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Ausgabe:

Juni/2018

Spalte:

685–687

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Kremer, Raimar

Titel/Untertitel:

Seelsorge im Blaulichtgewitter. Eine pastoraltheologische Untersuchung zur Notfallseelsorge.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2016. 269 S. Kart. EUR 33,00. ISBN 978-3-17-031523-5.

Rezensent:

Michael Klessmann

Notfallseelsorge genießt ein hohes öffentliches Ansehen; für die Pfarrerinnen und Pfarrer, die diese Arbeit tun, stellt sie jedoch häufig eine zusätzliche Belastung dar, die leicht zur Überlastung werden kann. Raimar Kremer, der in der EKHN mit der Organisation und Durchführung der Notfallseelsorge (NFS) betraut ist, legt das Ergebnis einer empirischen Untersuchung vor, in der es darum geht, differenziert zu erheben, wie die NFS die sozialen Interaktionsmuster und die Prioritäten im Pfarramt verändert, warum Pfarrerinnen und Pfarrer diese Tätigkeit übernehmen und warum zunehmend viele dieses nicht tun oder aus der einmal eingegangenen Verpflichtung wieder aussteigen.
Präzise wird zunächst dargestellt, wie NFS arbeitet, wie unterschiedliche Notfall-Logiken (präklinisch, psychiatrisch, psychologisch, seelsorglich) operieren, wie sich NFS von Notfallpsychologie und psychosozialer Kriseninterventionslogik unterscheidet bzw. wo es Gemeinsamkeiten gibt; ein Blick in die Geschichte der NFS in der EKHN und der EKKW zeigt, wie NFS unterschiedlich entstanden ist und nach wie vor unterschiedlich strukturiert wird (in der EKKW gehört NFS zum verpflichtenden pfarramtlichen Aufgabenkanon, in der EKHN wird sie freiwillig und als zusätzliche Aufgabe ausgeübt).
Im Zentrum des Buches steht die Auswertung von im Jahr 2014 durchgeführten qualitativen Interviews (Kapitel 6–9) mit insgesamt 22 Personen, die als Pfarrerinnen und Pfarrer, Ehrenamtliche und als Einsatzkräfte tätig sind. Die meisten Interviews wurden mit Pfarrerinnen und Pfarrern geführt (von der Landeskirche bzw. einem Bistum Beauftragte, NFS-Koordinatoren und andere Pfarrerinnen und Pfarrer), von den ehrenamtlich Tätigen kommen nur zwei zu Wort, aus dem Bereich der Einsatzkräfte gab es vier Interviewpartner. Die Auswertung wird gegliedert in Themen mit großem, mit hohem und mit geringem Erkenntniszuwachs, Zitate aus den Interviews machen die verschiedenen Themen konkret und anschaulich.
Einige auffallende Ergebnisse sollen hier genannt werden: Notfallseelsorgende selbst neigen dazu, ihre Professionalität abzuwerten und zu marginalisieren, während Einsatzkräfte und Betroffene sie als wichtige und notwendige Ergänzung, an die sie sich vertrauensvoll wenden können, schätzen. Manche Pfarrerinnen und Pfarrer engagieren sich in der NFS aus Dankbarkeit und altruistischen Motiven, andere fühlen sich vom Stress, den Notfallsituationen auslösen, abgeschreckt. Vor allem die Rufbereitschaft, aber natürlich auch der Einsatz vor Ort können starke Belastungen auslösen, so dass anschließende Maßnahmen zur Psychohygiene umso wichtiger werden. In welchem Ausmaß der Dienst als Stress erlebt und wie er verarbeitet wird, ist natürlich auch persönlichkeitsabhängig; dieser Faktor ist aber nicht einfach naturgegeben, sondern kann durch entsprechende Weiterbildung, Supervision und Ent-lastungsmaßnahmen aufgefangen und bearbeitet werden. Die eigene Rolle bei einem Notfalleinsatz als von außen Kommende in der Zusammenarbeit mit anderen Diensten zu finden (angesichts einer Fülle von Möglichkeiten wie Seelsorgerin, Vermittlerin, Helferin, Lotsin etc.), ist oft nicht leicht. In den Kirchen wird NFS einerseits geschätzt (»der Kirche ein Gesicht geben«), andererseits gibt es zu wenig Gratifikation und Entlastung für diejenigen, die diesen Dienst tun. Immerhin zollt die Kirche den Rettungsdiensten Anerkennung und Dank, wenn sie einen jährlich stattfindenden »Blaulichtgottesdienst« veranstaltet. Schwierig bleibt das Verhältnis von Ordinierten und Nichtordinierten in der NFS; Rettungskräfte und Ordinierte neigen dazu, die Tätigkeit Nichtordinierter abzuwerten, obwohl deren Zahl steigt und immer notwendiger wird, um das System NFS aufrechtzuerhalten. Es gibt einen alarmierenden Befund: Eine solidarische Beteiligung möglichst vieler Pfarrerinnen und Pfarrer und Ehrenamtlicher in der EKHN muss als ge­scheitert angesehen werden; und auch in der EKKW lassen sich zunehmend mehr Pfarrerinnen und Pfarrer von dieser Pflicht befreien (178). Konsequenzen aus diesem beunruhigenden Befund müssten sein, dass die Kirchen mehr Finanzmittel bereitstellen, damit Notfallseelsorgende genügend Aus- und Weiter-
bildung, Supervision und Seelsorge bekommen können, damit großzügige Vertretungsregelungen und Gratifikationen installiert werden können (245 f.). Es schließt sich die Diskussion einiger innerkirchlicher Fragen an: Ist NFS Pflicht (wie in der EKKW) oder Kür im Pfarramt? Handelt es sich um eine Form von Gemeindeseelsorge oder Spezialseelsorge, um seelsorgliches oder diakonisches Handeln? Braucht man Spezialisten oder können das die Generalisten nicht auch?
Der dritte Teil des Buches widmet sich einer theologischen Begründung der NFS, in der Ergebnisse der Interviews immer wieder aufgenommen werden: Kirche betreibt NFS aus einer Haltung, die auf dem Prinzip der Solidarität gründet. Diese Solidarität sollte sich auf verschiedenen Ebenen zeigen: als gesamtgesellschaftliche Aufgabe, als Solidarität mit denen, die in Not geraten sind, als Solidarität mit den Einsatzkräften, als Solidarität zwischen den Notfallseelsorgenden und als ökumenische Solidarität. Angesichts dieser hohen Erwartung zeigt sich umso deutlicher, dass die Solidarität unter den Notfallseelsorgenden selbst, vor allem unter den Pfarrerinnen und Pfarrern, die den Dienst übernehmen, zunehmend ausgehöhlt wird. Mit dem Grundgedanken der Solidarität wird die alte Trennung zwischen Seelsorge und Diakonie überwunden und der politische, öffentliche Auftrag der Kirche umgesetzt. In einer Haltung der Solidarität gewinnen die Notfallseelsorgenden in Gesprächen und Ritualen eine Haltung des Respekts gegenüber denen, die sie begleiten; die Lebensdeutungen, die sie in den überwiegend säkularen Kontexten anbieten, beziehen die transzendente Dimension ein, thematisieren die Fragmenthaftigkeit menschlichen Lebens, aber auch Hoffnung auf die Fülle des Lebens. Sie tragen sehr konkret zu einem Dialog zwischen religiösen und säkularen Perspektiven bei.
Abschließend macht sich der Vf. für eine Aufwertung ehrenamtlicher, semi-professioneller NFS stark und fordert insgesamt, dass sich die Kirchen stärker als bisher für die Professionalität der Notfallseelsorger einsetzen, für Fort- und Weiterbildung und verschiedene Maßnahmen einer wirkungsvollen Psychohygiene. Die Eckpunkte eines Notfallseelsorge-Konzepts (251 ff.) runden den Band ab.
Als Rezensent fand ich den Ansatz des Buches überzeugend: Es entsteht ein realistisches und differenziertes Bild der Stärken und Schwächen der NFS bzw. derer, die sie ausüben; das Buch bildet eine gute und differenzierte Basisinformation über das wichtige Arbeitsfeld der NFS. Zugleich verbindet der Vf. seine Darstellung mit klaren Forderungen an die Kirchen: Wenn es weiterhin kirchlich verantwortete NFS geben soll, müssen sich die Kirchen neu und vertieft in diesem Feld engagieren.