Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/2018

Spalte:

670–672

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Kraschl, Dominikus

Titel/Untertitel:

Indirekte Gotteserfahrung. Ihre Natur und Bedeutung für die theologische Erkenntnislehre.

Verlag:

Freiburg i. Br. u. a.: Verlag Herder 2017. 236 S. = Quaestiones disputatae, 282. Kart. EUR 30,00. ISBN 978-3-451-02282-1.

Rezensent:

Hermann Deuser

Von Richard Swinburne ist anekdotisch überliefert, dass er seine wahrscheinlichkeitstheoretischen Argumente für die Existenz Gottes mit den Worten »If there is a God …« einzuleiten pflegte. Ein ambivalenter Satz, denn er kann einerseits so verstanden werden, dass nüchtern experimentierend die Denkmöglichkeiten der Gott-Rede analytisch untersucht werden – und dann ist ›Gott‹ auf hintergründige Weise schon vorausgesetzt; andererseits kann sich in dem »Falls« eine philosophische Skepsis verbergen, die dem religiösen Glauben fremd und unangemessen erscheinen muss – und dann bleiben die folgenden Argumente abstrakt gegenüber der Wirklichkeit und Erfahrung, der sie doch dienen sollen.
Dominikus Kraschls Studie »Indirekte Gotteserfahrung« präsentiert auf dem Hintergrund der analytischen Religionsphilosophie und Theologie des 20. Jh.s einen subtilen Vorschlag, das genannte Dilemma zu vermeiden, ohne darüber hinwegzugehen, d. h. er bestimmt den christlichen Gottesbegriff als »unbedingt vertrauenswürdige Wirklichkeit« (69 ff.), verlangt aber zugleich die Bestätigung der damit angesprochenen Erfahrungen durch vernünftige Rechtfertigungen, epistemische Überprüfungen (vgl. 31. 121), um im Kontext der wissenschaftlichen Moderne den (christlichen) Glauben aus dem Nischendasein des Fideismus oder eines supranaturalen Offenbarungsverständnisses zu befreien. Was die (protestantische) »dialektische Theologie« und die (katholische) »Neuscholastik« je auf ihre Weise ausschließen mussten (49 f.): Die genauere und zeitgemäße Bestimmung dessen, was nicht anders denn als Glaubenserfahrung bezeichnet werden konnte, zugleich aber einer erkenntnistheoretischen, kritischen Einstufung (Erfahrungsbegriff!) nicht greifbar erschien, das wurde seit den 1970er Jahren mit Entschiedenheit zum Thema gemacht; an­ders gesagt, (christlicher) Glaube und Theologie müssen sich um ihrer selbst willen wissenschaftstheoretischen, auch »kognitivistischen« und »propositionalen« (70), Kritikanforderungen stellen können – und darin besteht das Programm K.s, das sehr kenntnisreich und mit schulmäßiger, argumentativer Klarheit durchgeführt wird.
Die drei Kapitel der Studie entwerfen zunächst einen detaillierten Überblick zur bisherigen Diskussion um den Erfahrungsbegriff (Kapitel 1), ausgehend von den Klassikern der analytischen Religionsphilosophie (z. B. A. Flew) und immer fundamentaltheologisch zugespitzt auf die möglichen Kriterien für den universalen Anspruch des religiösen Glaubens, für den auch »gute Vernunftgründe« sprechen müssen (vgl. 30 [mit F. v. Kutschera]). Dazu ist generell zu unterscheiden zwischen direkten (religiös-unmittelbaren), indirekten (urteilsvermittelten) und Erschließungserfahrungen (34 f.), und diese wiederum können nach gegenständlich/ungegenständlich, intra-/extramental, aktiv/passiv etc. differenziert (36 ff.) und an den Beispielen der »Konzepte« von K. Rahner, W. Alston und J. Hick durchgespielt werden (vgl. 66 f.). – Mit dem 2. Kapitel legt K. ein eigenes »Modell der Gotteserfahrung« vor, das bewusst als »christliches« in historischer Konkretion auf das Netz der verschiedenen (epistemischen) Kriterien anwendbar gemacht werden soll. Das kann gelingen, wenn die »unbedingt vertrauenswürdige Wirklichkeit« zugleich in ihrem »Gehalt« und »Geschehen« (der Offenbarung) in Jesus Christus ausgelegt wird, also einer exemplarischen »indirekten Gotteserfahrung« (81). Wie diese Zugänglichkeit im Sinne des Modells aber gedacht werden soll, die »Zugewandtheit Gottes im Logos« (ebd.), bedarf nun eines Brückenbegriffs, der das sichtbar Menschliche mit dem nicht-sichtbar Göttlichen vermittelt. K. wählt dazu, unter Berufung u. a. auf K. Rahner und P. Tillich, das »Realsymbol« in der Funktion der vermittelnden Vergegenwärtigung dessen, was anders nicht greifbar und nur so darstellbar sein kann (87). Das semiotische Problem, das sich hier verbirgt, die fragliche Unterscheidung zwischen bloß formalem Zeichen und religiös-ontologisch verstandenem Symbol, wird allerdings nicht weiter diskutiert. Stattdessen bewährt sich das Modell in der Aufschlüsselung der denkbaren und notwendigen Erfahrungsformen, in denen »Gottes Zugewandtheit« in typischen »Manifestationen« – und deren Überprüfbarkeit – gesucht werden soll (93 ff.).
Wann sind bestimmte »Lebenszeugnisse« als »Manifestationen« von »Gottes unbedingter Zugewandtheit« zu deuten, zu beurteilen, bewusst erkannt, vorpropositional wahrgenommen, hintergrundabhängig erschlossen, von Dispositionen abhängig etc. Hinzu kommt, dass religiöse Erfahrungen dieser Art in »unserer Kultur« heute nicht mehr ohne Weiteres verstanden werden, die Selbstverständlichkeit des theistischen Weltbildes droht zu verschwinden (95) und muss in der Praxis über kirchlichen Unterricht, in der Theorie durch Vergleiche mit Erschließungs- und Werterfahrungen (98 ff.108 ff.) erst wieder hergestellt werden. Das gilt ganz besonders für die weitere Komplikation, dass die Symbolisierung von Gottes Zuwendung in Jesus Christus theologisch sachgemäß als »Selbstsymbolisierung« zu verstehen ist (103 ff.), d. h. Christologie und Trinitätslehre sind als Prämissen im Spiel, was sich wiederum »semiotisch« dreigliedrig als »Sich-Selbst-Mitteilender«, »Selbst-Mitteilung« (des »inkarnierten Logos«), »Symbol-Interpret« (105) darstellen lässt: ein »christlich inspiriertes Modell« (120) erkenntniskritisch in »indirekten« Erfahrungsformen (vgl. die Ta­belle am Ende von Kapitel 2). – Was aber spricht dafür, dass gerade so den umstrittenen und entscheidenden »Wahrheits- und Überzeugungsbedingungen« (124) Genüge getan wird?
Kapitel 3 will deshalb den »vernünftigen Glauben« (124) wiederum an erkenntnistheoretischen Mustern und Kriterien überprüfen. Als weitere Distinktionen werden eingeführt: Externalismus/ Internalismus des Erkennens: ob die wahre Erkenntnis besser durch (objektive) Verfahren oder durch (subjektive) bewusste, kognitive Gründe sichergestellt werden kann (129). Die Basic-belief-Theorien (vgl. A. Plantinga, 132 f.) werden einbezogen, ebenso die Vertrauenswürdigkeit von Bezeugungen (geeigneter Mani-festationen) und das Gewicht der »vorpropositionalen« Erkenntnis, alles gebündelt in der Frage, wie die universale Gültigkeit trotz aller Skepsis bzgl. der epistemischen Maßstäbe plausibel werden kann.
In der Aufnahme von K. Rahners Konzept des »anonymen Glaubens« und W. Pannenbergs theologischer Anthropologie des »Grundvertrauens« (142 f.) wird eine Verankerung versucht, die den theologischen Anforderungen der Allgemeinheit möglicher Gotteszuwendungen entsprechen kann. Die Tradition der Gottesbeweise klingt an (vgl. zu R. Swinburne, 159.193 f.202), d. h. die (kosmologischen, teleologischen) Verursachungen personaler/a-per-sonaler Art (203), und die weitere Argumentation reicht von der Beachtung der Rahmenbedingungen aufgrund unterschiedlicher »Weltanschauungen« (167) bis zum Paradigmenbegriff der Wissenschaftstheorie, der auch ein metaphysisches Paradigma zulässig erscheinen lässt (168 ff.). Allgemeine Rationalitätskriterien gelten jedenfalls für alle Beteiligten in vergleichbarer Weise; dass aber das christliche Modell schließlich Erklärungs- und Erkenntnisvorteile genießt, »integrativ« sein kann (190 f.), stützt sich zuletzt auf die Theorie der »Abduktion« (C. S. Peirce, 191) in ihrer zugleich formalen wie ontologischen Anwendung (vgl. 191 ff. [erläutert mit T. Bartelborth]). Der abduktive Schluss formalisiert (bei Peirce) die Hypothesenbildung als spontane, instinktive, plötzliche Entdeckung im Schließen von einem regelhaften Zusammenhang und einem be­stimmten Befund auf den neuen Fall in seiner einfachsten Erklärung. D. h. die eigentliche integrative Leistung der Abduktion be­steht nicht nur darin, in verschiedenen Kontexten brauchbar zu sein (202.210), sondern der entscheidende Fortschritt liegt in der Auszeichnung und der Entdeckung von Neuem, also einer (evolutionär-prozesshaften) Kreativität, die semiotisch gesehen in jedem Zeichenereignis zur Wirkung kommt, ohne dass die zugehörigen Interpretationen (Peirce: Interpretanten) deren Fülle jemals ausschöpfen können. In der lebenspraktischen Bearbeitung dieser Vorgaben bestünde dann das formale wie ontologisch-religiöse Recht der »indirekten Gotteserfahrung«. Wäre nicht diese Wendung der theologisch-epistemischen Frage die Auflösung des genannten Swinburne-Dilemmas?