa: sinnlosen Wettbewerben der Zurschaustellung von Scharfsinn) und forderte, der Toraunterricht habe vor allem praktischen Zwecken zu dienen und solle die jungen Juden unmittelbar auf das Leben in der modernen europäischen Gesellschaft vorbereiten. Vor dem Hintergrund dieser Auseinandersetzungen (der bei B. aber nicht eigens thematisiert, aber wohl doch vorausgesetzt wird) geht es in dieser Untersuchung um die historischen Wurzeln des Pilpul nicht im aschkenasischen Milieu der Frühen Neuzeit, sondern in sefardischen Texten des 14. und 15. Jh.s. Dabei möchte B. unter anderem zeigen, dass die Tendenz des Pilpul, in einem gegebenen Text jedes einzelne Wort zu interpretieren und dabei Redundanzen besondere Beachtung zu schenken, anders als Hirsch meinte, nicht als »an absurd extension of the principles with which Midrash approaches the Divine Language of the Torah« zu verstehen ist (49), sondern in einem rationalistischen Verständnis der Sprache als menschlichem Kommunikationsmittel wurzelt.
Die folgenden Arbeiten im dritten Hauptteil unter der Rubrik Gender and Sexuality widmen sich unterschiedlichen Aspekten der modernen Gendertheorie, die sich für die talmudischen Analysen B.s fruchtbar machen lässt. Gleich im ersten Aufsatz Literary fat Rabbis: On the Historical Origins of the Grotesque Body (Erstveröffentlichung 1991) geht es um einige der Thesen, die in späteren Texten B.s immer wiederkehren: Probleme von Fruchtbarkeit und Reproduktion, die als »feminisiert« zu verstehende Konstruktion des männlichen Körpers im rabbinischen Judentum und die Rolle des Grotesken im Talmud, die B. von Mikhail Bakhtins Rabelais-Analyse her interpretiert.
Ausgangspunkt dieser Studie ist die Beschreibung von männlicher Körperlichkeit im babylonischen Talmudtraktat Bava Mezia 83b–85a: Geschildert wird dort einerseits die außergewöhnliche »Schönheit« Rabbi Jochanans, die offenbar damit zusammenhängt, dass man ihm nachsagt, keinen Bart getragen zu haben. Eines Ta­ges, so wird berichtet, habe Rabbi Jochanan im Jordan gebadet. Resch Laqisch, zu diesem Zeitpunkt noch ein vagabundierender »Räuber« (zu dessen zügelloser Sexualität vielleicht auch eine ho­mosexuelle Neigung gehörte), sei ihm ins Wasser nachgesprungen – offenbar um ihn »zu besitzen«. Anschließend habe Resch Laqisch aber »Buße« getan, sei rabbinischer Schriftgelehrter geworden und habe als Belohnung die Schwester Rabbi Jochanans zur Frau erhalten. Rabbi Jochanan zur Seite tritt im Talmud die Figur des Rabbi Jischmael ben Jose. Von ihm heißt es, dass er so fettleibig war, dass sich eine römische Matrone über ihn lustig machte und (aus anatomischen Gründen) seine Fortpflanzungsfähigkeit in Frage stellte.
Die im Talmud kolportierten Antworten lauten zunächst, »seine Kraft« sei »die eines Mannes«; zugleich wird der ungeheure Umfang seines Penis beschrieben (Bava Mezia 84a). Die Tatsache, dass man unter seinem Nachtlager morgens jeweils sechzig Wannen von Blut hervorholte, interpretiert B. des Weiteren als eine Art Couvade, als ironisierte Darstellung der psychosomatischen Symptome einer »Menstruation« oder gar einer Schwangerschaft (78 f.). »In the classical world,« schreibt B., »fat men were considered effeminate«, und fügt hinzu, dass im Talmud auch berichtet wird, dass man dem korpulenten Gelehrten den Bauch aufschlitzte und »viele Körbe Fett« entnahm (»a kind of lunatic cesarean section«). Diese Körbe Fett – das gehört zu den Eigenschaften des Körpers dieses sonderbaren rabbinischen »Heiligen« – konnte man in den Sommermonaten in die Sonne stellen, ohne dass sie übelriechend wurden (77). »As Bakhtin has shown, the grotesque body is the uncontained body. The topoi of exaggerated size, detachable organs, the emphasis on the orifices, and stories of dismemberment are all representations of the body as interacting with the world, not self-enclosed as the classical body« (76). Zielpunkt der Analyse B.s ist der Vergleich mit Idealen von Körperlichkeit in der griechisch-römischen Welt. Zu den »body-signals« in frühchristlichen Heiligenlegenden gehört dabei die Vorstellung »that the body is an index of the state of the person, and that a beautiful body belongs with a beautiful spirit« (92).
Auf den ersten Blick mögen manche der Ausführungen B.s weit hergeholt erscheinen; abgesehen davon, dass der Text anregend und immer wieder amüsant zu lesen ist, ist aber auch zu sagen, dass B.s Ansatz immerhin eine Interpretation bieten kann; ohne den Bezug auf Rabelais und Bakhtin (»Pantagruel in Pumbedita«) müssten die meisten Facetten dieser gewiss enigmatischen Texte ungeklärt bleiben.
Das Beispiel des »schönen Rabbi Jochanan« taucht in diesem Sammelband an verschiedenen Stellen erneut auf. In dem Beitrag Why is Rabbi Yohanan a Woman? Or, A Queer Marriage Gone Bad (Erstveröffentlichung 2006) im letzten Teil des Buches dient es als Anschauungsmaterial dafür, dass den Rabbinen das Thema homoerotischer Anziehungskraft nicht fremd war. Das ist vor allem daran abzulesen, wie ungezwungen und fern von jedem Tadel die Erzählung von der Begegnung des im Jordan badenden »schönen« Rabbi mit Resch Laqisch ihre Andeutungen vornimmt – in seiner Studie Unheroic Conduct. The Rise of Heterosexuality and the Invention of the Jewish Man (1997) spricht B. von einer »absence of homosexuel panic«. In einem weiteren Text des Bandes (Homotopia: The Feminized Jewish Man and the Lives of Women in Late Antiquity, Erstveröffentlichung 1995) dient das Beispiel Rabbi Jochanans als Beleg für die rabbinische Konstruktion des männlichen Subjekts, wobei die rabbinische Vorstellung von männlicher Schönheit und das Ideal von Toragelehrsamkeit nahe beieinander liegen. Wer dem erstgenannten Ideal zu entsprechen scheint, ist augenscheinlich ein besonders guter Kandidat dafür, auch ein Champion in der Disziplin des Toralernens zu werden, jener Disziplin, die im traditionellen Judentum allerhöchste Wertschätzung genießt. Auffällig ist hier wie an anderer Stelle, dass die Anmerkungen in den Fußnoten auf andere (frühere oder spätere) Publikationen B.s verweisen, die Querverweise innerhalb des Bandes aber unvollständig sind – wo solche Verweise vorhanden sind, erleichtern sie aber die Orientierung und machen auch die gedanklichen Fortschritte (auch die Korrekturen oder Retraktationen) transparenter, die sich bei B. von den früheren zu den späteren Texten beobachten lassen.
Auf besonderes Interesse werden die Beiträge im vierten Teil des Bandes stoßen, die den jüdisch-christlichen Beziehungen in der Spätantike gewidmet sind. Der einleitende Text Martyrdom and the Making of Christianity and Judaism (1998) ist eine seinerzeit vorab veröffentlichte Version des ersten und vierten Kapitels von B.s ein Jahr später erschienener vielbeachteter Studie Dying for God: Martyrdom and the Making of Judaism and Christianity.
Der Beitrag Two Powers in Heaven; or, the Making of a Heresy (2004), eine kritische Anknüpfung an und Weiterführung von Alan F. Segals Studie Two Powers in Heaven (1977), ist eine historisch-kritische Darstellung der Auseinandersetzung mit der Logos-Theologie und den verschiedenen Varianten des »Binitarismus« im spätantiken Judentum. Neben dem Logos, der Weisheit oder Metatron wird auch eine Jakob-Figur (»the Father of Israel«) als »hypostasized virtual second God« genannt (319). Diese Thematik hat jüngst auch im deutschen Sprachraum, auf neuestem wissenschaftlichem Stand, durch Peter Schäfers Buch Zwei Götter im Himmel. Gottesvorstellungen in der jüdischen Antike (2017) Beachtung gefunden. Es ist lehrreich, in B.s Text den Vorstufen der aktuellen Diskussion zu begegnen.
Die beiden Beiträge A Tale of Two Synods: Nicaea, Yavneh, and Rabbinic Ecclesiology (Erstveröffentlichung 2000) und Archives in the Fiction: Rabbinic Historiography and Church History (2005) er­kunden aus unterschiedlichen Blickwinkeln die Verwertbarkeit von Texten der jüdischen (und im Vergleich auch der christlichen) Traditionsliteratur für die Rekonstruktion historischer Zusammen­hänge in der Spätantike.
Ausgehend von Untersuchungen bei Virginia Burrus nimmt B. an, dass das Konzil von Nicaea als Gründungsgeschehen für die altkirchliche Orthodoxie retrospektiv in den Schriften des Athanasius »erfunden« (»invented«) wurde (278). Durch die Analyse einiger klassischer Texte des Babylonischen Talmuds möchte er plausibel machen, dass die – wie neuere Arbeiten übereinstimmend zeigen – historisch nicht fassbare und daher gänzlich legendäre »Synode von Jamnia« (insofern unterscheidet sich »Jamnia« von »Nicaea«, wo sich natürlich ein historischer »Kern« konstatieren lässt) sich am besten als rabbinisch-jüdische Antwort auf dieses christliche Ereignis fassen lässt. Shaye Cohen hatte einst den Ausschluss der Arianer bei den Christen der rabbinischen Entscheidung gegenübergestellt, sowohl die Worte der Schule Schammais als auch die der Schule Hillels als »Worte des lebendigen Gottes« zu akzeptieren. Einer exklu-sivistischen christlichen Orthodoxie stand somit ein diskussionsfreudiger binnenjüdischer Inklusivismus gegenüber. Anhand der talmudischen Erzählungen von der Exkommunikation Rabbi Aqabyas und Rabbi Eliesers zeigt B. demgegenüber, dass es auch bei den Rabbinen letztlich nicht um »inclusiveness and tolerance« gegangen sei (296). Oberstes Ziel der Rabbinen sei es vielmehr gewesen, die Entscheidungsprozesse im Lehrhaus zu monopolisieren. Insofern gelte es, die »operative ideology within the House of Study« (284) von dem zu unterscheiden, was B. mit David Stern »editorial policy« und »exegetical ideology« des Talmuds nennt (285). »We find rather the production of an exclusivistic institution of orthodoxy not unlike, mutatis mutandis, the story of Nicaea« (296).
Der fünfte und abschließende Teil des Bandes steht unter der Überschrift The Bavli in its Hellenistic World. Genannt sei hier eigens der Beitrag Hellenism in Jewish Babylonia (2007), der anregende Ausführungen zur Datierung des Talmuds und zum Verhältnis zwischen dem Jerusalemer und dem Babylonischen Talmud enthält.
Am Ende des außerordentlich lesenswerten Bandes, der so reich an Informationen, Anregungen (und auch Provokationen) ist, dass das Genre einer Buchrezension ihm im Grunde nicht gerecht werden kann, stehen ein ausführliches Literaturverzeichnis und ein Stellen- und Namenregister.