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Ausgabe:

Juni/2018

Spalte:

694–696

Kategorie:

Interkulturelle Theologie, Missionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Rettig, Hanna

Titel/Untertitel:

Making Missionaries – Junge Evangelikale und ihre Mission. Ethnografie einer Jugendorganisation auf Reisen.

Verlag:

Bielefeld: Transcript Verlag 2017. 266 S. = [transcript] Religionswissenschaft. Kart. EUR 32,99. ISBN 978-3-8376-3760-1.

Rezensent:

Tobias Schuckert

Jüngerschaftsschulen und Kurzzeitmissionseinsätze haben Hochkonjunktur. Die Sozial- und Organisationspädagogin Hanna Rettig hat eine solche Jüngerschaftsschule, das »College«, für den ge­samten Verlauf dieser nichtakademischen Ausbildung für sechs Monate ethnographisch begleitet. Sie hat mit den Teilnehmern und Teilnehmerinnen des Colleges zusammengelebt und ging sozusagen »native«. Dadurch eröffneten sich ihr unzählige Möglichkeiten, Daten durch teilnehmende Beobachtung, Interviews und Dokumentenanalyse zu sammeln. Das Ergebnis ist ihre Dissertationsschrift an der Universität Hildesheim, die nun als Monographie vorliegt.
Ethnographisch bewegt sich die Studie ganz in der Linie von Clifford Geertz’ »thick description«. So analysiert und interpretiert R. das Verhalten der Teilnehmer des Colleges und gibt dadurch Einblicke in die ganz eigene Kultur dieser Gruppe. Die Stärke des Buches liegt in der Fülle der Methoden, mit der R. ihre Daten erhoben hat. Das Ergebnis kann sich sehen und auch, dank ihres guten Schreibstils, lesen lassen.
In fünf Kapiteln beschreibt und analysiert R., wie junge evangelikale Christen im Laufe »ihres Colleges« miteinander leben und sich auf missionarischen »Herausreichen« (vom englischen Out-reach, 175) verhalten. R. gelingt es, während des ganzen Buches sich nicht zu positionieren, sondern, wie sie schreibt: »Zeugin zu sein« (30). Eine gute Beschreibung an sich wird ja schon zur Kritik. Leider erfährt der Leser eben nur selektiv, was R. in den sechs Monaten mit dem College erlebt hat. R. baut ihre Interpretation stets auf ein oder zwei Zitate beziehungsweise Erzählungen auf. Ob es noch andere Ereignisse gab, die ihrer Analyse widersprechen, bleibt unklar. Bei der Vielfalt der Datenerhebungsmethoden wäre deshalb neben der »grounded theory« noch ein weiteres analytisches Verfahren hilfreich. R. ist aber zugute zu halten, dass sie sich bewusst ist, dass deshalb Ergebnisse nicht »objektiv« sein können (35).
Als Zeugin hat sich R. als Fremdkörper in dem System »College« erlebt. Das zweite Kapitel beschreibt, wie die Leiter, Mitarbeiter und Teilnehmer sie im Laufe der sechs Monate weder als volles Mitglied, das alles »mitmacht«, noch als totales »Außen« wahrnehmen. Dadurch schafft sie es, ihre These »Grenzen, die das College herstellt und als relevant setzt, verlaufen nicht, oder nicht primär, entlang nationalstaatlicher Grenzziehungen« (19), durch persönliches Erleben zu bestätigen. Durch ihre ständige Präsenz als Forscherin, an die man sich eben auch gewöhnt, erlebt das College eine Irritation innerhalb der eigenen gesetzten Grenzen.
Die Grenzen, die sich das College, die Gruppe junger Leute während dieser nicht-akademischen Ausbildung selbst setzt, werden im dritten Kapitel des Buches artikuliert und interpretiert. R. beschreibt hervorragend das Basislager des Colleges, das »Herrenhaus«. Durch die Beschreibung der einzelnen Räume und ihrer Funktionen treten Werte und Überzeugungen der Missionsgemeinschaft zutage. R.s Vorgehensweise ist vergleichbar mit Vincent Crapanzanos, der schreibt: »I am interested in frontiers as horizons that extend from the insistent reality of the here and now into that optative space or time – the space-time – of the imaginary.« (Imaginative Horizons, Chicago 2004, 14) Die Räumlichkeiten im Herrenhaus machen deutlich, dass die erste Priorität des Colleges das »Transzendieren« ist. R. führt diesen Begriff »Transzendieren« ein, anstatt Begriffe wie Spiritualität, geistliches Leben oder, wie von den Teilnehmern und Teilnehmerinnen gerne verwendet, »re-lationship with god«. Sie tut dies, weil »Transzendieren hier als allgemeine Form gefasst [wird], die dem Religiösen zugrunde liegt und eben nicht umgekehrt« (62). Ob sie damit dem Selbstverständnis der Teilnehmer des Colleges gerecht wird, darüber lässt sich streiten. Ihre Beschreibung gibt einen aufschlussreichen Blick in das Leben im Herrenhaus, dessen höchstes Ziel des gemeinsamen Transzendierens die Veränderung des Einzelnen ist (122). Als Leser fragt man sich bei R.s Beschreibung, welcher junge Mensch sich freiwillig einem solchen strengen Leben einfügen will. R. lässt daraufhin Teilnehmer zu Wort kommen, die in ihren Narrativen eine große Sinnsuche erkennen lassen. An dieser Stelle lässt sie aber eine tiefere Auseinandersetzung mit den Lehren des Colleges, die offensichtlich sinnstiftend für die Teilnehmer sind, vermissen.
Im vierten Kapitel beschreibt R. das Verhalten der Teilnehmer und Teilnehmerinnen auf verschiedenen missionarischen Reisen. Faszinierend ist dabei die Beobachtung R.s, wie es den Teilnehmern des Colleges durch verschiedene Formen von Gebeten gelingt,
in­nerhalb ihres vom College vorgegebenen Interpretationsspielraumes zu bleiben, und gleichzeitig können sie mit »awkward situa-tions« in der Begegnung mit dem Außen umgehen. Das Buch be­stätigt Brian Howell (Short-term mission: an ethnography of Christian travel narrative and experience, Downers Grove, IL 2012), der aufzeigt, wie ein anthropologisches Verständnis von Tourismus und Pilgerfahrten helfen kann, missionarische Kurzzeiteinsätze zu verstehen, und zeigt, wie vorherrschende Narrative das Erleben solcher Fahrten beim Einzelnen prägen. R. gewährt dem Leser dabei Einblicke, mit welchen unterschiedlichen Haltungen die jungen Missionare und Missionarinnen zu ihren verschiedenen Einsatzorten (Düsseldorf, Amsterdam und Thailand) fahren.
Sie beschreibt dabei, wie die jungen Christen das Umfeld, das »grenzlose Außen« (174), als bedürftig erleben und sie diesem Um­feld mit ihrer Botschaft, die in kleinen Theaterstücken und Liedern den Menschen verkündigt werden, helfen wollen. Andererseits gibt es Situationen, in denen das Umfeld, in diesem Fall Thailand, nicht als bedürftig erscheint, sondern sogar als überlegen auftritt und das Programm thailändischer Kinder das des Colleges übertrifft (197).
Das Kapitel diskutiert weiterhin die Möglichkeit der Teilnehmer, die Grenzen zwischen dem Innen des Colleges und dem »bedrohlich-bedürftigen« Außen durch Transzendieren, genauer gesagt, durch Gebet, zu durchbrechen. Leider zeigt R. hier durch die Art der Beschreibung eine materialistische Haltung. Eine gute Ethnographie nimmt Spiritualität und die damit einhergehenden Erfahrungen ernst. So interpretiert R. das Gebet einer Teilnehmerin um Bewahrung und behauptet, das »negativ, bedrohliche Konstruierte, das nicht geschieht, wird gleichsam transzendent verortet« (204). Dabei stellt sich die Frage, ob die Erfahrung von göttlichem Schutz für die thailändische Frau und die Teilnehmerin des Colleges etwas »Transzendentes« ist oder eine gegenwärtige immanente Wirklichkeit.
In einem zusammenfassenden Kapitel, dem 5., zeigt R. den Zu­sammenhang auf von Transzendieren, im College »Drinbleiben« und gleichzeitig durch Reisen und missionarische Einsätze »Rausgehen«.
Trotz aller Kritik ist R. ein lesenswertes Buch gelungen, das Einsichten in eine wachsende christliche Jugendkultur gibt.