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Ausgabe:

Juni/2018

Spalte:

672–678

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Schwager, Raymund

Titel/Untertitel:

Brauchen wir einen Sündenbock? Gewalt und Erlösung in den biblischen Schriften. Hrsg. v. M. Moosbrugger u. K. Peter.

Verlag:

Freiburg. i. Br. u. a.: Verlag Herder 2016. 352 S. = Gesammelte Schriften, 2. Geb. EUR 50,00. ISBN 978-3-451-34222-6.

Rezensent:

J. Christine Janowski

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Schwager, Raymund: Der wunderbare Tausch. Zur Geschichte und Deutung der Erlösungslehre. Hrsg. v. N. Wandinger. Freiburg. i. Br. u. a.: Verlag Herder 2015. 560 S. = Gesammelte Schriften, 3. Geb. EUR 52,00. ISBN 978-3-451-34223-3.
Schwager, Raymund: Heilsdrama. Systematische und narrative Zugänge. Hrsg. v. J. Niewiadomski. Freiburg. i. Br. u. a.: Verlag Herder 2015. 616 S. = Gesammelte Schriften, 4. Geb. EUR 54,00. ISBN 978-3-451-34224-0.
Schwager, Raymund: Briefwechsel mit René Girard. Hrsg. v. N. Wandinger u. K. Peter. 464 S. Freiburg. i. Br. u. a.: Verlag Herder 2014 = Gesammelte Schriften, 6. Geb. EUR 42,00. ISBN 987-3-451-34226-4.


Der schweizerische Theologe Raymund Schwager SJ (1935–2004), 1977 bis 2000 Professor für dogmatische und ökumenische Theologie an der Theologischen Fakultät Innsbruck, seit seiner Studienzeit aktives Mitglied der Friedensbewegung, ist ein kreativer nachkonziliarer Theologe, der keiner theologischen Schule angehörte, wohl aber faktisch eine begründete und von hoher und zugleich spezifischer Interdisziplinarität nicht nur theologischer Art war. So war er z. B. Gründungsmitglied und erster Vorsitzender des »Colloqium on Violence and Religion« (Stanford, 1991 ff.). Theologisch bekannt wurde er vor allem durch sein Sündenbockbuch (Bd. 2; 11978,31991; frz. 2011; engl., 22000; kor. 2009) und dann durch »Jesus im Heilsdrama« (11990, 21996, engl. 2008; Bd. 4, 41–404). Protestantischerseits wurde er meines Wissens im deutschsprachigen Bereich systematisch, speziell dogmatisch, kaum rezipiert und katholischerseits abgesehen von seinen ihn weiterdenkenden Schülern, zu denen primär der Herausgeber der Gesammelten Schriften (GS) gehört, zum Teil recht kritisch, wohl auch aufgrund von Missverständnissen, wenngleich meist nicht ohne Respekt.
Seine GS, zu denen bisher Unveröffentlichtes wie sein umfangreicher, von S. initiierter und höchst aufschlussreicher Briefwechsel mit René Girard in Bd. 6 (1925– 2015) von 1974 bis 1991, in Bd. 8 Briefwechsel mit u. a. H. U. v. Balthasar, J. Ratzinger und bekannten Exegeten, ferner das interreligiös orientierte Fragment »Dogma und dramatische Geschichte« (Bd. 5) gehören, wurden unter der Voraussetzung der bleibenden, ja ungebrochen hohen Aktualität herausgegeben. Denn entscheidend inspiriert durch den multidisziplinären und multidisziplinär diskutierten Querdenker Girard, zu­nächst durch dessen Buch »La violence et le sacré« (11972, dt. 11987), dann u. a. durch einen Beitrag von 1973, in dem dieser seine Theorie erstmals auch auf die Evangelien als die menschliche Gewalt radikal enthüllend anwendet, hat er als wohl erster deutschsprachiger Dogmatiker bereits in den 70er Jahren des 20. Jh.s die Bedeutung der Gewaltproblematik im Kontext auch der Religionen bis hinein in die biblischen Schriften erkannt. Er hat sich von da aus für einen radikal von Gewalt gereinigten Gottesbegriff auch in der theologischen Interpretation des nun einmal gewaltsamen Kreuzestodes Jesu Christi im Horizont von dessen Reich-Gottes-Verkün-digung bemüht und insbesondere die schwierige, auch katholisch in die Krise geratene Rede vom stellvertretenden Tod, insbesondere Opfertod, Jesu Christi zentral für die katholische Eucharistie ebenso modifiziert zu rehabilitieren versucht wie die westkirchliche, gleichfalls schwierige Rede von der Erb- oder auch Ur- bzw. Wurzelsünde (vgl. Konkuspienz). Beides in modifizierter Anknüpfung an Girards mimetische Theorie, der Theorie eines »mimetischen Begehrens«, d. h. eines Begehrens, das – an sich unbestimmt!– sich faktisch immer wieder am Begehren anderer orientiert, im Blick auf den entsprechenden Objektbezug »triangulär« genannt wird und zu Rivalität, Neid, Zorn, Hass, zur verbalen und schließlich auch physischen Gewalt führt. Und dies bis hin zum Sündenbockmechanismus (vgl. kollektive Victimisierung, Verfolgung, Ausstoßung und Tötung eines Unschuldigen), der ursprünglich (vgl. ethnologische Hypothese vom Gründungsmord) mit sakrifizieller Aufladung und zugleich mythologischer Verhüllung verbunden ist und auch in seinen ritualisierten religiösen (vgl. blutige Opferriten) sowie seinen weiteren Transformationsgestalten, zu denen nicht zuletzt der »Holocaust« gehört, zur nur vorübergehenden Befriedung einer Gemeinschaft bzw. Gesellschaft führt.
Zur »Einführung in Girards Theorie des mimetischen Begehrens. Im Kontext kulturtheoretischer und gesellschaftspolitischer Fragen« vgl. W. Palaver, 12003, erw. 32008, Reihe »Mimetische Theorie«, Bd. 6; im 5. Kapitel: »Die biblische Offenbarung und das Christentum«, mit leider verkürztem (vgl. Bd. 6 den Briefwechsel mit Girard) Hinweis auf die auch umgekehrte Bedeutung von S. für Girards weitere Denkgeschichte und ihrer beider schließlich auch spiritueller Freundschaft. – Girard war zwar kein (Fach-)Theologe, hat aber über seinen Dostojewski-Studien wieder zum christlichen Glauben gefunden und wurde darüber zu einem kritischen Apologeten des Christentums.
Zugleich hat S. schon in seiner Dissertation über das dramatische Kirchenverständnis bei Ignatius von Loyola (11970, Bd. 1, 37–256) und dann besonders in seiner dramatischen Erlösungslehre den für H. U. v. Balthasars Theologie zentralen Begriff des Dramatischen (vgl. bes.: Theodramatik, 4 Bde., 1973–1983) modifiziert beerbt. Diesem »Zugleich« entspricht die Tatsache, dass die Girardsche Mimesistheorie selbst dramatischen Charakter hat und Balthasar Girard und S.s Sündenbockbuch gelegentlich gewürdigt hat, wenngleich nicht ohne Kritik (vgl. a. a. O., Bd. 3, bes. 276–289).
Die GS belegen eine für einen nicht nur katholischen Dogmatiker ungewöhnliche Denkgeschichte (dazu s. u.). Sie enthalten jeweils einen gründlichen Editionsbericht (inklusive entstehungs- und rezeptionsgeschichtlicher Hinweise), im Allgemeinen auch einen Anhang mit dem Verzeichnis der editorisch und von S. zitierten Literatur sowie ein Sach- und Personenregister, dazu gegebenenfalls typischerweise ein ausführliches Bibelstellenregister. Typischerweise – denn S. geht es mit seiner vorbegrifflich schon in seinem Sündenbockbuch dramatischen Erlösungslehre seit diesem basal um eine Relektüre und -interpretation des gesamtbiblischen Kanons als nicht fundamentalistisch und zugleich nicht bloß historisch-kritisch, dazu auf neue Weise typologisch (vgl. spezifische »Schüsseltexte«) zu lesendem, durchaus spannungsreichen Basisdokument der christlichen Kirchen, an sich auch der dogmatischen Theologie, für die er sich hermeneutisch leitperspektivisch an Girard orientiert, ohne diesen einfach zu verabsolutieren.
So beginnt sein meistaufgelegtes Sündenbockbuch, das »Gewalt und Erlösung in den biblischen Schriften« thematisiert, nach Vorbemerkungen zu Girard in Vorwort und Einleitung mit einem 1. Kapitel: »René Girard: Die Gewalt und das Sakrale« (54–100), in dem er dessen Theorie in groben Zügen erläutert, um sie von anderen Theorien wie z. B. der S. Freuds und Agressionstriebtheorien zu unterscheiden sowie Analogien zu Theorieelementen Hegels herauszustellen und im ganzen Buch immer wieder auf Girard zu­rückzukommen. Dabei geht es ihm darum, dessen dem An­spruch nach universale (fundamental- und zugleich sozial-)anthropologische Theorie von ursprünglich nur hypothetischem Charakter, die Girard zunächst als Literaturwissenschaftler gewonnen, dann zu­nächst auch auf ethnographisches Material und immer neue Phänomene angewandt hat, speziell und konkret an der Bibel über die bisher nur kurzen Andeutungen Girards hinaus in ihrer Erschließungskraft zu erproben, sich dabei der hermeneutischen Probleme durchaus bewusst. Wie sehr er Girards ihm damals vorliegendes Werk theologisch von Anfang an vertieft, zeigt sich daran, dass er das mimetische trianguläre Begehren vom »Fall« mit seiner spe-zifischen und spezifisch vermittelten Mimesis her versteht (135 u. 141 f. zu Gen 3), um dem neutestamentlich die Mimesis des von Jesus verkündigten barmherzigen Gottes und die Nachfolge des ihm entsprechenden Jesus entgegenzustellen (245 ff.). Es zeigt sich ferner daran, dass er den von Girard zunächst prinzipiell unter Verdacht gestellten Opferbegriff, wie er im Neuen Testament zum Teil (vgl. bes. Hebr) die Kreuzesinterpretation mitbestimmt, im Sinne der freien Selbsthingabe Jesu an den von ihm verkündeten Gott der (Feindes-)Liebe bzw. des Erbarmens mit den Sündern, die ihn zum Sündenbock (im modernen Sinne) machen, versteht (dazu knapp u. 3.).
Das 2., dem Alten Testament gewidmete Kapitel Vom Gott der Rache zum Gott des Friedens (101–204) thematisiert mit jeweils plastischen Belegen 1. die Gewalttaten unter den Menschen, 2. den irrational gewalttätigen Jahwe als einer archaisch-projektiven Vorstufe samt anderer Stufen bis hin zum immanenten Tun-Ergehen-Zusammenhang bzw. zur Selbstbestrafung (vgl. zusammenfassend 122), 3. Rivalität und Eifersucht (des noch nicht monotheistischen Jahwe), 4. die Mimesis, 5. die Projektion sakraler Vorstellungen (unter Rekurs auf prophetische Opferkritik) und 6. die Rotte der Gewalttäter. Es folgt 7. »Die Offenbarung des wahren Gottes und die Überwindung [nicht bloß Aufdeckung!] der [menschlichen] Gewalt«, die sich Gottes Wirken durch sein Wort und seinen die Herzen erneuernden, neu vergemeinschaftenden Geist verdankt; in 8. die Thematisierung des schwierigen leidenden Gottesknechts (Jes 40–55), der hier – wie anderes auch – vom Sündenbock(mechanismus) her verstanden wird, aber von Gott erwählt ist, direkt von Gott belehrt, mit Gottes Geist begabt und dazu bestimmt ist, dieses Leiden stellvertretend (so 199 f.) freiwillig ohne Gegengewalt zu tragen und mit der Sammlung Israels zugleich Licht der Völker zu sein. Doch diese Stellen sind – wie anderes im Alten Testament – im Blick auf die Beteiligung Gottes an der ihn treffenden Gewalt bzw. Schuldabladung nicht eindeutig (200 ff.); und das Alte Testament kann auch in dieser Hinsicht nicht »auf einen Nenner gebracht werden« (204).
Das 3., dem Neuen Testament gewidmete Kapitel thematisiert – ohne Vorkenntnis natürlich höchst überraschend – Jesus als Sündenbock der Welt (205–308), also nicht eines Gottes, dessen Zorn versöhnt bzw. besänftigt werden müsste (so pointiert 313), was pseudoanselmisch und zugleich unbiblisch ist. Doch ist dazu »evangelisch« z. B. CA III, aber auch noch EG 29,1–4 der Kehrvers »und hat versöhnt des Vaters Zorn, des Vaters Zorn« zu vergleichen (die Strophe aus EG 83, der gemäß der Vater seinen Sohn »am Kreuzesstamm« gemartert hat »mit Nägeln und mit Spießen« und ihn geschlachtet hat »als ein Lamm«, ist inzwischen zum Glück gestrichen.
In 1. wird anhand einiger Stellen mit Girard davon ausgegangen, dass – und zwar »kollektive« – »Verblendung und Verstockung« – »die entscheidenden Faktoren der neutestamentlichen Problematik« sind (208), wobei dem Wort vom von den Bauleuten (!) verworfenen Stein, der zum Eckstein geworden ist, am Ende des Gleichnisses von den bösen Winzern (Mk 12,10 par.; vgl. Ps 118,20; Apg 4,11; 1Petr 2,6) wie in Girards genanntem Beitrag hermeneutisch-strukturelle Schlüsselfunktion zugesprochen wird (209 ff.). Nach Unterkapiteln zur Aufdeckung des untergründigen Willens zum Töten, zur Lüge und Heuchelei durch Jesus, bis hin zum Teufel als Lügner und Mörder »von Anfang an« (Joh 8,44; 230 ff.), entmythologisiert zum sozusagen objektiven bzw. systemischen gottwidrigen bösen Geist der zu Gewalt und Gegengewalt tendierenden Mimesis der Menschen (vgl. 285), geht es unter 3. um das nahe gekommene Reich Gottes und den Beginn einer neuen Sammlung, die eine letzte Verstockung und Verblendung provoziert und zunächst an einer Sammlung und Verschwörung gegen ihn scheitert. Es folgt, wiederum plastisch belegt, die kreuzestheologische Zuspitzung: 4. (repräsentativ) »Alle gegen einen [wenngleich nicht alle offen]: Jesus als Sündenbock«. In 5. »Der Sohn Gottes als ›notwendiger‹ Sündenbock« wird dies weder als gleichsam metaphysisch noch als »naturnotwendig« verstanden, sondern entspricht dem fallbedingten bösen Willen (276), der sich hier zudem nicht »zufällig« (wie im Falle des »normalen« Sündenbockmechanimus) an Jesus entlädt, sondern nicht zuletzt provoziert durch seinen Anspruch und sein direktes oder indirektes, als gotteslästerlich bzw. satanisch eingestuftes Selbstbekenntnis (269 f.272). In dem sich gewaltsam entladenden Groll gegen den Gottessohn, der den wahren Gott (der grenzenlosen Liebe) offenbart, steckt der Groll (bzw. mit Paulus die Feindschaft, 273) gegen Gott, der hier sogar als immer schon mitgemeinter »letzter Sündenbock« bezeichnet wird (277). 6. »Einer für alle: die Erlösung« betont in Auseinandersetzung mit besonders Hebr das unableitbar Neue des »Opfers« Jesu: Seine Selbsthingabe (280) im vollendeten Glauben (281) an den barmherzigen Vater mit der Bitte für die Verfolger (215 f.), die – ohne zu wissen, was sie tun – auf ihn als den Sündlosen, aber von ihnen als Sündenbock behandelten, ihre Sünden »höchst real« übertragen (214) bzw. ihn mit ihnen beladen haben (300), so dass er für alle sterben konnte, indem er sie dem Willen seines Vaters gemäß, das Böse nicht mit Bösem zu vergelten (289), getragen hat (214 ff.). Durch seine Auferweckung durch den Vater, der ihn im Unterschied zu den ihn richtenden Menschen, denen er ihre Sünden nicht anrechnete (286, unter Rekurs auf Paulus), gerecht richtet, wurde er zum Quell des neuen Lebens, also gegenwendig zum neuen, »wahren Eckstein« (218; vgl. dazu 8.: »Die neue Sammlung: Der Heilige Geist und das neue Gottesvolk«). In 7. »Der Zorn Gottes« wird dieser nicht einfach gestrichen, sondern besonders von Röm 1,18–32 her dahin verstanden, dass Gott die von ihm abgefallenen Menschen im Respekt vor ihrer Freiheit »sich selbst, ihren Begierden, Leidenschaften und ihrem verkehrten Denken ausliefert« (220), also seinen Sohn, der an alledem nicht den geringsten Anteil hat (vgl. 230), in diese gottverlassene Situation hinein sendet und sie frei durchleiden und verwandeln (so etwas änigmatisch 292) lässt, nicht aber direkt seinen Zorn.
Obwohl S. hier in systematischer Absicht permanent exegetisch und gelegentlich auch traditionskritisch – auch im Blick auf die Exegese – argumentiert, weiß er um die Notwendigkeit weiterer Arbeit am Thema auf dem Wege detaillierter und differenzierter Studien sowie einer Überprüfung der theologischen Tradition im Lichte von Girard (233).
Das Letztere geschieht im voluminösen Bd. 3: »Der wunderbare Tausch« (11986), der leider im Untertitel wie im Inhaltsverzeichnis so auch im Text statt »Erlösungs«- »Erbsündenlehre« schreibt. Er vereinigt mit einer sehr knappen Einleitung (39 f.) und einem knappen Rückblick (512–518) in zehn Kapiteln mit treffenden Sachüberschriften einem Gesamtplan entsprechende Aufsätze (von 1980–1986) zu wirkungsmächtigen Modellen von Marcion/Irenäus bis hin zu Anselm, M. Luther, K. Barth und H. U. v. Balthasar. Dieser wird trotz partieller Kritik, insbesondere im Blick auf eine sehr problematische Stelle (510 und zum Zorn Gottes, den Christus stellvertretend erträgt und von dem er zerspalten wird), die ihn an das Problem der »Gottesvergiftung« (T. Moser, 510) erinnert, am meisten gewürdigt. Dabei geht es besonders darum, Girard im Blick auf immanente Probleme (auch schrifthermeneutischer Art) und Zweideutigkeiten dieser Tradition nun wiederum zu erproben (31 u. 46).
Da dieses Werk, das den Modellen jeweils systematische Würdigung und Kritik zukommen lässt, »noch nicht direkt zu einer um­fassenden und systematischen Erlösungslehre« führt und außertheologische Forschungen prüfen will (517), halte ich kurz fest:
1. Im I., Marcion und Irenäus gewidmeten Kapitel, wird unter 1. »Girard und die Erlösungslehre« (43–45) nun auch auf dessen im selben Jahr wie das Sündenbockbuch von S. erschienene Werk »Das Ende der Gewalt. Analyse des Menschheitsverhängnisses« (stark gekürzt und schlecht übersetzt 11989, vollständig und neu übersetzt 12009; frz. 11978 mit Mt 13,35b als Titel!) hingewiesen.
2. In besonders systematischer Hinsicht empfiehlt es sich, jeweils die letzten Unterkapitel zu lesen, die der Kritik oder Würdigung und Kritik gewidmet sind, ferner den Rückblick, in dem die Bezugsprobleme von der Schöpfung und Sünde bis hin zum Problem und Begriff menschlicher Freiheit, und zwar auch im Menschgewordenen (vgl. dazu bes. die eindrücklichen Kapitel zu Anselm und v. Balthasar), gebündelt werden und am Schluss trotz aller Kritik an Luther in dem ihm gewidmeten Kapitel immerhin Luthers »konsequent« auf das Kreuzesgeschehen bezogener Gedanke vom »fröhlichen Wechsel und Streit« gelobt wird, der von Girard her »nochmals konkreter« zu fassen sei (518).
Bd. 4: »Heilsdrama. Systematische und narrative Zugänge«, enthält zwei Werke: »Jesus im Heilsdrama. Entwurf [!] einer biblischen [biblisch begründeten] Erlösungslehre« (39–400) und »Dem Netz des Jägers entronnen. Das Jesusdrama nacherzählt« (401–546, 21994), die beide ausdrücklich von v. Balthasars »Theodramatik« zehren (Vorwort, 40; Motto, 403) und von fünf, vorbegrifflich schon im Sündenbockbuch präsenten »Akten« der dramatischen Geschichte Jesu Christi bestimmt sind. Kann das zweite, postwissenschaftliche Werk hier vernachlässigt werden, so lässt sich die Doppelung im Untertitel von Bd. 4 durchaus nicht auf die beiden Werke verteilen. Denn »Jesus im Heilsdrama« setzt die bisherigen Studien zur Erlösung unter Berücksichtigung nun auch der historisch-kritischen Exegese, neuerer systematischer Positionen und anderer, auch außertheologischer Theorien (zum Opfer, aber auch zu Problemen der Neuzeit) exegetisch wie systematisch fort; und dies derart, dass auf den grundlegenden Teil I zu Paradox, Drama und Argumentation (bes. 41–56) ein Teil II zur »Dramatik im Geschick Jesu« (79–290) folgt, der sich begründeterweise an den narrativen Texten des Neuen Testaments, besonders den synoptischen Evangelien, orientiert, und erst dann ein Teil III zur »Systematik« (291–400). Dieser wiederum gilt (291) 1. der Überprüfung des Ergebnisses an den anderen neutestamentlichen Schriften, vor allem an ihrer Deutung des Kreuzes (291–349), 2. der Überlegung, »ob die Aspekte der göttlichen Wirklichkeit, die sich im Heilsdrama offenbaren«, sich auf »kohärente Weise in einem widerspruchsfreien Gottesgedanken zusammenfinden« (349–381), und 3. der Frage, inwieweit das christliche Leben »selber mit heilsdramatischen Kategorien verstanden werden kann« (381–400). – Nicht zuletzt (vgl. schon im Titel »Entwurf«) dieses »kann« (statt eines »muss«) spricht für eine vorsichtige und bei aller Entschiedenheit des Fragens offene Systematik, die zudem noch immer »nicht direkt und umfassend« – es fehlt insbesondere ein Unterkapitel zur sogenannten futurischen Eschatologie mit ihren »orthodox« spezifischen Gewaltproblemen – »zu einer systematischen Erlösungslehre« führt (s. o. 2.). – Im Folgenden halte ich nur knapp einige Punkte fest, die mir gegenüber dem Sündenbockbuch besonders wichtig erscheinen.
1. Girard, der inzwischen als bekannt vorausgesetzt werden kann, weil schon durch S. angeschobene (vgl. Briefwechsel) Übersetzungen vorliegen, tritt hier ebenso in den Hintergrund wie der Sündenbock (im modernen Sinn). Sie tauchen wie die Mimesis und der leidende Gottesknecht in keiner Überschrift mehr auf (vgl. aber das Register) und der Letztere sehr viel weniger als im Blick auf die Synoptiker der Menschensohn und der Messias, die gegenüber dem Alten Testament mit anderem als umgeprägt verstanden werden.
2. Im Blick auf Teil 2 »Dramatik im Geschick Jesu«, der im systematischen Teil 3 vertieft wird, verfährt S. methodisch – in ausdrücklich gebrochener Analogie zu Anselm – »sehr vorsichtig«, sofern der »Anspruch Jesu« »zunächst für hypothetisch wahr« gehalten wird, um von da aus zunächst nur nach der Kohärenz der Evangelienüberlieferung zu fragen und erst im Blick auf das Ostergeschehen (227–263) die Wahrheitsfrage zu stellen (124). Die sachlich und zeitlich sekundären harten Gerichts- und Höllenworte Jesu für diejenigen, die der mit ihm nahe gekommenen Gottesherrschaft nicht entsprechen, ja sie und damit auch ihn ablehnen, werden hier – wie sonst des Öfteren – nicht vernachlässigt. S. erklärt sie mit der »Verdoppelung der Sünde« angesichts der Botschaft Jesu (140–150). Das ist insofern nicht einleuchtend, als die jenseitige Hölle schon im frühen Judentum vertreten wird und Jesus diese nicht erlitten hat, sondern hier auf Erden die (Hölle der) Gottverlassenheit (vgl. 223). Die theologische Ernstnahme der menschlichen Aktanden in der »Dramatik« bis hin ans Kreuz führt jetzt sehr viel differenzierter und exegetisch wie systematisch aufwendiger zum Verständnis des Kreuzesgeschehens als Kreuzigungsgeschehen allein als Menschenwerk, dem Jesus sich ausliefert (157–163) bzw. in das er mit, nicht durch, den Willen des Vaters (221–225) »sich hineinziehen ließ« (291) und durch das die ihn Richtenden sich selbst richten, ohne es zu wissen (225–227). Der Vater kreuzigt nicht den Sohn (so noch gegen J. Moltmann, 362); es geht nicht um ein »Gott gegen Gott« (so noch gegen dens., ebd.) und auch nicht um eine göttliche Instrumentalisierung der beteiligten Menschen (so gegen K. Barth, 297). Es geht von daher ferner nicht um ein von außen bzw. von Gott direkt auferlegtes Straf- oder Gerichtsleiden (z. B. 307, Anm. 20). Biblische Kurzformeln wie »Gott hat ihn zur Sünde gemacht« oder vom »Fluchtod« sind nicht einfach zu systematischen Sätzen zu erheben (296, hier gegen Barth), sondern von anderen Stellen oder vom narrativen dramatischen Kontext der Evangelien her sozusagen zu entmischen (z. B. 303 ff.307, Anm. 20). Gleichwohl hält S. auf seine Weise an der/einer, wie er weiß, längst im Zeichen der aufklärerischen Idee vom autonomen moralischen Subjekt (39.312 u. ö.) schwierig gewordenen »Stellvertretung« fest (vgl. summarisch 342, ansonsten Register), und zwar als einer »vielschichtigen« bzw. »komplexen« (344). Zu ihr gehört, verkürzt gesprochen, sowohl »der Sündenbock« (das victim, sc. der Menschen, die ihn richten) als auch »das Lamm Gottes« (339, vgl. Joh 1,29: »das die Sünden der Welt trägt«). Genauer heißt dies für die Stellvertretung: 1. »Hingabe Jesu als Identifikation mit den Sündern« (308 ff.) – und zwar auch mit den Tätern, insofern diese selber Opfer sind (victims, sc. der Übermacht der Sünde und deren eigengesetzlicher Geflechte).
2. »Transformation des Bösen« am Kreuz (329 ff.) durch Hingabe (Opfer als radikal transformiertes sacrifice). Dabei entspricht die »Hingabe« einerseits dem Sich-Ausliefern an seine Verfolger, andererseits und noch mehr der restlosen bzw. vollen Selbsthingabe (359) an seinen »himmlischen Vater« noch in der Verlassenheit von ihm im Gebet für seine Henker und nun auch der »Hingabe und Übergabe des Geistes« bzw. »Rückgabe« in der »Kraft des Geistes« im Akt des Sterbens, hier mit Hebr 9,14 auch als »ewiger Geist« verstanden (337 f.), der ihn nun – mit Folgen für die Trinitätslehre (349–381) – von Anfang an als Geistträger bestimmt. Die Verdoppelung der Sünde (s. o.) wird mit einer Verdoppelung der (Feindes-)Liebe (189.226.253) beantwortet. Daraus und aus der universal verstandenen Stellvertretung samt der entsprechend universal verstandenen Hoffnung auf Erlösung (346) folgt aber keine »Mechanik der Erlösung«, da auch die »übergroße Liebe Gottes … nie zwingt« (346) bzw. vergewaltigt (167), sondern auf die freie bzw. vom Geist Gottes (vgl. 5. Akt) befreite Antwort des Menschen wartet. Dessen eigene Freiheit aber wird plötzlich doch als unbegrenzt und radikal verstanden (352 ff.) und die (ewige) Hölle, in die doch niemand sich selbst versetzen kann, als ihr »Symbol« (352). – Verstehe es, wer es kann!
Trotz mancher solcher Unklarheiten ist auch dieses Werk durchaus anregend, nicht nur, aber gerade auch für Systematiker. Denn S. rührt an einen beziehungsreichen wunden Punkt der christlichen Tradition, den man nicht gewissen Nichttheologen überlassen sollte, die auch existentiell unter ihm gelitten haben, wie z. B. der lutherisch erzogene F. Nietzsche mit seiner Kritik an der christ-lichen »Henkermetaphysik«. Und er konnte seine direkte und um­fassende systematische Erlösungslehre (s. o.) nicht mehr schreiben. Er ist mit nicht einmal 70 Jahren gestorben und hat vorher noch ein Buch, wieder eine Sammlung von Aufsätzen, veröffentlicht, das mit seiner Thematik zum Teil wohl mit in eine solche gehören würde: »Erbsünde im Heilsdrama. Im Kontext von Evolution, Gentechnologie und Apokalyptik« (11997, 22004, teilweise abgedruckt in Bd. 7, Herv. JCJ), und u. a. die gleichfalls schwierig gewordene (Erb- bzw. Ur-)Sündenproblematik nun in einen zusätzlichen interdisziplinären Horizont setzt, ohne diesen zu verabsolutieren und das Problem evolutionistisch und damit naturalistisch zu tilgen.
Im Blick auf die theologische Gewaltfrage sei in homiletischer und auch seelsorgerlicher Hinsicht nur noch daran erinnert, dass gemäß der bisherigen, damals schon erneuerten Predigtordnung, die 2018 durch eine neue ersetzt wird, in einem der sechs Jahre an Ostern über das Lied der Hanna (1Sam 2,1–10) zu predigen ist, in dem es V. 6 heißt: »Der Herr tötet und macht lebendig, führt in die ›Hölle‹ [= falsche Übersetzung Luthers] und wieder herauf«.