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Ausgabe:

Juni/2018

Spalte:

657–659

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Petersen, Jens

Titel/Untertitel:

Schopenhauers Gerechtigkeitsvorstellung.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2016. XII, 148 S. Geb. EUR 49,95. ISBN 978-3-11-048939-2.

Rezensent:

Andreas Pawlas

Schon immer wird in der Sozialethik der Frage nach der Gerechtigkeit nachdrückliche Aufmerksamkeit gewidmet, weshalb die hier kurz zu skizzierende, aus rechtsphilosophischer Sicht kommende Studie als Bereicherung der gegenwärtigen Diskussion gewürdigt werden darf. Der Autor zeichnet in ihr hochkonzentriert die Ge­rechtigkeitsvorstellung Schopenhauers, dieses »für Europa mitzählenden Geist[es]« (126), nach und stellt sie etwa der Gedankenwelt Kants, Carl Schmitts oder Nietzsches gegenüber.
Im ersten der fünf Paragraphen seiner Studie geht Jens Petersen zunächst auf Schopenhauers methodischen Individualismus in dessen Werk »Die Welt als Wille und Vorstellung« (11) ein und verweist mit Anklängen an Hobbes auf den Kampf des Egoismus gegen die Tugend der Gerechtigkeit (15 ff.). Aus der Perspektive seiner individualistischen Weltdeutung, nach der alles außerhalb des Menschen nur in dessen Vorstellung existiere, ergebe sich für Schopenhauer konsequent die »Ungerechtigkeit der Welt« als »notwendige Bedingung und Prämisse seiner Willensmetaphysik« (19).
Der nächste Paragraph zeichnet einen »Paradigmenwechsel« Schopenhauers nach. Denn der mache nicht den vergleichsweise »abstrakten Begriff des Rechts« zum Ausgangspunkt seiner Be­trachtung, sondern das »konkreter feststellbare Unrecht«, womit gemeint sei, anderen den eigenen Willen aufzuzwingen (26 f.).
Zur Konkretisierung schaut Schopenhauer auf das Eigentum und Eigentumsdelikte und geht unabhängig von staatlichen Regelungen (38) davon aus, dass Eigentum nur durch Ver- oder Bearbeitung erworben werden könne, und jeglicher Eingriff darein letztlich Unrecht bedeute (30). Es erstaunt, dass P. hier nicht auf andere Formen des Eigentumserwerbs (z. B. Erbe, Geschenk) eingeht, ebenso wenig wie darauf, dass Schopenhauer dabei fälschlich die Gesetze des Menu als älteste Rechtsquellen ansieht (31 ff.). Andererseits staunt P. zu Recht darüber, dass »der Kirchenfeind und Agnostiker Schopenhauer« zur Stärkung seiner Auffassung zum Eigentum und in der Abweisung des Kommunismus einen erzbischöflichen Hirtenbrief heranzieht (34 f.). P. kritisiert weiter, dass unterlassene Hilfeleistung kein Unrecht sein solle (38). Wenn P. dazu nicht den Aspekt christlicher Nächstenliebe vertieft, so wäre doch schon eine Nachfrage nach dem für Schopenhauer bedeutsamen Begriff des Mitleids zu erwarten gewesen.
Wenn P. dann ferner herausstreicht, dass für Schopenhauer Recht »gleichbedeutend mit der Abwehr von Unrecht« sei (41), so steht das eigentlich gut in der reformatorischen Tradition. Berechtigt kritisiert P. aber dann Schopenhauers Jähzorn in eigenen Angelegenheiten, dem offenkundig der wichtige Aspekt der Verhältnismäßigkeit der Mittel fehle (44). Als entscheidend für das Denken Schopenhauers weiß P. dann aber zu betonen, dass bei ihm Ungerechtigkeit mit Unrecht gleichgesetzt würde (45). Das ermögliche rechtlich, das »neminem laede« zu erzwingen (46).
Damit kommt P. in seinem dritten Paragraphen zu Schopenhauers reiner Rechtslehre (47 ff.), in der er einen Naturzustand »ohne alles positive Gesetz« vor Augen habe, in dem lediglich das Gewissen als innere Instanz regiere (48), wobei es allerdings permanente Gefährdungen durch den allgegenwärtigen Egoismus und die menschliche Bosheit und Ungerechtigkeit gebe (49). Offen bleibt jedoch, was Schopenhauer dabei in seiner Distanz zu Gott und Kirche unter Gewissen (vox dei?) verstehen will.
P. zeichnet sodann sorgfältig nach, wie im methodischen Individualismus Schopenhauers nach Erkenntnis der Vernunft der zerstörerische Egoismus so zugerichtet werden könne, dass er durch Schaffung einer »das Gemeinwohl konstituierende[n] und vervollkommnende[n] Instanz«, also des Staates, »einen gemeinsamen Nutzen verwirklichen können will« (50), und registriert Anklänge an Adam Smith. Wenn damit auch Chancen zur Erreichung vollkommener Gerechtigkeit bestünden, so mache sich Schopenhauer keine Illusionen darüber, dass dieses Ziel durch die »abgrundtief niedrige Menschennatur« vereitelt würde, weshalb er erstaunlicherweise zur Hilfestellung »ein Wesen höherer Art, ein[en] Herrscher von Gottes Gnaden«, also einen Monarchen, fordere (53.64 f.). P. zeigt sich weiter über die im gleichen Abschnitt entfaltete Judendiskriminierung zu Recht entsetzt (53), geht allerdings auf die ebenfalls bei Schopenhauer zu findende Frauendiskriminierung nicht ein.
Nach einem Blick auf die Auseinandersetzung Carl Schmitts mit Schopenhauer (54 ff.) referiert P. in einem Abschnitt über Staatszweckbestimmungen, dass sich Schopenhauer zu Recht ge­gen die etwa von Kant oder Hegel getragene Anschauung vom Staat als einer »Anstalt zur Beförderung der Moralität« (63) und erst recht als »höchste(n) Zweck und die Blüthe des menschlichen Daseyns« wende (63 f.). Fruchtbar bleibe aber der in diesem Zusammenhang formulierte Gedanke Schopenhauers, dass der Staat nur dann »eine moralisch zulässige Anstalt« sei, wenn in dessen Gesetzgebung die Moral herrsche, wie sie Schopenhauer entwickelt habe. Anderenfalls sei die positive Gesetzgebung Begründung eines positiven Unrechts, was für P. durchaus berechtigt nach einer Vorwegnahme der berühmten Radbruchschen Formel klingt (71). Zusammenfassend würdigt P. Schopenhauers Rechtslehre als »geistesgeschichtlich größer« als ihr bisher zugebilligt wurde (76), so auch durch die weiter von Schopenhauer gezeigte Solidarität mit den Unrechtleidenden, Sklaven, durch globale Ökonomie oder technischen Fortschritt Verarmte oder Minderprivilegierte (78 ff.), allerdings nicht mit Juden und Frauen.
Im vorletzten Paragraphen widmet sich P. Schopenhauers Konzept der »Zeitlichen Gerechtigkeit« (85 ff.) und dessen etwas fragwürdigen Vorstellungen über den Strafvollzug als Vertragserfüllung (88), Wilderei, Generalprävention statt Spezialprävention (89), sowie dessen von P. bedauerte Befürwortung der Todesstrafe (90). P. erläutert Schopenhauers Ablehnung des Talionsprinzips (93) sowie dessen tatbezogene Strafrechtstheorie (94 ff.), um im nächsten Paragraphen auf Schopenhauers »enigmatische Lehre von der ewigen Gerechtigkeit« (97 ff.) einzugehen. P. hält diese Lehre für »schwer nachzuvollziehen, noch schwerer zu billigen« (99). So distanziert sich P. von der Auffassung, dass die Welt selbst das Weltgericht sei (99 f.), was verständ-licherweise denen, denen noch der »Schleier der Maja« vor Augen hänge, nicht erkennbar sei. Doch, so moniert P. zu Recht, passe diese Erklärung nicht zu Schopenhauers Vorstellung, wonach das Ding an sich – bzw. für ihn: der Wille – erkennbar sei (101 ff.).
Weiter hält P. die Überzeugung Schopenhauers, dass Täter und Opfer in Wahrheit im Blick auf den »einen Willen zum Leben« eins seien, für kaum akzeptabel (105 f.). P. vertieft sich sodann in die Frage der von Schopenhauer abgelehnten Willensfreiheit und das dann damit verbundene juristische Problem der Zurechnung (107 f.). P. referiert, wie nachdrücklich Nietzsche Schopenhauers Theorie der ewigen Gerechtigkeit als »Religion der Rache« (115 f.120 f.) demaskieren wollte, ohne dass P. hierzu die offenbar von Schopenhauer in seinem Blick auf den Hinduismus avisierten karmischen Zusammenhänge, bzw. im jüdisch-christlichen Kontext als »Tat-Ergehens-Zusammenhang« gefassten Dimensionen vertieft. Ge­gen Nietzsches entschiedenes Diktum »Es gibt keine ewige Gerechtigkeit« (124) sieht P. für Schopenhauer die eschatologische Dimension »zumindest ansatzweise, nämlich in den christlichen Spuren seiner von Nietzsche entschieden zurückgewiesenen Mitleids-Ethik eröffnet« (124). Er sieht damit in Schopenhauers Lehre von
der ewigen Gerechtigkeit »ein weithin sichtbares Denkmal einer überkommenen Gerechtigkeitsmetaphysik und zugleich ein Mahnmal der Beschäftigung auf dem schlecht bestellten Feld zwischen Rechtsphilosophie und Religionsphilosophie« (126).
Offenkundig lockt aber die vorgelegte Studie gerade im Zeitalter der Globalisierung und des interreligiösen Austausches, dieses Feld weiter zu beackern – hoffentlich weiter mit gutem Erfolg!