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Ausgabe:

Januar/2000

Spalte:

46–48

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Voderholzer, Rudolf

Titel/Untertitel:

Die Einheit der Schrift und ihr geistiger Sinn. Der Beitrag Henri de Lubacs zur Erforschung von Geschichte und Systematik christlicher Bibelhermeneutik.

Verlag:

Freiburg: Johannes Verlag Einsiedeln 1998. 564 S. gr.8 = Sammlung Horizonte, NF 31. Lw. DM 65,-. ISBN 3-89411-344-8.

Rezensent:

Paul-Gerhard Klumbies

Das Ziel der Münchener katholischen Dissertation besteht darin, den "Beitrag Henri de Lubacs zur Geschichte und Systematik der christlichen Bibelhermeneutik ... darzustellen sowie ihn mit zeitgenössischen Entwürfen gesamtbiblischer Hermeneutik zu konfrontieren" (16). Teil eins der Arbeit stellt in Grundzügen die exegesegeschichtlichen Arbeiten de Lubacs vor und zeigt den theologiegeschichtlichen Kontext des Themas. Teil zwei widmet sich zentral dem christlichen Verständnis von Allegorie/Allegorese und entfaltet die Origenes-Deutung de Lubacs. Teil drei versteht sich als Ertragssicherung.

V. hält es in der gegenwärtigen kirchlichen Situation, in der das Alte Testament entweder als Dokument einer überwundenen Phase der Heilsgeschichte angesehen oder das Neue Testament ganz in den Rahmen alttestamentlicher Vorgaben eingezeichnet wurde, für geboten, das Bemühen H. de Lubacs um die "christologisch vermittelte Einheit von Altem und Neuem Testament" (15) neu zur Sprache zu bringen. Diese Einheit gründet nach de Lubac in der "Selbstmitteilung des einen und selben Gottes des Alten und des Neuen Bundes" (453). Sie beruht darauf, dass "die Christen das Alte Testament aus der Perspektive des Neuen lesen und auf Christus hin verstehen." (23) Die Einheit der Schrift ist ihr geistiger, d. h. christologischer Sinn.

Die Lehre vom vierfachen Schriftsinn lässt die alt- und neutestamentlichen Schriften "verstehen als das kirchliche Zeugnis der Offenbarung Gottes, der vorbereitend im Volk Israel und in der Fülle der Zeit definitiv ... sich selbst mitgeteilt hat in seinem Wort, das der Sohn ist" (488). Nach de Lubac wird sie vom Mittelalter aus der Vätertheologie übernommen. Origenes gilt ihm als der "Urheber der Lehre vom vierfachen Schriftsinn" (339). Er befindet sich in authentischer Nachfolge zum Neuen Testament, besonders zu Paulus, der die Allegorese "in die christliche Terminologie eingeführt" (225) und theologisch-heilsgeschichtlich begründet habe. Eine Abhängigkeit des Origenes vom alexandrinisch-hellenistischen Milieu und Philo weist de Lubac zurück. Stattdessen betont er "den fundamentalen Unterschied zwischen christlicher und hellenistischer Schriftauslegung" (33).

Luther bricht wegen des im Mittelalter verbreiteten "Mißbrauchs der Allegorese" (80) mit der auf Origenes zurückgeführten Schriftauslegung, ohne "in der Sache wesentlich davon abzuweichen". Verständlich werde seine Kritik allerdings, wenn man berücksichtigt, dass er Origenes "wohl kaum gekannt" und außerdem die Allegorese mit dem Verfall scholastischer Theologie im Mittelalter verbunden habe, in dessen Gefolge mit "Hilfe willkürlicher allegorischer Auslegung alttestamentlicher Texte ... der politisch-weltliche Machtanspruch der römischen Kirche zu begründen versucht worden" (81) war. Luther setzt allein auf den Literalsinn und verbindet den christologischen Sinn des Alten Testaments mit ihm. Letzeres musste nach V. de Lubac in der historisch-kritischen Exegese scheitern und führte im Protestantismus zu einer Tendenz, das Alte Testament abzuschütteln.

Den lutherischen Neuansatz auf Willkür und Abusus der mittelalterlichen Praxis zurückzuführen, greift freilich zu kurz. De Lubac und mit ihm V. gehen davon aus, dass "die Schrift aus dem Schoß der Kirche hervorgegangen" (22) und demzufolge Teil der kirchlichen Tradition ist. Diese theologische Bewertung des historischen Tatbestands blendet Luthers Kritik am katholischen Traditionsprinzip aus. Das lutherische "sola scriptura" entnimmt die Schrift gerade der kirchlichen Auslegungsautorität und erhebt sie zur normativen Instanz Kirche und Amt gegenüber. Parallel dazu impliziert das "solus Christus" die Kritik der Grundlagen des katholischen Kirchenverständnisses. Die Bindung der christologischen Auslegung an den Literalsinn bündelt eine Doppelkritik: Das Kirchenverständnis wird neu definiert und die Auslegungsautorität vom kirchlichen Amt auf eine breite Öffentlichkeit verlagert, die via Literalsinn Zugang zur Grundlage des Glaubens erhält. Dass dies nicht auf der Linie der altkirchlichen und mittelalterlichen Hermeneutik liegt, ist evident.

Zu Beginn von Teil zwei definiert V. "Allegorie" als sprachliche Form im Sinne eines Objekts. Die "Allegorese" zielt dagegen auf den Auslegungsvorgang ab. Die christologische Auslegung ergibt sich laut de Lubac aus dem Charakter der Christusoffenbarung selbst. Das einmalige geschichtliche Ereignis führt auch zu analogielosen Methoden und Ausdrucksformen seiner Bezeugung. Die neutestamentliche Theologie ist nach V./de Lubac in hohem Maße Deutung des Alten Testaments. Der alttestamentliche Hintergrund gibt die Bezugsgröße für das Denken der neutestamentlichen Schriftsteller ab, deren Gemeinsamkeit in ihrer "exklusive(n) Christozentrik" (269) liegt. Das griechisch-hellenistische Erbe im Neuen Testament bleibt der heilsgeschichtlichen Programmatik entsprechend unberücksichtigt.

Das besondere Interesse von Vs. Darstellung der Origenes-Deutung de Lubacs (271-339) gilt dem Erweis der Kirchlichkeit und der mit Einschränkungen zugesprochenen Rechtgläubikeit des Origenes. Dies entspricht der Origenes-Apologie de Lubacs, auf die V. durchgängig verweist.

In Aufnahme eines zentralen Anliegen de Lubacs, des Nachweises der Kontinuität der Lehre vom geistigen Schriftsinn zwischen Väterexegese und Mittelalter, fügt V. dem Origenes-Abschnitt aus dem Werk de Lubacs zusammengestellte Einzelcharakterisierungen von Theologen beider Epochen hinzu, ergänzt um Positionen aus der jüngeren Vergangenheit (340-444).

Der Schlussteil bündelt die theologischen Prinzipien, die die Gesamtdarstellung des Vf.s leiten. An ihnen werden auch die gesamtbiblischen Entwürfe gemessen, auf die V. Bezug nimmt. Die Apostel geben die "kirchenstiftende Initiative" Gottes im Christusgeschehen durch ihren Dienst am Wort weiter. Sie "bauen ... in der Kraft des Geistes die ecclesia" (450). V. verwahrt sich dagegen, eine Worttheologie gegen eine Ereignistheologie auszuspielen. "Der Primat des Wortes und des Kerygmas, der ... das Ereignishafte als das Sekundäre, Unwichtige ... betrachtete, muß ... als sachfremde Vorgabe innerhalb der exegetischen Arbeit ... überwunden werden." (452) Hinsichtlich des Verhältnisses von Schrift und Tradition als den zwei Quellen der Offenbarung hebt V. die Auffassung de Lubacs hervor, dem Christus als die eine Quelle gilt, aus der "als Vermittlungswege die beiden ,Quellen’ Schrift und Tradition" folgen (452).

Die Feststellung der "Relativierung" (460) des Alten Testaments durch das Christusereignis versucht V. durch den Zusatz auszubalancieren, dass das in Christus endgültig gewordene Wort Gottes "das AT eben gerade nicht zu einer vorläufigen Urkunde degradiert, sondern in das Evangelium des dreifaltigen Gottes und damit in sein wahres Sein verwandelt und dem NT gleichstellt." (461) Zu fragen bleibt, ob diese Aufwertung aus christlicher Perspektive die Suffizienz der heiligen Schriften Israels für das jüdische Selbstverständnis angemessen würdigt.

Die theologische Relevanz historischer Kritik bemisst sich für V. daran, inwieweit sie den historischen Charakter der Offenbarung voraussetzt, da die Geschichte dem Glauben vorgegeben ist und ihn begründend sichert. Mit seiner Prärogative für die Historia eignet dem vierfachen Schriftsinn "eine bleibende kritische Funktion der modernen historisch-kritischen Exegese gegenüber, die sich zur Selbstkritik ihrer hermeneutischen Grundlagen herausgefordert sehen darf" (476).

V. dringt mit Recht darauf, historische Exegese als theologische Aufgabe zu betreiben. Problematisch ist allerdings die Vermischung von Historie und Glaube, die sich in Vs. theologischer Bewertung der Geschichte niederschlägt. Im Grundsatz zuzustimmen ist zwar dem christologischen Ansatz, der die eigene Herkunft bejaht. Die Grenze liegt jedoch da, wo die Hermeneutik von den Interessen der Traditions- und Kontinuitätssicherung gesteuert wird. Der christologische Ansatz des Paulus, laut V. das tragende Fundament der Konzeption de Lubacs, steht gerade nicht im Dienst der Wahrung von Tradition und Kontinuität. Er entfaltet vielmehr die durch die Christusoffenbarung initiierte Frage nach der Situation des Menschen vor Gott. Im Rahmen dieser Aufgabe bezieht sich Paulus je und je in Anknüpfung wie Abgrenzung auf alttestamentliche wie frühchristliche Traditionen, wobei eine Reihe für heilsgeschichtliche Konzeptionen zentraler Elemente gerade fehlt.