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Ausgabe:

Juni/2018

Spalte:

655–657

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Kemmerling, Andreas

Titel/Untertitel:

Glauben. Essay über einen Begriff.

Verlag:

Frankfurt a. M.: Vittorio Kostermann 2017. XXIV, 684 S. Lw. EUR 98,00. ISBN 978-3-465-03976-1.

Rezensent:

Hartmut von Sass

»Ungefähr wie ein Essay in der Folge seiner Abschnitte ein Ding von vielen Seiten nimmt, ohne es ganz zu erfassen, – denn ein ganz erfasstes Ding verliert mit einem Male seinen Umfang und schmilzt zu einem Begriff ein – glaubte er, Welt und eigenes Leben am richtigsten ansehen und behandeln zu können.« Der Mann ohne Eigenschaften bewahrt also seine Existenz davor, auf einen bloßen Begriff reduziert zu werden, indem er sie essayistisch umkreist; sie gerade nicht gänzlich zu erfassen, erscheint Musils Protagonisten in diesem Fall als dem Gegenstand am angemes-
sensten (Bd. I, 250). Ging es Ulrich um einen Essay zu Welt und eigenem Leben, widmet sich Andreas Kemmerling »versuchsweise« dem Begriff des Glaubens. Das konzeptuelle Einschmelzen muss folglich nicht befürchtet werden, aber das »Ding«, um das es K. geht, ist ebenso »von vielen Seiten« zu betrachten, ohne es ganz auf den Begriff zu bringen (XV). Auch auf fast 700 Seiten will dies nicht gelingen, so dass K. eher tentative Antworten in Aussicht stellt, statt das Buch »mit einem Male seinen Umfang« verlieren zu lassen, wenigstens etwas. Der vorliegende »Essay« weist daher keinesfalls auf eine kurze Form philosophischen Ausdrucks als vielmehr auf den Gestus permanenten Ausprobierens im Beantworten einiger Probleme, die sich um den Glaubensbegriff gruppieren (XVI). Dies jedenfalls kündigt das kokette Vorwort an, um gleich eine weitere Announce folgen zu lassen: Es handle sich, so der 1950 geborene und in Heidelberg lehrende K., um sein »erstes ›richtiges‹ Buch« – und es solle, so weiter, auch das einzige bleiben (IX). Bei aller Kritik – schade!
Dieses Buch besteht aus 21 Kapiteln unterschiedlicher Gewichtung, die nicht noch einmal eigens eingeteilt wären, aber zwei Grundthemen verhandeln: Die ersten Kapitel (bis zum zwölften) widmen sich dem Begriff des Glaubens, d. h. dessen Status und Zuschreibbarkeit sowie dessen Kriterien. In der zweiten Hälfte wendet sich K. höherstufigen epistemischen Einstellungen zu und damit der Frage, wie es um den Glauben über das (eigene und fremde) Glauben stehe, aber auch, inwiefern wir (unfehlbares) Wissen von diesem Glauben haben können. Eine Synopse zum Auftakt und ein Glossar gegen Ende erleichtern die Orientierung.
Das Nachdenken über den Glauben zählt K. zu den klassischen Fragen der Philosophie, wobei es nirgends um den religiösen Glauben geht, sondern um eine propositionale Einstellung, für die wir umgangssprachlich ganz unterschiedliche Terme verwenden: annehmen, darauf verlassen, der Meinung sein, erwarten, voraussetzen, vermuten, davon überzeugt sein, finden, dass p (55). Daher ist vom Begriff des Glaubens – äquivalent zu Freges ›Sinn‹ – die Rede, ohne eine Phänomenologie entsprechender Kontexte zu bieten oder sich um jenen Begriff historisch zu bemühen. K. ist vielmehr an begrifflichen Wahrheiten des ›Glaubens‹ interessiert, wobei offenbar vorausgesetzt wird, dass diese Wahrheiten diachron unwandelbar und synchron invariant blieben. Im Stil durch und durch technisch bleiben K.s Überlegungen weitgehend unberührt von einer analytischen Hermeneutik im Gefolge etwa von Davidson oder Brandom, die sich konkreten Anwendungskontexten und sozial geteilten und zugleich normativen Praktiken unserer tatsächlichen Sprache zuwenden, um überhaupt Sinnvolles über einen Begriff und seinen Kontext vortragen zu können. K. geht folglich weitreichende methodische commitments ein, die wohl
einfach als selbstverständlich angenommen werden, wie man sich lediglich im Kokon eines analytischen Positivismus aufhält; dessen, etwa (neo)pragmatistische, Kritik kommt dann auch nirgends zum Zuge. Noch einmal – schade!
Dabei stuft K. »Glauben« als einen Grundbegriff ein, d. h. als einen, der properly basic und folglich auf keine grundlegenderen Begriffe zurückgeführt werden könne (7). Zugleich jedoch sei der Begriff des Wissens für den des Glaubens »leitend«, denn: »Jedes Glauben sollte Wissen sein« (581). Diese Behauptung wäre schlicht falsch, wenn K. nicht durchgehend die Betrachtung auf das Glauben im propositionalen Sinn einschränken würde (62 f. u. ö.). Allerdings heißt es wenig später: »Liegt es also im Begriff des Glaubens, daß es propositional ist, oder propositionales Glauben involviert? Nach allem, was wir betrachtet haben, scheint es so.« (71) Der propositionale Fokus wird demnach selbst noch einmal begrifflich-analytisch begründet, aber das verdankt sich einer »Aspektblindheit« für fiduziale, personale und modale Formen des Glaubens; s. u. Selbstverständlich liegt es nicht im Begriff des Glaubens, nur propositional zu sein; und natürlich ist es nicht alternativlos, die fides auf das Glauben dass p derart zu verkürzen.
K. widmet sich anschließend kritisch unterschiedlichen Angeboten, den Status des Glaubens zu bestimmen: Glaube als … (funktionaler, repräsentationaler, relationaler oder intentionaler) Zu­stand, als Disposition des Geistes oder des Verhaltens, als propositionale Einstellung, als innerer und/oder geistiger Zustand. Zudem liefert er ein »Testkriterium für Glauben und Nicht-Glauben« (360), das die Zuschreibbarkeit für (Glaubens-)Überzeugungen darstellt, genannt »allgemeines Zuschreibungsprinzip für Über­zeugungen«, kurz AZP; es ist bewusst offen dafür, Glauben auch auf nicht-humane Kandidaten anzuwenden (351.668). Und schließlich widmet sich K. der Konturierung des Glaubens durch die Abgrenzung zu Nachbarbegriffen, insbesondere gegenüber dem Urteilen. Zwar sei dieses ein Akt, jenes ein Zustand, und doch bestehe ein grundlegender, wenn auch kein kausaler Zusammenhang zwischen Urteilen und Glauben (386.388), zumal das Urteil dass p impliziere, dass man glaube dass p (Up  Gp). Später wird noch eine weitere Differenz benannt, wenn es heißt: »Glauben ist, was es ist. Was Urteilen im Mund des Philosophen heißen soll, bleibt hingegen stets ›verhandelbar‹.« (558) Wie K. diesen Unterschied zwischen der Faktizität des ›Glaubens‹ und der Stipulation des ›Urteilens‹ begründet, bleibt allerdings offen, zumal das, was er als Glauben vorstellt, selbst eine Setzung ist.
Doch mit dem Urteilen, dass p sei zugleich ein Bewusstsein vom eigenen Glauben, dass p gestiftet, womit K. das zweite große Thema– höherstufige propositionale Einstellungen des Glaubens (zum Glauben) – erreicht (554). Zunächst geht es um das Glauben über das eigene Glauben – und die Frage, inwiefern man von einem Glauben dass p zu einem Glauben, dass man glaubt dass p, übergehen könne (Gp  GGp; 410). Dadurch steht nun nicht mehr die Proposition p, sondern derjenige, der sie vorbringt, im Mittelpunkt (416). Daraus, so K., ergeben sich nun weitere »doxastische Aufstiege«; etwa: Wer glaube, er habe die Überzeugung p, habe p auch; wenn jemand frage, ob x glaube dass p, frage dieser x auch, ob p (FGp  Fp); wenn y glaube, dass er glaube dass p, wisse y auch, dass er glaube dass p (431.498. 485). Der »Aufstieg« letzterer Art mündet in ein postcartes(ian)isches »Unfehlbarkeitsprinzip« der Form GGp  WGp (484 mit wichtigen Einschränkungen des Prinzips; vgl. ferner 450 f.). Da Glauben jedoch kein notwendig bewusstes Phänomen darstelle, sei es falsch zu behaupten: Wenn z sich bewusst sei, zu glauben dass p, glaube er auch, dass er glaube dass p (es gilt nicht: BGp  GGp) (442. 458.465). In analoger Form diskutiert K. auch das Wissen vom eigenen Glauben; denn zunächst scheint es so zu sein, dass wer glaube dass p, auch wisse dass er glaube dass p (536 f.). Doch es sei noch einmal zwischen Wissen dass … und Wissen ob … zu trennen und demnach zwischen Selbstkenntnis und Selbstwissen (538 f.). Die Erste-Person-Autorität (bzw. die »doxastische Selbstkenntnis«, 543) erstrecke sich lediglich auf die Kenntnis des Selbst, beinhalte jedoch kein glaubendes Selbstwissen (545).
K. fasst die Ergebnisse jener »metaphysische[n] Fragen nach dem Glauben« (566) wie folgt zusammen: Propositionales Glauben sei eine Eigenschaft oder ein Zustand (aber kein Bewusstseinszustand), die/der ein Begriffsvermögen und damit ein Minimum an Rationalität voraussetze; wesentlich sei ihm ein wahrheitswertfähiger Inhalt und die Verknüpfung mit anderen Eigenschaften und Dispositionen. »Kaum mehr als das hat sich über das Wesen des Glaubens ergeben«, so das etwas resignierende Urteil (566).
Bei aller Reserve – dieses Buch ist für seinen technischen Rigorismus zunächst zu würdigen; denn dieser führt zu zahlreichen Einsichten in konzeptuelle Zusammenhänge des Glaubens mit benachbarten Begriffen, obgleich K. von einem recht weiten Begriff des Glaubens ausgeht. Und es ist ein bemerkenswerter Zug, dem Glaubensbegriff gegen die epistemologischen Gepflogenheiten eine derartige Prominenz und Aufmerksamkeit zukommen zu lassen – und nicht, wie klassisch und spätestens explizit seit Gettier, dem Begriff des Wissens. Und innerhalb dieses Rahmens ließen sich Anfragen und weiterführende Hinweise durchaus platzieren, insbesondere mit Blick auf den semantischen Sinn, von Gp zu GGp übergehen zu können.
Doch das wären interne Kritiken, die sich längst auf die hier gewählte Herangehensweise eingelassen hätten – und genau jener exklusive Fokus auf begriffliche Wahrheiten und Beziehungen zwischen propositionalen Einstellungen könnte ja bereits ein, vielleicht gar das Problem darstellen. Wird der Glaube in das platonische Spektrum zwischen Meinen und Wissen eingezeichnet, kommt der Umstand, dass man jemandem glaubt und Glaube zuweilen ein inter-personales Verhältnis bildet, nicht in den Blick; und damit auch nirgends die sogenannten ›nonkognitivistischen‹ Begleitumstände des Glaubens, die sich keineswegs einfach als Ornamente quasi-positivistisch aussortieren ließen. Die begriffliche Nachbarschaft des Glaubens wird hier stets im Wissen und Urteilen gesucht, wodurch die Relationen zum Fühlen und Vertrauen, aber auch zum Denken und Handeln übergangen oder bestenfalls gestreift werden (etwa 362). Dass aber Glaube nicht nur mit Wissen, sondern manches Mal auch mit Gewissheit verbunden ist, muss wohl vernachlässigt werden, wenn man es, wie K. es tut, tunlichst vermeidet, irgendetwas zu einem Glauben zu sagen, der auf das religionsphilosophische Feld führte. Auch dass das »Glauben« grammatisch eben nicht nur als Nomen oder als Verb fungiert, sondern zudem adverbial bzw. modal zu verstehen ist – »et­was glaubend« oder »im Glauben tun« –, ist dann von keinerlei Interesse. An der »Wirklichkeit des Glaubens« sei er, so sagt K. wiederholt, interessiert gewesen. Dieser Wirklichkeit mag ein Sinn für das Mögliche – eben, Musils »Möglichkeitssinn« – vielleicht doch zuträglicher sein.