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Ausgabe:

Juni/2018

Spalte:

659–663

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Stoellger, Philipp, u. Jens Wolff [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Bild und Tod. Grundfragen der Bildanthropologie. 2 Bde.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2016. XX, 1013 S. = Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie, 68. Kart. EUR 169,00. ISBN 978-3-16-154233-6.

Rezensent:

Linus Hauser

Die beiden umfangreichen Bände werden im Folgenden in zwei
thematisch passenden Blöcken vorgestellt. Ich zitiere im Folgenden nach der fortlaufenden Seitennummerierung und verzichte auf die Angabe der Bandzahl und beginne zunächst mit den schwerpunktmäßig begrifflich orientierten Abhandlungen. Aus der Fülle der eher Einzelthemen gewidmeten Aufsätze kann ich nur einige exemplarische Beiträge thematisieren.
Es ist wohltuend festzustellen, dass die verschiedenen, eher systematischen Beiträge begriffliche Anregungen geben, die sich für den Leser eigenständig nahezu zu einem Gesamtbild zusammensetzen lassen. Auf diese Weise sind sie mehr als nur die Summe ihrer Teile und aus diesem Grunde setze ich Philipp Stoellgers Einleitung in dieser Rezension in einen Zusammenhang mit den Aufsätzen von Andrea de Santis (»Die Fassung des Vergehenden. Zur Verflechtung von Bild und Tod«), Bernhard Waldenfels (»Zeitverschiebung und Bildverschiebung – Ungleichzeitigkeit des Lebens«), Christiane Voss (»Zum Verhältnis von ästhetischer Lebendigkeit und Sterblichkeit«), Georg W. Bertram (»Spuren von Spuren. Über Leben und Tod im ästhetischen Bild«) und Florian Bruckmann (»Und nichts dahinter. Zur Bildhaftigkeit des Seins und dem Schleier des Todes«).
Andrea de Santis setzt mit dem Hinweis ein, dass man das menschliche Leben als eine »sich in Raum und Zeit erschließende Weite, die den latenten Anschein des Unendlichen hat und doch sehr bald durch den Stich der Vergänglichkeit ihre Grenzen zeigt« (535), charakterisieren könne. So ereignet sich menschliches Leben in der Spannung von »Grenze des Todes« und sich immer wieder in Selbstgestaltung weiterbildender »Form des Lebens« (536). Das auf das Bleiben ausgerichtete Bild stellt dabei einen Widerspruch gegen das Vergehen dar. Zugleich ist aber, weil alles Lebende dauernder Wandel ist, das Bild etwas, was das Leben nicht fassen kann und in gewisser Weise sogar als Festhaltendes »Tod des Lebenden« (537) ist. So ergibt sich eine dialektische Situation, dass das »Bild ist, weil es das Urbild nicht ist, und das Urbild ist, gerade weil es das Bild nicht ist« (538).
In vergleichbarer Weise schreibt Georg W. Bertram im An­schluss an Derrida, dass das bildhafte Sehen sich in besonderer Weise auf »Spuren von Spuren« (589) bezieht, in denen sich das Materiale (jeder Pinsel- oder Federstrich usw.) und das »Semantische« verbinden. Ob dann den Spuren von Spuren nachgegangen wird oder nicht, entscheidet über den möglichen »Tod von Bildern« bzw. das »Gelingen der ästhetischen Verlebendigung« (594).
Bernhard Waldenfels unterscheidet (550–552) im Hinblick auf die schon oben angesprochene Zeitlichkeit, in der Menschen ihr Leben führen, die Lineare Zeit des abstrakten Nacheinander, die Zentrische Zeit, die als unsere Gegenwart mitkonstituierender, »mitwandernder Zeithorizont« von Vergangenheit und Zukunft zu begreifen ist und die Diastatische Zeit, die unsere Fähigkeit, die eigene Zeit zu bewahren und zu übergreifen, betrifft. Die eigene Geburt und der eigene Tod sperren sich diesem letzteren Zugriff. Denkt man hier radikal, »so rückt der Tod im Bild auf zum Emblem einer generellen Abwesenheit, die sich als Tod des Bildes in das Bildgeschehen eingräbt« (561).
Christiane Voss reflektiert in analoger Weise unsere Todesbild-erfahrungen im Zusammenhang des Todes und Lebens von Bildern, denen sie eine »ästhetische Lebendigkeit« (567), d. h. eine Wirkmächtigkeit zuspricht. Eine »ästhetische() Entität« kann »kognitiv-affektive Bewegungen« auslösen, die sich zu einem »ästhetischen Lebendigkeitseindruck verdichten« (567). Ästhetische Entitäten, die keine Wirkung haben, kann man entsprechend wiederum als »tote Artefakte« (572) bezeichnen. Im Gegensatz zum menschlichen Leben ist ein totes Artefakt etwas, was plötzlich entdeckt und wirkmächtig werden kann. Diese zunächst trivial er-scheinende Feststellung führt die Autorin dann zu der überraschenden und wichtigen Folgerung: »Wenn mit dem Ästhetischen die Gradierbarkeit des Lebens und des Sterbens ins Spiel kommt und außerdem das Leben selbst ästhetische Facetten aufweist, in dem es am Ästhetischen affektiv partizipiert, wird […] plausibel, dass im Ästhetischen und nur dort die vielfältigen Dimensionen der Lebendigkeit und die der Sterblichkeit womöglich weniger transzendiert, als vielmehr für uns virtuell vermehrt werden« (580).
Philipp Stoellger (»Zur Einleitung: Spuren des Todes im Bild oder: vom Todbild zum Bildtod und zurück«) setzt, ausführlich und differenziert einleitend, mit der Betrachtung ein, dass der Tod auf der einen Seite »allgegenwärtig« (1) sei und dass diese Bilder doch andererseits »Ungegenstände« (1) betreffen. Personen und der Tod gehen nicht in Bildern auf. Für den Tod gilt, dass er der »Kollaps aller Erfahrungsfähigkeit« (12) ist. Daraus ergibt sich auch ein Thema von »Bildwirkungsforschung« (2). Weiterhin gibt es Arten, das Sterben sichtbar zu machen (etwa bei YouTube), die im schlimmsten Falle sogar zu einer Traumatisierung führen. Auf der anderen Seite kann der Tod aber auch ganz in den Bahnen der Unterhaltungsindustrie vorgeführt werden. Geschmacklosigkeit und Pietätlosigkeit sind daher auch gängige Möglichkeiten, mit dem Sterben und dem Tod umzugehen. Die Sichtbarkeit des Todes wird mit dem Bild dann adäquat thematisiert, wenn man dessen Grenzfunktion darstellt. »Der sichtbare Spalt, das Unübersehbare, wird signifikant als ikonischer ›Nullsignifikant‹. Ästhetisch an­scheinend uninteressant, kunsthistorisch irrelevant, wird bildwissenschaftlich bemerkenswert, dass im Spalt das Unzeigbare sich zeigt, ohne sich darin ›tatsächlich‹ zu zeigen. Realabsenz provoziert Imaginärpräsenz, oder anders: das Nichts zeigt sich nicht. Aber im Nichtzeigen kann man eine Spur des Unzeigbaren wahrnehmen – muss es aber nicht.« (7) – Im Bild wird der Tod nicht erfahrbar, Bilder vom Tode hingegen sind erfahrbar. Augenscheinlich ist aber das Bild nicht der »Tod des Todes«, den es zeigt, weil man zwar Tote, aber nicht den Tod sichtbar machen kann. Es gibt dann auch noch die entsprechend beunruhigende Parallele zur Gottesdarstellung und dessen Bilderlosigkeit. Florian Bruckmann fasst dies treffend in seinem Beitrag zusammen:
»Die Kunst quält sich mit dem Problem, etwas darstellen zu wollen und zu müssen, was in seiner eigentümlichen Paradoxalität von Anwesenheit und Abwesenheit so nicht darstellbar ist. Die Religion bemüht sich um den Umgang mit dem, der allen direkten Umgang meidet. In analoger Weise sind sowohl die Kunst als auch die Religion Systeme der Paradoxalitätsbewältigung, so dass sie seit Anbeginn der Menschheit in einem engen, unentflechtbaren Zusammenhang miteinander stehen. Will man Facetten dieser Beziehung untersuchen, dann kann man die eigene Sterblichkeit – und noch viel mehr den Tod des Anderen – als den unbegreiflichen Ausgangspunkt des religiösen Erlebens existenzieller Zeitunterworfenheit zum Ausgangspunkt der systematisch-reflektierenden Arbeit nehmen.« (700)
Aus alldem ergibt sich als Grundperspektive für die Beiträge der beiden Bände für Stoellger: der Blick richtet sich »auf die ikonische Energie ›des Todes‹ und die ikonische Energie der ›Bilder trotz allem‹, also auf den Agon von Bild und Tod, in dem Bilder stark wie der Tod erscheinen können oder der Tod immer noch stärker« (36).
Jan Assmann (»Bild und Tod im Alten Ägypten«) weist darauf hin, dass in Ägypten und in Israel ganz gegensätzliche Auffassungen hinsichtlich der Verwendung von Bildern für transzendente Wirklichkeiten bestanden. Im 23. Kapitel des Asclepius-Traktats findet sich ein »Lobpreis der Götterbilder und ihrer Schöpfer« (85). Kultbilder sind vom Gebrauch her Medien, deren Verehrung dafür sorgt, dass die himmlischen Götter irdisch wirksam werden.
Christoph Markschies formuliert den Titel seines Beitrags als Frage: Warum gibt es keine christlichen Mumienporträts? Oder: Bemerkungen zur Differenz von paganen und christlichen Bildern Verstorbener in der Antike. Mumienporträts werden römische Bilder genannt, die in Ägypten in der hohen Kaiserzeit auf die Gesichter von modifizierten Verstorbenen gelegt werden. Einige dieser Mumien wurden so beigesetzt, dass sie für die Angehörigen nicht mehr gefunden werden konnten. Die Porträts dürften für das Leben der paganen Angehörigen die Funktion gehabt haben, »den Tod im Bild als Leben umzuinterpretieren und umzugestalten« (119). Nach dem Siegeszug des antiken Christentums setzt sich diese Tradition nicht direkt fort. Es gibt jedoch eine Kontinuität im Hinblick auf die Ikonen. »Mumienporträts stellten Bilder von Lebenden in den Dienst eines toten Kultes; wenn Christus und bestimmte seiner Heiligen schon jetzt mit Leib und Seele im Himmel leben, dann ist ihre Darstellung auf Ikonen und ihre kultische Verehrung dem Umgang mit jenen ›lebenden Toten‹ vergleichbar.« (119)
Johannes Anselm Steiger arbeitet über »Fractio et transitus. Antimortale Ikonographie auf Grabmälern der Frühen Neuzeit«. Der Tod wird in der Frühen Neuzeit unter dem Gesichtspunkt der Vanitas-Vorstellung präsentiert. Man sieht den Verstorbenen in lebendigem Zustand und dann als Verwesenden bzw. als Skelett. Dabei haben die Toten oftmals eine fröhliche und geradezu lässige Körpersprache. Ausführlich interpretiert Steiger dann das Grabmal Sigmund von Birkens (1626–1681), der sein Grabmal mehr als zehn Jahre vor seinem Tod selbst entworfen hat, und von Maria Magdalena Langhans (1723–1751).
Iris Därmann beginnt ihren Artikel »Sterbende und mitsterbende Tiere. Oudry, Buffon, Roussau« mit dem Hinweis auf René Descartes’ Verständnis, dass Tiere empfindungslose Maschinen, »Automaten aus Fleisch und Blut« (Descartes-Zitat, 201) seien. (Eine andersartige Perspektive bringt Jeremy Bentheim mit der Frage ein, ob Tiere leiden können.) Anhand der »Tierseelenmalerei« von Jean-Baptiste Oudry, Georges-Louis Leclercs (Comte de Buffon) Tiergeschichten und Jean-Jacques Rousseaus Schriften, die die Automatentheorie konterkarieren, entwickelt die Autorin dann einen Zu­gang zum Leiden von Tieren und Menschen über das Mitleiden. Auch wenn es sicherlich eine andere Perspektive ist, so fällt es schwer, Rousseaus Bemerkungen über das Mitleid als »eine der Menschen umso universellere und umso nützlichere Tugend« (Rousseau- Zitat, 215) zu lesen, ohne an dessen eigene Kinder und ihr Schicksal zu denken.
Michael Meyer-Blanck weist in »Meer – Nacht – Schatten. Ro­mantische Ansichten« nach, wie in den Landschaftsbildern der deutschen Romantik der Tod seine eigentümliche und vielleicht nur in Abwesenheit aufscheinende Präsenz hat. Er stellt Gemälde von Carl Wilhelm Kolbe, Caspar David Friedrich und Ernst Ferdinand Oehme vor. Die romantischen Bilder dieser Art vermitteln etwas Ambivalentes. »Hinter der Fassade des wohl Geordneten verbirgt sich etwas Abgründiges. Aber auch des Gegensatzes andere Seite ist zu sehen: es gibt im Sinne der glaubenden Erfahrung auch den Grund des Abgrundes, der diesen entlarvt als eine Konvention der anderen Art und in anderer Weise verpflichtet. Insofern ist das Subversive der Spiritualität darin zu sehen, dass sie die Regression als eine untergründige Progression umcodiert« (231).
Eindrucksvoll arbeitet Monika Leisch-Kiesl in »No se puede mirar/Man kann es nicht ansehen. ›Bild und Tod‹ in den Desastres de la Guerra« von Francisco Goya heraus, wie die Erlebnistönung von Goyas Werken zustande kommt. Unter gelungenem Rückgriff auf Didi-Hubermann, Lacan und Bataille versucht sie eine Theorie des »Halb-vorstellig-Machens«, des semi dire (Lacan) für die Interpretation fruchtbar zu machen. Ihr Fazit: »Die eindringliche Darstellung des Grauens in Kombination mit Goyas Kommentar bringen etwas auf den Punkt, was ›Bilder des Todes‹ in einer ganz tiefen Weise auszeichnet: Die Konfrontation mit dem Tod und die Weigerung ihn sehen zu wollen oder zu korrigieren im selben Augenblick.« (259)
Verena Straub präsentiert mit »Lebende Tote? Die (Selbst)-Inszenierungen der palästinensischen Selbstmordattentäterinnen« zu­nächst das verstörende Bild von Rîm Riyãšî, die sich 2004 an einem Checkpoint im Gaza-Streifen in die Luft sprengte, dabei auch vier israelische Soldaten ermordete und so zur ersten Märtyrerin der Hamas-Terroristen wurde. Sie lässt sich abbilden mit einem Gewehr in der rechten Hand und ihrer dreijährigen Tochter auf dem linken Arm. Die Tochter hält eine Granate. Zu den Inschriften gehört der mittlerweile auch schaurige Bedeutung besitzende Ruf »allâhu akbar«. Das Verstörende an dem Bild ist die Kontrastharmonie von Sterbensankündigung und dem jungen Leben der Tochter. Die Au­torin fragt nach der Bedeutung dieser Bilder als Märtyrerikonen im Allgemeinen und danach, inwiefern sich die islamistischen Märtyrerdarstellungen von Frauen von denen der Männer unterscheiden. Es präsentiert der Terrorismus hier das Bild eines lebenden Toten, des Todes in individueller Person. Die »Existenz des Bildes allein macht sie zur ›lebenden Toten‹, deren Tat nun unausweichlich ist« (423).
Dirk Westerkamp stellt in »Das gelotheologische Bilderverbot« die Frage, warum man in der »nahezu unendlichen Pinakothek der Kunstgeschichte fast vergeblich nach einem Bild des lachenden Christus sucht« (794). Die frühchristlichen Theologen sind geprägt durch die Assoziation des Lachens mit dem Lächerlichen, durch das sich ein Mensch bloßstellt und gewöhnlich macht. Das Lachen gehört nicht zur substantia des Menschen. Er skizziert die Stationen von Origenes’ Auseinandersetzung mit Kelsos, der Rehabilitierung des milden Lächelns durch Clemens von Alexandrien und der gnostischen Trennung von Jesus Christus in einen leidensfreien Christus und einen gekreuzigten Stellvertreter. In den Nag Hammadi-Textfunden findet sich ein aus dem Anfang des 3. Jh.s stammender Text »Der zweite Logos des großen Seth« gemäß dem der leidensfreie Christus Simon von Cyrene gezwungen hat, sein Kreuz für ihn zu tragen, und der dann irrtümlich auch gekreuzigt wurde. Irenäus von Lyon referiert: »Jesus selbst hatte die Gestalt Simons angenommen, stand dabei und machte sich über sie lustig […] Konnte er sich beliebig verwandeln und ist so zudem aufgefahren, der ihn gesandt hatte, und lachte dabei über sie […] da man ihn nicht festhalten konnte und er für alle unsichtbar« war (Irenäus-Zitat, 801). Für Westerkamp ergibt sich aus derartigen Traditionssträngen somit: Die »Identifikation des lachenden Christus, der seiner eigenen Kreuzigung entkommt, um über den Tod und seine Peiniger zu triumphieren, droht jede mitleidstheologisch orientierte Christologie zu vereiteln. So konnte wohl im Unterschied zum leidenden das Bild des lachenden Christus keine ikonographische Wirklichkeit werden, weil er hier so wenig litt, wie er dort lachte. Das Bild des lachenden Christus vermag kein Leid, das Bild des leidenden kein Lachen zu zeigen« (803 f.).
Die beiden Bände bieten außerordentlich anregende systematische Reflexionen und eine Vielzahl von Konkretionen auf hohem Niveau, die sie auf sehr lange Zeit zu einem Standardwerk werden lassen. Hervorzuheben ist die gelungene Auswahl von »traditionellen« und äußerst aktuellen Themenstellungen.