Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/2018

Spalte:

682–685

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Kläden, Tobias, u. Michael Schüßler [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Zu schnell für Gott?Theologische Kontroversen zu Beschleunigung und Resonanz.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2017. 336 S. = Quaestiones disputatae, 286. Kart. EUR 35,00. ISBN 978-3-451-02286-9.

Rezensent:

Alexander Deeg

Beschleunigung und Resonanz – mit diesen beiden Begriffen, hinter denen jeweils umfangreiche Theorien der Moderne stehen, verbindet sich das Werk des in Jena lehrenden Soziologen Hartmut Rosa. Ihr Verhältnis bestimmt Rosa in dem Satz: »Wenn Beschleunigung das Problem ist, dann ist Resonanz vielleicht die Lösung«, mit dem sein 2016 in erster Auflage erschienenes Buch »Resonanz. Eine So­ziologie der Weltbeziehung« (Berlin 2016, 13) beginnt und das auf das 2005 erschienene Werk »Beschleunigung. Die Veränderung
der Zeitstrukturen in der Moderne« verweist. Mit diesen soziolo-gischen Großtheorien hat sich Rosa auch in kirchlichen Kreisen einen Namen gemacht und wird in zahlreichen theologischen Beiträgen zitiert. Das 2017 erschienene Sammelwerk »Zu schnell für Gott?« bietet eine erste umfangreiche theologische Auseinandersetzung mit Hartmut Rosa. Die Herausgeber haben ein klug informierendes, vor allem aber anregend positionelles Buch vorgelegt, dessen Autorinnen und Autoren Rosas Theorien meist zustimmend, teilweise aber auch deutlich kritisch aufnehmen und mit systematisch-theologischen, sozialethischen und kirchlich-pastoralen Fragen verbinden.
Hartmut Rosa selbst eröffnet den Reigen der Beiträge und fragt nach »gelingende[m] Leben in der Beschleunigungsgesellschaft« (18–51). Der Beitrag Rosas bietet eine hervorragende Einführung in die wesentlichen Grundgedanken seiner Beschleunigungsthese, in der er dynamische Stabilisierung als Kennzeichen moderner Gesellschaften bestimmt, und seiner Überlegungen zur Resonanz. Darunter versteht er »einen Modus der Weltbeziehung, in dem sich Subjekt und Welt gegenseitig ›erreichen‹, so dass eine Antwortbeziehung entsteht, die transformative Effekte zeitigt, weil sie das Weltverhältnis gleichsam verflüssigt« (41). Im Unterschied zur »An­erkennung« (vgl. Honneth) sei Resonanz immer dynamisch und prozesshaft und entzieht sich den Steigerungsdynamiken der Moderne, weil ihr ein »Moment des Unverfügbaren« (38; Hervorhebung im Original) eignet. Rosa gelingt es zweifellos, zahlreiche Phänomene, die gegenwärtig zu beobachten sind (Erfahrung der Akzeleration; Burnout als Folge der fehlenden bzw. verweigerten Resonanz; Entwicklung von Resonanzsimulationen anstelle von gelingenden horizontalen [= zwischenmenschlichen], diagonalen [= zu Objekten aufgebauten] bzw. vertikalen [= Religion, Kunst, Natur, Geschichte etc.] Resonanzen), zu erklären, was die hohe Suggestivkraft seiner Theorie ausmacht. Die Brücke zur Theologie schlägt Rosa selbst und bestimmt in einem knappen Schlusskapitel »die religiöse Erfahrung als Resonanzerfahrung« (46–51). Dabei greift er selektiv u. a. auf Augustin, Martin Buber, Peter Sloterdijk und Bruno Latour zurück und versteht das Gebet als Hören und Antworten als grundlegenden resonanten religiösen Vollzug.
Damit steht das soziologische Konzept im Raum, das in den folgenden Artikeln des ersten Teils des Buches zunächst grundlegend theologisch diskutiert wird. Der Systematische Theologe Hans-Joachim Höhn geht von einer mit Rosa vergleichbaren Zeitdiagnostik aus und spricht vom »kinetischen Imperativ« (57–61) als Signatur der Gegenwart. Ein klassisches Verständnis linearer Zeit, das Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kennt, bringt Höhn mit einem genuin theologischen Verständnis in Verbindung, das Zeit anamnetisch, kairologisch und eschatologisch konturiert (52–71). Ottmar John fragt nach der Rolle des Subjekts und stellt Rosas Konzept die Überlegungen des Mitherausgebers des Bandes Michael Schüßler als polar entgegengesetztes Modell gegenüber: Bestehe bei Rosa die Gefahr einer Dämonisierung der Beschleunigung, so bei Schüßler die Gefahr einer Divinisierung (72–93). Martin Rohner und Stephan Winter lesen Rosa auf dem Hintergrund des Zweiten Vatikanischen Konzils (besonders Gaudium et spes) und betonen die Rolle der Liturgie und demzufolge der liturgischen Mystagogie angesichts der Resonanzkrise der Gegenwart (94–114). Auch für den emeritierten Tübinger Praktischen Theologen Ottmar Fuchs ist Gaudium et spes ein wesentlicher Bezugspunkt seiner Überlegungen, in denen er Rosas Ansätzen eine eschatologisch, eine rechtfertigungstheologisch und eine kreuzestheologisch akzentuierte und jeweils biblisch begründete Linie der Kritik entgegensetzt. In es­chatologischer Perspektive müsse immer neu unterschieden werden zwischen Zeitnot (die drängende Zeit) und Zeitwohlstand (die geschenkte Zeit); in rechtfertigungstheologischer Perspektive gelte es vor allem zu fragen, ob aus Rosas Überlegungen nicht ein neuer Imperativ des vom Menschen zu verwirklichenden gelingenden Lebens gemacht werden könne. Kreuzestheologisch sei es entscheidend, das Destruktive und Böse ebenso zu bedenken wie die Sprachformen der Klage und Anklage, die in Rosas Resonanzkonzept beinahe ausgeblendet würden (115–152).
Die Beiträge des ersten Teils des Bandes werden abgeschlossen von einem Text von Michael Schüßler, der auf der Grundlage seiner 2013 erschienenen, deutlich anders akzentuierten zeittheologischen Studie »Mit Gott neu beginnen. Die Zeitdimension von Theo­logie und Pastoral in ereignisbasierter Gesellschaft« die deutlichste Kritik an Rosa in dem gesamten Band äußert. Die Theorie Rosas sieht Schüßler – bei allem eingestandenen Anregungspotential – in der Gefahr, Beschleunigungsapokalyptik einerseits, Resonanz-Sehnsucht andererseits zu bedienen. Schüßler beschreibt die Transformation hin zu einer Netzwerkgesellschaft in der digitalen Welt weniger einlinig, als Rosa sie in seiner Beschleunigungstheorie versteht. Gleichzeitig nimmt er Armin Nassehis Kritik an Rosa auf, der auf die Bedeutung der Wahrnehmung des Anderen auch jenseits der Authentizität der eignen Resonanzbeziehung verweist. Schüßler blickt in theologischer Hinsicht durchaus positiv auf die Unruhe und das Tempo der Zeit und beschreibt – John Caputos »The weakness of God« aufnehmend – die Zeit als eingeräumten »Bewährungsort des Evangeliums« (153–184; 183).
Im zweiten Teil des Buches ist der Blick auf konkrete pastorale Handlungsfelder und praktisch-theologische Herausforderungen gerichtet. In einem überaus lesenswerten Artikel beschreibt Stefan Gärtner die Situation der Kirche, die der Zeit, in der sie lebt, nicht entgeht und doch »alternative Zeitpraktiken« gestalten kann (186–201; 201). Martin Spaeth untersucht die Rolle von Seelsorgerinnen und Seelsorgern in der beschleunigten Gesellschaft, ordnet Typen des Umgangs mit der Zeit in Anlehnung an Kierkegaard und Drewermann zu und erkennt die einzige »Lösung« der Problematik im Gewinnen einer Haltung bzw. Spiritualität im Umgang mit der Zeit (202–221). Der einzige evangelische Beitrag stammt von Kristin Merle, die Manfred Josuttis’ Pastoraltheologie mit Rosas Resonanztheorie auf anregende und pointierte Weise ins Gespräch bringt, dabei auch empirische Studien zum Pfarrberuf einbezieht und die wichtige Frage nach der »Erzeugbarkeit von Resonanz« (230; im Original hervorgehoben) und nach den Institutionen, die dieses Ziel verfolgen, stellt. Hildegard Wustmans versteht Zeit als soziale Konstruktion und verbindet diese mit Gender als weiterer sozialer Konstruktion, wobei sie grundlegend lineare und zyklische Zeitmodelle, aber auch ganz praktische Unterschiede zwischen weib-lichen und männlichen Lebenswelten und Zeiterfahrungen un-tersucht (237–248). Bernhard Grümme entwirft Umrisse einer »be­schleunigungssensiblen Religionspädagogik« (249–260), Hubert Wissing Modelle einer Transformation des katholischen Verbandslebens, dessen historische Entwicklung in den vergangenen knapp 200 Jahren er erhellend auf dem Hintergrund von Rosas Resonanztheorie darstellt (261–279). Georg Horntrich weitet den Blick in den sozioökonomischen Bereich und fragt u. a. nach gesellschaftspolitischen Veränderungsimpulsen auf der Grundlage der neuen Diskussionen über Zeit (280–293). Bei dem letzten Beitrag des zweiten Teils handelt es sich um einen weit ausgreifenden Essay von Friedhelm Hengsbach, der in drei praktische Tipps zum Umgang mit Zeit mündet (294–308).
Der letzte Beitrag stammt von dem Grazer Pastoraltheologen Rainer Bucher, der Rosas Ansatz als immanente »soziologische Soteriologie« bezeichnet (311). Diese bringt er mit einer verdichteten Bildgestalt des christlichen Glaubens, dem Isenheimer Altar, ins Gespräch und arbeitet so markant und bildreich, präzise und an­schaulich Merkmale der Unterscheidung zwischen Rosas Resonanz und christlicher Soteriologie heraus. Unter anderem wird dabei (erneut) deutlich, dass bei Rosa Leiden, Tod und Schmerz kaum eine Rolle spielen und ein bestimmter, romantisch formatierter gesellschaftlicher Lebensstil als Angebot der ›Erlösung‹ dargestellt werde. So öffne Rosa zugleich die Augen und fordere zu Kritik heraus (310–333).
Die Beiträge des Bandes machen eindrucksvoll deutlich, worin die Faszination der soziologischen Theorien Hartmut Rosas liegt: Sie helfen zur Wahrnehmung, bieten Deutungen an und weisen auf Lösungen hin. Es gelingt vor allem den Beiträgen von Schüßler, Fuchs und Bucher, gleichzeitig auch auf die Probleme hinzuweisen, die Rosas soziologische Soteriologie beinhaltet. M. E. wäre es erfreulich gewesen, wenn der Band die ökumenische Weite, die durch Merles Beitrag immerhin angedeutet ist, noch offensiver gesucht hätte.
Der Protestant Rosa hat zweifellos eine besondere Nähe zu einer zugleich romantisch-gefühlstheologischen und gesellschaftspolitisch engagierten Frömmigkeit, wie sie zahlreiche evangelische Milieus teilen. Aber auch ein Blick etwa aus der orthodoxen Theologie (oder aus dem Judentum!) auf die Resonanztheorie könnte sich als hilfreich und anregend erweisen. Die gelegentlichen Be­zugnahmen auf die Bibel (etwa bei Fuchs, Horntrich oder Bucher) zeigen zudem, dass auch ein Artikel aus biblisch-theologischer Perspektive durchaus wünschenswert gewesen wäre. – Insgesamt zeigt sich, dass die Theologie durch Rosa zu einer kulturhermeneutischen und theologischen Neubesinnung herausgefordert wird, für die die Frage nach Zeit und Zeiterleben zentrale Bedeutung hat. 100 Jahre nach der Dialektischen Theologie dürfte es sich lohnen zu erarbeiten, wie sich christliches Leben zwischen den Zeiten darstellt und wie es gelingen kann, den religionsphilosophischen Grundsatz Rudolf Hermanns »Ich bin meine Zeit« gegenwärtig neu zu sagen. Der herausragende und empfehlenswerte Band macht dazu nicht nur Lust, sondern bietet auch materialiter vielfältige Impulse für die weitere Diskussion, für die es sich lohnt, die in den vergangenen Jahren leider etwas vernachlässigte Zusammenarbeit von Systematischer und Praktischer Theologie neu zu suchen.