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Ausgabe:

Juni/2018

Spalte:

687–689

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Stockhoff, Nicole

Titel/Untertitel:

Wenn liturgisches Denken Wirklichkeit trifft. Das liturgietheologische Werk von Angelus A. Häußling (OSB) und dessen Transformationen auf die Empirie der Zweiten Schweizer Sonderfallstudie.

Verlag:

Münster: Aschendorff Verlag 2014. 370 S. Geb. EUR 49,00. ISBN 978-3-402-11265-6.

Rezensent:

Alexander Deeg

Empirie und Liturgietheologie – beides verbindet Nicole Stockhoff in ihrer Arbeit, die bereits 2011 in Luzern (Birgit Jeggle-Merz) als Dissertation angenommen wurde. Zweifellos bearbeitet S. damit ein dringendes Desiderat liturgiewissenschaftlicher Forschung. S. nennt ihren Ansatz transdisziplinär, konkret »liturgiesozialwissenschaftlich« (22), wobei sie nicht selbst im Wechselspiel von Liturgiewissenschaft und (Religions-)Soziologie eine empirische Studie in theologischer Perspektive methodisch eigenständig konzipiert, durchführt und auswertet, sondern die liturgietheologische Position des Benediktiners Angelus A. Häußling (1932–2017) mit der 2005 veröffentlichten »Zweiten Schweizer Sonderfallstudie« verbindet, die ein zunehmendes Unverständnis vieler Befragter im Blick auf die Liturgie zeige. S. schreibt: »Transdisziplinäre Kooperation beruht darauf, verlässliches Wissen der Disziplinen in fallspezifische Modellierungen zusammenzuführen und exemplarisch für eine weitere organische Bearbeitung zu nutzen.« (27)
Die vorliegende Arbeit ist in sechs Teile gegliedert. Der erste Teil trägt den etwas schwammigen Titel »Methodische und inhaltliche Vorbemerkungen« (13–39). S. bestimmt darin den gesellschaftlichen Kontext der Gegenwart mit einem umstrittenen Begriff als »postsäkular« (vgl. 14 und 14, Anm. 3). In dieser »Wirklichkeit« gelte es, den Gottesdienst wahrzunehmen und zu fragen, »ob formulierte Konturen des Gottesdienstes und der liturgischen Gestaltung sich noch für diese gesellschaftliche (soziale) Wirklichkeit transformieren lassen« (17). Der zitierte Satz ist ein Beispiel für die leider nicht immer ganz präzise Ausdrucksweise in der Studie. Wer genau die Konturen des Gottesdienstes formuliert, was Transformation bedeutet, welche Bedeutung das »noch« hat und ob es wirklich eine gesellschaftliche Wirklichkeit gibt – mindestens diese Fragen wä­ren an den Satz zu stellen. Hinzu käme m. E. dann auch die Frage, ob nicht umgekehrt der Gottesdienst selbst als ein transformativer Ort für die Gesellschaft wahrgenommen werden könnte, so dass das In- und Miteinander von Gottesdienst und Gesellschaft, Gottesdienst und Kultur weit dynamischer gedacht werden müsste, als es sich in manchen Überlegungen der Studie ausdrückt (vgl. aber z. B. 28, wo S. erkennt, dass auch die Liturgiewissenschaft »Hilfestellungen […] zum Verstehen sozialer Wirklichkeit« geben kann). Generell könnte S. noch stringenter argumentieren, manche Wiederholung vermeiden und Begriffe klarer einführen. Mehrfach wird auch in immer neuen Anläufen die Forschungsfrage beschrieben – und dabei jeweils wieder leicht modifiziert. Diese Probleme erschweren die Lektüre der Arbeit, was angesichts der dargestellten, zweifellos gegebenen Relevanz des Themas und des innovativen Potentials der Methode bedauerlich ist.
Der zweite Teil (41–94) stellt die empirische Bezugsstudie auf dem Hintergrund bisheriger empirischer Kirchensoziologie in Deutschland und der Schweiz vor und versucht erste Einordnungen in die liturgiewissenschaftliche Diskussion. Dabei schließt sich S. den Theoretikern der Individualisierung und Pluralisierung des Religiösen an und erkennt, dass Religion in ihrer institutionell-kirchlichen Form an Bedeutung verliere, als »Ressource für gelingendes Leben« (68) aber nach wie vor gefragt sei. So ergebe sich, S. zufolge, die Notwendigkeit für Institutionen der Religion, den »Mehrwert eines Lebens aus dem Evangelium« auf der Ebene des Individuums aufzuzeigen (75), Theologie im Kontext von Biographie zu verstehen und zu vermitteln (vgl. 83 f.), bei der je subjektiven »Sinnstiftung und Sinnfindung« (80) zu helfen, Erfahrungen/Erlebnisse (die Begriffe werden hier nicht differenziert; vgl. aber 237) zu ermöglichen und gleichzeitig über das bloß Subjektive hinaus in die Weite »gesellschaftlicher Solidarität« (91) zu führen. Immer wieder erfolgen die Überschritte aus der deskriptiven Ebene der Empirie in die normative Ebene der liturgiewissenschaftlichen Grundaussagen sehr unmittelbar: »Eine große Herausforderung für die liturgischen Feiern besteht […] darin, sich durch erfahrungsorientierte und kommunikative Elemente eines gemeinsamen Glaubenslebens für Aufmerksame zu öffnen, ohne auf deren exklusiver Einbindung zu bestehen« (77). Freilich er­kennt S. bei dieser Orientierung am Lebensdienlichen des Religiösen die Gefahr, den »Transzendenzbezug« des Gottesdienstes zu verlieren (81). Besonders anregend und bedeutsam scheint mir die von S. gestellte Frage danach, wie es gelingen kann, dass Dis-tanzierte und engagierte Gemeindeglieder gemeinsam liturgische Kommunikationsräume entdecken.
Das ausführlichste dritte Kapitel (95–222) stellt die Liturgietheologie Angelus A. Häußlings auf der Grundlage von dessen Biographie und einer umfassenden Wahrnehmung seiner Werke vor. Dieses Kapitel bietet eine lesenswerte Einführung in und eine reflektierte Darstellung der Liturgietheologie des Maria Laacher Benediktiners. Es gelingt eine Einführung in wesentliche Grundgedanken Häußlings, indem zunächst das leitende Liturgieverständnis und im Anschluss daran dessen biblische Grundierung erarbeitet wird. Ein weiterer Abschnitt definiert die zentralen Begriffe »Tradition«, »Zeit«, »Sprache« und »Symbol« ausgehend von Häußling knapp, ein weiterer arbeitet drei Charakteristika der Liturgietheologie Häußlings heraus, die unter den Stichworten »Zeit«, »sobria ebrietas« (168) und »Gebet« ausgeführt werden. Ein letzter Abschnitt der Darstellung fragt – mit Häußling – nach einer wissenschaftlichen Hermeneutik liturgischer Texte. Im Anschluss ordnet S. die Überlegungen in den Kontext benediktinischer Frömmigkeit sowie des Denkens von Odo Casel, Karl Rahner, Romano Guardini, Otto Bollnow und Josef Pieper ein. Die beiden bei Häußling kaum behandelten Themenfelder Taufe und Diakonie werden schließlich angesprochen. S. kann insgesamt zeigen, wie Liturgie und Anthropologie bei Häußling immer zusammengedacht werden, wobei »im Mittelpunkt der liturgischen Feier […] nicht die menschliche Aktivität, sondern die Tat Gottes an der versammelten Gemeinschaft« stehe (112).
Im vierten Kapitel (223–290) führt S. methodisch und inhaltlich vor Augen, wie Transformationen in einem transdiziplinären Kontext gelingen können. Dazu erarbeitet sie mit dem Modell des konjunktiven Erfahrungsraums (Karl Mannheim) zunächst eine soziologische, anschließend mit dem Modell der Korrelation (Paul Tillich, Edward Schillebeeckx) eine theologische »Einbettung« (223), die es ermöglicht, die Liturgie im ermittelten soziologischen Denkrahmen wahrzunehmen. Dabei leitet S. die Überzeugung, dass Liturgie auf eine »ständige Selbst-Umwandlung ohne Energieverlust« (240) angewiesen sei. Die spannenden Fragen, was dies für die rituelle Struktur, für die normative Vorgegebenheit der Liturgie und für die liturgische Sprache bedeutet, nimmt S. in ihre Diskussionen auf – wie auch die bei Häußling eher marginalisierten Themen »Taufe« und »Diakonie«.
Das fünfte Kapitel (291–304) bietet Überlegungen für eine »wahr­nehmungsoffene Liturgiewissenschaft« (298) und eine »transdiziplinäre Liturgieforschung« (300), bevor ein kurzes Schlusskapitel (305–309) die Überlegungen bündelt und Perspektiven für künftige »liturgiesozialwissenschaftlich[e]« (306) Projekte andeutet. S. fordert liturgiepraktisch zur Entwicklung liturgischer Feiern auf, die »Gottes Dienst an den Menschen Raum und Zeit […] geben« und »Gottesbegegnung« ermöglichen (309).
Das vorliegende Buch bietet einen wichtigen Anstoß zu weiterer Forschung im Wechselspiel von Soziologie und Liturgiewissenschaft. Gleichzeitig macht es deutlich, wie sich das Werk eines jüngst verstorbenen und herausragenden katholischen Liturgiewissenschaftlers für einen solchen Dialog anbietet. Dafür freilich erschiene mir eine breitere Rezeption unterschiedlicher und gegenwärtig durchaus kontrovers diskutierter soziologischer Theorien ebenso wünschenswert wie eine klarere Methodik und Hermeneutik in liturgiewissenschaftlicher Perspektive.
Nicht immer gelingt es S. meiner Wahrnehmung nach, die Herausforderungen des soziologisch-liturgiewissenschaftlichen Dialogs – etwa im Blick auf Ritualität und Sozialität der Liturgie oder im Blick auf die formative Funktion einer als »fremd« gegenüberstehenden Liturgie – umfassend zu erfassen und mit klar abwägenden Argumenten zu diskutieren. Dass aber Liturgie, Theologie und Anthropologie, Kirche und Gesellschaft und daher Liturgiewissenschaft und Soziologie zusammengehören, kann S.s Dissertation auf anregende Weise vor Augen führen und zugleich zeigen, wie es möglich ist, die soziologisch ermittelten Transformationen des Religiösen in der Gegenwart nicht primär als Problem, sondern als Chance zu begreifen.