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Ausgabe:

Juni/2018

Spalte:

679–681

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Fugger, Dominik, Kranemann, Benedikt, u. Jenny Lagaude [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Ritual und Reflexion. Historische Beiträge zur Vermessung eines Spannungsfeldes.

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2015. 240 S. u. 13 Abb. Geb. EUR 59,95. ISBN 978-3-534-26708-8.

Rezensent:

Thomas Klie

Forschungsliteratur zum Thema »Ritual« ist nicht gerade dünn gesät. Neben der (Praktischen) Theologie sind es vor allem Kultur- und Theaterwissenschaften, Soziologie und Sozialpsychologie so­wie die Religionswissenschaften, die sich seit den 1990ern verstärkt der Performanz und Funktion ritueller Formen zuwenden. Die Reflexionsperspektiven sind vielfältig, zudem überlappen sie sich trans- und interdisziplinär. Hier einen auch nur halbwegs solennen Überblick zu bekommen, ist angesichts des dichten Ge­flechts von Bezugstheorien und Entdeckungszusammenhängen nahezu aussichtslos. Vor diesem Hintergrund nimmt sich der schlanke Sammelband aus dem Erfurter Kontext eher bescheiden aus, wenn auch die hier angeschlagene historische »Vermessung« des rituellen Spannungsfeldes gleich in dreifacher Hinsicht eine wichtige Systemstelle besetzt: 1. die Geburt des Rituals aus dem Geist der Liturgie, 2. die Gärungsprozesse in der christlichen Religionskultur der Frühen Neuzeit mit ihren starken europäisch-antiken und mittelalterlichen Traditionslinien und 3. die bislang wenig beachtete Relation von Performanz und Reflexion in rituellen Vollzügen. Leider kommt gerade diese dritte Perspektive insgesamt etwas zu kurz in den Beiträgen, doch der dreifache Theoriezugriff erweist sich trotzdem als innovativ genug. Die in diesem Band vereinigten »Einzelstudien zum Verhältnis von rituellem Tun und gleichzei-tigem Nachdenken darüber« schließen nicht nur Lücken in der Wissenschaftsgeschichte, sondern sie »verändern auch wiederum unseren Blick auf Rituale« (10).
Die insgesamt 13 Beiträge gliedern sich in zwei große thematische Blöcke, die gerahmt werden durch eine (kurze) Einleitung und einen (ausführlichen) Ausblick. Im ersten Block geht es um die »Ritualreflexion im Zeitalter von Reformation und Konfessionalisierung«. – Yann Dahhaoui reflektiert am Beispiel des kirchlichen Kinderbischofspiels (seit dem 12. Jh.) die jeweiligen zeit- und regionalgeschichtlichen Semantisierungen im Verhältnis von rituellem Spiel und der Gedächtnisfigur einer heiligen Demut. – Natalie Krentz rekonstruiert die transpersonale Repräsentanzkultur an­hand der Wittenberger Reformation, die ein ganzes Zeitalter der (protestantischen) Ritualkritik einläutete, das seinen Höhepunkt dann in der Aufklärung erreichte. – Ikonographisch vertieft Susanne Wegmann die liturgisch prekäre Ambivalenz von Bild und Ze-remonie am Beispiel reformatorischer Altarretabeln. – Über die durchaus exponierten dogmatischen Deutungen im protestantisch-siebenbürgener Umfeld des 16./17. Jh.s informiert Mihály Balász. Die Frage, ob Rituale nur kontingente »Äußerlichkeiten« sind, reicht – zumindest in evangelischen Kirchentümern – jedoch weit über diesen historischen Kontext hinaus. – Das Zusammenspiel von römischem Missale und den höfischen Zeremonien im Kastilien des 17. Jh. beleuchtet Igor Sosa Mayor. Deutlich wird, dass auch der europäische Hochadel einen starken Drang dazu hatte, mittels eigener Regulative verschiedene Aspekte des Hausmanagements zu ritualisieren. Hier wurden, wie heute auch, Räume und Objekte zu signifikanten Markierungen für Hierarchien. – Auf die barockkatholische Liturgiekatechese reflektiert der instruktive Beitrag von Jürgen Bärsch. Er kommt zu dem Resümee, dass vor allem die breite Palette jesuitischer Hausliteratur den Gläubigen die tridentinischen Frömmigkeitsmotive nahezubringen vermochte. Sie ermöglichten ihnen einen (begrenzten) Wissenserwerb über die erwünschten Riten und Gebräuche.
Exemplarisch für die aufklärerische Ritualkritik analysiert Diet-rich Schotte die Religionskritik von Thomas Hobbes. Religiösen Ritualen eignet im Leviathan ein notwendig politischer Charakter, denn der Staat muss zwangsläufig auf die potentielle politische Sprengkraft religiöser Lebensformen reagieren. Hier setzt eine Re­flexion ein, die »von einem dezidiert nicht-religiösen Standpunkt erfolgen muss« (135). – In Anknüpfung an Habermas postuliert dann Peter Cornehl für die Religion normative Bindungsenergien, Lebenshilfepotentiale und Krisenbewältigungsoptionen durch ihre spezifische Kopplung von kognitiven, emotionalen und rituellen Komponenten. Cornehl erinnert bei seiner Charakterisierung des orthodoxen bzw. aufgeklärten Gottesdienstes an die drei konstitutiven »sola« der protestantischen Dogmatik (sola fide, sola scriptura, solus Christus). Letztlich führte die Aufklärungsliturgik zu einer unangefochtenen Schlüsselrolle des Pastors als souveränem Regisseur der Zeremonie. Der Beitrag mündet in das Plädoyer, den rituellen Eigensinn symbolischer Kommunikation deutlich ernster zu nehmen, um das Gespräch gerade auch mit agnostischen Zeitgenossen wie Habermas auf Augenhöhe führen zu können. – Mitherausgeber Benedikt Kranemann vergleicht die evangelische und katholische Liturgik um 1800. Seine Kernthese: Beide Gottesdienstformen sind sich vorher und nachher nie so nahege­kommen wie in der Zeit der Spätaufklärung. Es einte sie der Einbezug von Gemeinde in die Liturgie, das Ringen um eine angemessene Liturgiesprache, die weitgehende Anpassung an den Geist der Zeit und letztlich auch der Glaube an die Reformierbarkeit des Gottesdienstes. Die Irenik der Spätaufklärung könnte durchaus beispielhaft für die aktuellen ökumenischen Bemühungen sein. – Mitherausgeberin Jenny Lagaude rekonstruiert Johann Gottfried Herders Reformbemühungen bezüglich der drei wichtigsten Ini­tiationsrituale der Freimaurer. Die (protestantischen) Ideale der Einfachheit, Klarheit und Kürze sollten die Logenmitglieder der sittlichen Vervollkommnung näher bringen. – Am Beispiel der reformerischen Impulse von Friedrich Wilhelm III. zeigt Ann-Kathrin Brenke die Vorbildfunktion des Aufklärungsgottesdienstes für den reformierten Synagogengottesdienst auf.
Abschließend diskutiert Louis van Tongeren die liturgiewissenschaftlichen Konsequenzen dieser überaus detailreichen ritualtheoretischen Studien. Während die ritual studies heute weitgehend eine deskriptive Perspektive einnehmen und dabei die normativen und insbesondere reflexiven Dimensionen abblenden, weitet die historische Perspektive den Blick vor allem auf die kontingenten Veränderungen innerhalb der Ritualpraxis. Es ist gerade die historische Sichtweise, die Ritualforschende zu methodischer Zurückhaltung mahnt, schließlich gibt es die meisten alten Rituale nur in Form von Texten.
Die Beiträge dieses Sammelbandes liest mit Gewinn, wer gute Argumente dafür sucht, sowohl die ganzheitlich-regressiven Zu­griffe auf »Rituale« in den Gemeinden als auch die Religionsvergessenheit der kulturwissenschaftlichen Ritualforschung für Krisenphänomene zu kritisieren.