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Ausgabe:

Juni/2018

Spalte:

663–666

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Klaer, Ingo

Titel/Untertitel:

Mensch sein, Mensch werden, Mensch bleiben. Aufsätze und Vorträge. Aus d. Nachlass hrsg. v. H.-W. Pietz.

Verlag:

Görlitz: Verlag Gunter Oettel 2017. 276 S. Geb. EUR 24,00. ISBN 978-3-944560-41-0.

Rezensent:

Wolf Krötke

Ingo Klaer (1937–2016) war ein Theologe aus der DDR, der keinen Wert darauf gelegt hat, auf der Bühne öffentlicher Präsentation von Theologie in Erscheinung zu treten. Er hat zu seinen Lebzeiten nur ganz wenig veröffentlicht. Als Dozent für Systematische Theologie zunächst am Berliner »Sprachenkonvikt« (1969–1973) und dann am »Katechetischen Oberseminar« in Naumburg/Saale (1973–1993) hat er sich – von wenigen Ausnahmen abgesehen – damit begnügt, mit seinen Forschungsleistungen und seinem Scharfsinn Studierende für das Pfarramt zu befähigen. Als die »Kirchliche Hochschule« Naumburg/Saale 1993 geschlossen wurde, nahm er bis zu seiner Pensionierung ein Pfarramt wahr. Danach hat er systematische Vorlesungen in Münster und Osnabrück, in die seine Naumburger Vorlesungen eingeflossen sind, gehalten und in meist unveröffentlichten Vorträgen Herausforderungen der christlichen Gemeinde und ihres Glaubens und Lebens in unserer Zeit reflektiert.
Im Gedenken an ihn hat Hans-Wilhelm-Pietz aus Anlass von K.s 80. Geburtstag 24 Aufsätze und Vorträge von ihm aus den Jahren 1986 bis 2009 zusammengestellt und herausgegeben. Sie sind es aufgrund der außerordentlichen Gelehrsamkeit und Denkkraft ihres Verfassers wert, als gewissermaßen verborgene Theologiegeschichte in der DDR erinnert zu werden.
Auf der einen Seite fallen diese Aufsätze und Vorträge durch eine große Eigenständigkeit ihres Verfassers auf. Sie lassen sich keinem theologischen Mainstream zuordnen, der die theologische Landschaft der neueren Zeit in Bewegung gehalten hat. Sie schreiten durch diese Landschaft souverän hindurch. Ihre Gesprächspartner sind die Kirchenväter, die Scholastiker, die Reformatoren ebenso selbstverständlich wie Theologen, Philosophen und Naturwissenschaftler aus dem 17. bis ins 21. Jh. – darunter viele, deren Namen heute kaum noch bekannt sind. Sie fangen jedoch durchaus mit Unterstützung von alledem immer noch einmal da von vorne an, wo der christliche Glaube seinen Wurzelgrund hat: bei der Bibel »als Zeugnis der Kommunikation zwischen Gott und den Menschen«, wie einer der hier veröffentlichten Vorträge überschrieben ist (vgl. 80–97).
Die besondere Leidenschaft K.s war es dabei, die Worte präzise – philologisch und theologisch – ernst zu nehmen, in denen dieses Zeugnis begegnet. Gerade deswegen atmen seine exegetisch fundierten Studien die Leidenschaft des Entdeckens. Die letzte Ringvorlesung an der »Kirchlichen Hochschule« Naumburg/Saale aus dem Jahre 1993 weist das unter anderem aus. Sie ist unter dem Titel »Mensch sein, Mensch werden, Mensch bleiben« (25–35) mit Recht zur Überschrift über den ganzen Band gewählt worden. Denn sie bringt ein grundlegendes Anliegen K.s zur Geltung: Menschsein bedeutet im Glauben an Gott, Menschwerden »im Aufbruch aus dem Festgelegten« zu leben und Mensch bleiben in diesem Aufbruch (31). In Jesu Wort, dass wir werden sollen »wie die Kinder« (Mt 18,3), das zur Rede des johanneischen Jesus vom Wiedergeboren- und Neugeborenwerden in Beziehung gesetzt wird (Joh 3,3.6), findet das christliche Menschenverständnis seinen eigentlichen Ausdruck.
Weitere Aufsätze und Vorträge K.s über »Einige Grundzüge theologischer Anthropologie« (13–24), über »Weltgehalt und Weltoffenheit im Glauben an Gott den Schöpfer« (36–42) und »Gottes Schöpfung als Ermöglichung geschöpflicher Kreativität« (43–55) ordnen sich dieser Einsicht zu. Sie arbeiten am biblischen Verständnis der Schöpfung und des Menschen in verschiedenen Zuspitzungen heraus, dass Gott Menschen als seinen Geschöpfen Anteil an seiner »Kreativität« gibt. Sie wird als »Konkreativität« verstanden (54), welche sich aber im Glauben an den Schöpfer der Grenzen der Möglichkeiten irdischen Menschseins bewusst ist. Hier werden K.s biblische Besinnungen auch sehr zeitbezogen, indem sie sich kritisch mit dem Bestreben absoluter Verwirklichungen des individuellen und gesellschaftlichen Lebens sowie menschlicher Verfügung über die Natur einstmals und heute auseinandersetzen.
Eine Studie zur biblischen Anthropologie, welche dem »Sinn der Gottebenbildlichkeit des Menschen im Kontext der Priesterschrift« nachspürt (56–79), verdient besondere Beachtung. In ihr destruiert K. Deutungen der Gottebenbildlichkeit in Vergangenheit und Gegenwart, indem er nach dem Handeln Gottes fragt, wie es die Priesterschrift darstellt. Diesem Handeln, das sich Ziele setzt und sie ausführt und beurteilt, sind die Möglichkeiten von Gottes menschlichen Geschöpfen als seinen Ebenbildern »ähnlich«. Sie befähigen Menschen, in eigener Freiheit Verantwortung bei der Bewahrung der Schöpfung zu übernehmen und zum »Dienst für Gottes Gegenwärtigwerden« bereit zu sein. Im »Weltdienst und im Gottesdienst« wird die Gottebenbildlichkeit gelebt (78).
Dass solche Verantwortung im Glauben an Gott nur im Horizont der Ewigkeit Gottes Grund und Sinn hat, schärfen K.s Besinnungen auf das Verständnis der Zeit ein (vgl. z. B. 98–112: »Leben in der Freiheit des Geistes. Vom differenzierten Verhalten zur Zu­kunft«; 121–133: »Leben in der Zeit. Zum Sinn der Zeit in theologischer Sicht«). Seine nachdenklichen Überlegungen zum Altwerden von Menschen (vgl. 184–204) stimmen damit zusammen. Niemand wird wirklich »alt« (senex) und damit abgeschrieben in einer Sackgasse der Erschöpfung des Lebens. Alle werden nur älter (seniores, Komparativ!) und hören nicht auf, an der Verantwortung teilzunehmen, zu der Gott seine Ebenbilder frei macht.
Das ist möglich, weil Christenmenschen in der Hoffnung leben, »verwandelt« zu werden (1Kor 15,51). Der eschatologische Horizont war für K. ein unhintergehbares movens des Lebens im Glauben an den in Jesus Christus begegnenden Schöpfergott (vgl. »Verwandlung – ein Aspekt paulinischer Anthropologie und Ethik«, 205–211). Er hat das nicht nur als Beweggrund für das Leben von einzelnen Menschen verstanden. Die »Kultivierung der Zeit« (223–231) durch den christlichen Glauben bedeutete für ihn, alle Zeit in den Horizont des Ewigkeit Gottes zu stellen,
Eine besondere Rolle hat dabei für K. die Musik gespielt. Er hatte vor der Theologie schon Musik studiert. Er hat selbst komponiert und mit eigenem Musizieren auch seiner Theologie Ausdruck verschafft. Denn das Zusammenstimmen der Musik mit dem Wesen des biblischen Glaubens, der uns über alle Grenzen des Irdischen hinwegführt und sie uns als Öffnungen für Gottes Ewigkeit verstehen lehrt, lag ihm am Herzen.
Darum ist es gut, dass K.s Leidenschaft für die Musik im Einklang mit seinem theologisch-biblischen Eros am Ende dieses Bandes in sechs Beiträgen, die mit einem Aufsatz über »Protestantismus und Musikkultur« beginnen (232–243), erkennbar gemacht wird. Diese Beiträge sind einerseits gelehrte Abhandlungen über die Wandlungen des Verständnisses der Musik im Raum der Kirche. Andererseits zielen sie darauf, das Singen, welches schon in der Musikalität der Sprache angelegt ist (vgl. »Sprache und Musik. Hören – Sprechen – Singen«, 256–261), als unentbehrlich für die Seelsorge und für die Verkündigung unserer Kirche eindrücklich zu machen (vgl. 262–272).
Man kann sich nicht ganz sicher sein, ob die posthume Veröffentlichung der »Vorträge und Aufsätze« von K. wirklich im Sinne dieses Theologen war, der die Theologie als aktuelles und nicht als zu archivierendes Teilnehmen an der Freiheit verstand, zu der Christus uns befreit (Gal 5,1). Seine Predigten hat er verbrannt. Eine erhalten gebliebene Predigt über Jer 17,14 wurde an den Schluss dieses Bandes gestellt; sicherlich um zu belegen, worauf K.s Theologie letztlich zielte.
Nichtsdestotrotz macht jeder einzelne dieser »Vorträge und Aufsätze«, die man nicht liest, ohne belehrt zu sein, Lust, mehr vom Forschen und Denken dieses Theologen in der DDR-Zeit zu erfahren. Er hat in seiner bescheidenen Weise, die sich seiner immensen Bildung verdankte, dazu beigetragen, der Freiheit der Theologie unter diktatorischen politischen Verhältnissen eine Bresche zu schlagen.