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Ausgabe:

Juni/2018

Spalte:

681–682

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Happe, Annika

Titel/Untertitel:

Auf der Suche nach dem »Anderen Advent«?! Gelebte Religiosität im Weihnachtsfestkreis.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2015. 376 S. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-04168-8.

Rezensent:

Harald Schroeter-Wittke

Diese bei Isolde Karle in Bochum entstandene Dissertation von Annika Happe bietet zum einen empirischen Einblick in die Lebens- und Weihnachtswelt der Nutzerinnen und Nutzer des seit 1995 mit zunehmendem Erfolg vertriebenen Adventskalenders des Hamburger Vereins »Andere Zeiten e. V.« und versucht von hier aus Schlussfolgerungen zu ziehen für die Wahrnehmung und Gestaltung spätmoderner Weihnachtsfrömmigkeit im deutschsprachigen Raum. Die Arbeit hat zwei große Hauptteile, deren erster das »sensibilisierende Konzept« (175) entwickelt, mit dem das qualitativ-empirische Material im zweiten Teil befragt wird. Hier werden Interviews von 2011 mit neun Leserinnen und Lesern des »Anderen Advents« vorgestellt und analysiert, der in jenem Jahr 430.000 ge­druckte Exemplare und geschätzte 1,6 Millionen Leserinnen und Leser hatte (182).
Dieser Kalender verbreitet sich vor allem über »›Mundpropaganda‹ und davon ausgehend ein hervorragend funktionierendes ›Schneeballsystem‹« (183). Er beginnt mit dem 1. Advent und endet mit Epiphanias und erhebt damit das Kirchenjahr zum Gestaltungsprinzip. Pro Tag bietet er eine Seite mit Bild(ern) und Text(en), deren ästhetische Gestalt sich sehen lassen kann und stets differiert. Eine von »Andere Zeiten e. V.« 2010 durchgeführte Befragung unter 1140 Usern ergab: 94 % gaben ihm die Note 1 und 2; 81 % bezeichneten sich als religiös und 86 % nahmen mehrmals im Jahr kirchliche Veranstaltungen wahr (188 f.). H. vermutet, dass »der Kalender […] höchstwahrscheinlich eine große Zahl von Menschen unterschiedlicher Milieus und Lebenswelten« (190) erreicht, was ich anhand der von ihr gebotenen Zahlen nicht nachvollziehen kann, zumal H. keinerlei Diskussion mit der Milieuforschung in der Praktischen Theologie führt. Die Namen Eberhardt Hauschildt, Claudia Schulz oder Uta Pohl-Patalong tauchen nirgendwo auf. Mir scheint, dass die User des »Anderen Advents« sehr viel gemeinsam haben mit Menschen, die auch auf Kirchentagen an-zutreffen sind und milieutheoretisch einem ziemlich genau be­schreibbaren Spektrum angehören, wie Gerd Pickel u. a. 2015 ge­zeigt haben. Vor diesem Hintergrund erstaunt die enorme Reichweite, die H. mit ihrer Arbeit behauptet: »Die empirische Studie möchte Einblicke in die gelebte Religiosität und religiöse Praxis, die religiösen Sinnhorizonte, Einstellungen und Überzeugungen, Vorstellungen, Deutungen, Ansichten und Konzepte ›typisch‹ spätmoderner Individuen geben und eruieren, was für moderne Menschen in Bezug auf Weihnachten in religiöser Hinsicht relevant und bedeutsam ist.« (175) Das kann die Arbeit nicht leisten. Gleichwohl ist sie lesenswert.
Im grundlegenden theologischen Teil bietet H. nach einer kurzen Skizze der Geschichte des Weihnachtsfestes eine ausführliche, etwas erratisch wirkende Beschreibung der Schleiermacherschen Weihnachtsfeier von 1806 (45–107) und ihrer Rezeption, vor allem bei Emanuel Hirsch und Karl Barth, um sich von hier aus kritisch mit Matthias Morgenroths »Weihnachts-Christentum« (2003) auseinanderzusetzen. Leider bleiben dabei zum einen wichtige Forschungsbeiträge zur Weihnachtsfrömmigkeit ungenannt, etwa
die Forschungen von Martin Wallraff zur Entstehung des Weihnachtsfests, von Ulrich Schwab zur Familienreligiosität, von Kris-tian Fechtner zum Jahreswechsel oder Victor Turners ritualtheoretische Forschungen zum Schwebezustand von Liminalität, die im empirischen Material wiederholt an entscheidenden Stellen begegnen. Zum anderen wehrt sich H. gegen eine »strikte in­terpretatorische Trennung von Inhalt und Form« (80), wirft Morgenroth aber geleichzeitig vor, dass er allein auf eine Stimmungs-religion setze und dabei die Inhalte vernachlässige, wohingegen Morgenroth vielmehr Formen als Inhalte zu interpretieren versucht und sich damit keineswegs gegen Inhalte stellt oder gar sperrt.
Wie auch immer – da gebe ich H. Recht: »Weihnachtschristentum« kann »nicht ohne konkrete Inhalte […] bestehen.« (126) Und an diesem Punkt bietet H. nun einiges Erstaunliche und Bedenkenswerte für Theorie und Praxis, weshalb ihr zweiter Teil einen gewichtigen Forschungsbeitrag darstellt für die Wahrnehmung und das Verstehen eines sehr wichtigen Spektrums »spätmoderner Volkskirchlichkeit« (174). In den neun Interviews kommt eine Vielzahl von Weihnachtsbedürfnissen, -erwartungen, -enttäuschungen, -umgängen, -gestaltungen, -theologien zur Sprache, die ein ganzes praktisch-theologisches Weihnachtskaleidoskop darstellen. Hier zeigt sich zum einen, warum der »Andere Advent« mit seiner genuin »(unverbindlichen) religiösen Kommunikation« (236 f. u. ö.) als »gebrochenes Ritual« (295 u. ö.) in die »Schwebe« (236 u. ö.) führt und zum anderen, warum und wie die Inhalte – bei den einzelnen Personen durchaus unterschiedlich – gelungen ins Spiel spätmoderner Wahrnehmungen kommen: Was für die einen wichtig ist, ist für andere eher bedeutungslos und umgekehrt. Mit dem »Anderen Advent« wird deutlich, dass die in Bezug auf den Heiligabendgottesdienst entwickelte These von Konrad Merzyn »Es gilt: ›Keine Experimente‹ als Grundregel der Vorerwartungen!« (151), vielen Erwartungen nicht gerecht wird. Gerade das Unerwartete und Überraschende und Experimentelle wird beim »Anderen Advent« von allen Interviewten geschätzt. So vermag der »Andere Advent«
in seiner ästhetischen Gestalt eine solche Breite an Angeboten zu machen, die nicht ausgrenzt und gleichzeitig eine ungeheure Vielzahl an Bedürfnissen bedient. Darin ist der »Andere Advent« vorbildlich für andere Verkündigungsgestalten von Kirche. Dies mit vielen Nuancen im empirischen Teil dieser Arbeit detailliert herausgearbeitet zu haben, dafür gebührt der Verfasserin Dank.