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Ausgabe:

Juni/2018

Spalte:

652–654

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Flasch, Kurt

Titel/Untertitel:

Hans Blumenberg. Philosoph in Deutschland: Die Jahre 1945 bis 1966.

Verlag:

Frankfurt a. M.: Verlag Vittorio Klostermann 2017. 620 S. Lw. EUR 98,00. ISBN 978-3-465-00017-4.

Rezensent:

Thomas Meyer

Nicht um »Biographie«, sondern um »Philosophie« gehe es ihm, so der 1930 geborene Bochumer Emeritus Kurt Flasch im Vorwort seiner Studie zu Hans Blumenbergs (1920–1996) Schriften aus den Jahren von 1946 bis 1966. Um das »meist gar nicht oder mit kalt-staunendem kurzen Blick« behandelte frühe Werk tatsächlich erschließen zu können, helfe nur »Neugierde und Archivarbeit«. Was also bekommt der Leser bei F. geboten?
Nach der knappen Schilderung einer persönlichen Begegnung, einem kursorischen Einblick in das Schicksal des in der Naziterminologie »jüdisch versippten« ehemaligen Priesteramtskandidaten Blumenberg werden, zumeist chronologisch, die Schriften durchgesprochen, dabei häufig ausführlich kontextualisiert. Auf eine den Grundton der Auseinandersetzung vorgebende Behandlung von »Das Recht des Scheins in den menschlichen Ordnungen bei Pascal« aus dem Jahr 1947 folgt die intensive Diskussion der beiden unpublizierten Qualifikationsarbeiten: der im gleichen Jahr in Kiel bei Ludwig Landgrebe abgeschlossenen Dissertation »Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie« und der 1950 ebenfalls in Kiel eingereichten Habilitation »Die ontologische Distanz. Eine Untersuchung über die Krisis der Phänomenologie Husserls«. Mit dem Jahr 1950 sieht F. »neue Themen« bei Blumenberg auftreten, die von der »Natur-Technik-Wahrheit«-Problematik bis hin zur »Religionsphilosophie« reichten. Ab 1960 stehen Blumenbergs Beiträge innerhalb der von ihm zu Beginn wesentlich geprägten Gruppe »Poetik und Hermeneutik«, vor allem aber das erste Hauptwerk »Legitimität der Neuzeit« (1966) im Mittelpunkt. Sehr knappe bibliographische Hinweise (in der eine im Buch ungenutzte Studie Ruth Grohs statt »Carl Schmitt« fälschlicherweise »Hans Blumenberg« im Titel zugeordnet wird), sowie zuverlässige Namen- und Sachregister beschließen den Band.
F. interessiert sich für den »ganzen« Blumenberg, versucht also etwa den Gelegenheitsjournalisten und an zeitgenössischer Literatur interessierten Essayisten ebenso zu würdigen wie den Wissenschaftshistoriker und in erster Linie natürlich den Philosophen,
den F. als »Historiker der Philosophie« begreift. Dazu geht F. auf das Quellenmaterial Blumenbergs zurück, prüft die begrifflichen und inhaltlichen Schwerpunktsetzungen sowie die gebotenen Deutungen. Natürlich kennt F. das gesamte von Blumenberg ausgebreitete Material, so dass auf den Leser eine Art fortlaufender Kommentar wartet. Dabei geht F. stets urteilsstark vor, lässt niemals einen Zweifel daran, was ihm zusagt, was er »befremdlich« findet, was er nicht versteht oder scharf ablehnt. Das schließt eindeutige Urteile über Gewährsmänner, Lehrer und andere ein, die in irgendeiner Weise zu den mal von Blumenberg, mal von F. eröffneten Diskussionszusammenhängen gehören.
Blumenberg ist auch für seine eigensinnige Behandlung der deutschen Sprache bekannt. Auch F. hat im Laufe seiner 60-jährigen Publikationslaufbahn ein besonderes Verhältnis zur Sprache ausgebildet, daher soll kurz auf den Stil eingegangen werden. Für die Studie zu Blumenberg gilt, was F. in seinem Buch zu Dante (2011) schrieb: er benutze ein »gegenwärtiges Deutsch« und darunter »verstehe ich mein Deutsch, das Deutsch der Prosa von Kurt Flasch.« Diese Prosa ist um Anschaulichkeit bemüht, hat gelegentlich den Charakter der freien Rede, wiederholt gerne, um den Leser an wichtige Punkte zu erinnern, fließt beeindruckend gleichförmig dahin, ohne je an Spannung einzubüßen. Die Wissenschaftsprosa dagegen ist objektiv-wertend, wie beispielhaft an einer resümierenden Passage zur Dissertation Blumenbergs deutlich werden soll: »Die erste Philosophie Blumenbergs bestand aus einer distanzierten Analyse der Geschichte der Metaphysik zwischen Aristoteles und Duns Scotus, finalisiert auf das Gegenwartsbewußtsein der unmittelbaren Nachkriegszeit und dazu bestimmt, in dem Konflikt zwischen Heidegger und Husserl zu einer argumentativ gestützten Entscheidung zu kommen. Diese fiel in der Dissertation mit schonungsloser Eindeutigkeit gegen Husserl aus.« (150) Zweifelsohne überwiegt die Wissenschaftsprosa in dem Buch, gleichwohl unterbricht sich F. immer wieder, man mag hier an einen bestimmten Vorlesungsstil denken, um ausführlich zu parlieren.
Wesentlich für die philosophische Entwicklung Blumenbergs ist anschließend dessen Habilitation, in der F. »drei Ziele« vorrangig verfolgt sieht: ein Plädoyer für die »Aufnahme der Geschichte in das Konzept von Sein«, die Situierung des »Leitbegriffs der ›ontologischen Distanz‹« in die »philosophische Gegenwart von 1948/49« und schließlich eine Steigerung der Husserl-Kritik (191).
Legt man ein entwicklungsgeschichtliches Schema an, dann wird man aus der Studie den Schluss ziehen können, dass Blumenberg nach und nach aus einer in den Debatten der Zeit, erwähnt seien hier nur die Stichworte »Säkularisierung« und »Nihilismus«, verstricktes und dabei ein heideggerianisches Krisen- und Verfallsvokabular übernehmendes Verständnis von mittelalterlicher Philosophiegeschichte hatte. Es war sodann die intensive Beschäftigung mit Nikolaus Cusanus (1957), die Blumenberg einerseits ein freieres Bild von Mittelalter und früher Neuzeit vermittelte, die andererseits jedoch die Suche nach bestimmten geistigen Kräften und Einheitsvorstellungen verstärkte. Die Begriffe »Nominalismus« und »Epoche« waren dann die Ergebnisse dieser Suche und zugleich standen sie in Spannung mit Blumenbergs Ziel, eine gänzlich neue Geschichte der »Legitimität der Neuzeit« erzählen zu wollen. Aus Sicht F.s war die Spannung fatal, da die neuformierten Begriffe Blumenberg zwar einiges an frühbundesrepublikanischem Denkballast abwerfen halfen, zugleich das Vorhaben aber geradezu auf Teleologie einschränkten. In all der »breiten Themenstreuung«, die jedoch nicht in einem »wahllosen Vielerlei« (588) endete, spielt von Beginn an der Begriff der »Wirklichkeit« eine zentrale Rolle, den Blumenberg bei allen Änderungen und Verwerfungen seines Analysebestecks gleichermaßen im Blick hatte. F., der mit guten Gründen immer wieder vor allem auf eigene Arbeiten zurückgreift, um Kontrastfolien zu Blumenbergs Analysen anzubieten, verdichtet am Ende seines Buches seine abweichende Sicht des Mittelalters, indem er unkommentiert die Geburtsdaten von Dante, Petrarca und Boccaccio anführt – will sagen: Mit ihnen ist eine andere Geschichte der »Legitimität der Neuzeit« denkbar.
Man wird F. nicht den Respekt versagen wollen, in sehr hohem Alter einem Zeitgenossen und Kollegen derart intensiv nachgespürt zu haben. Mit diesem Werk hat die ambitionierte Blumenberg-Forschung einen schweren und oftmals beeindruckenden Stein zu wälzen. Allerdings muss auch ein Wort zu den teilweise maßlosen, teilweise leeren Attacken F.s an dieser Stelle fallen. Zwei Beispiele sollen genügen: So gibt es etwa längst ein breites Wissen und dazu Forschungsvorhaben zu den perversen Umtrieben Erich Seebergs gegen Raymond Klibansky im Zusammenhang mit der Meister Eckhart-Ausgabe seit 1933; den (Re-)Emigranten Eric Voegelin in die Nähe des halbgeläuterten Nationalsozialisten Theodor Maunz zu rücken, ist schamlos; die Quelle dahinter hingegen leicht zu erraten.
Es ist zudem erstaunlich, wie selektiv F. die Forschung wahrnimmt. Warum fehlt ein genaueres Eingehen auf Jürgen Goldsteins Analysen von 1998, die er als »Nominalismus und Moderne. Zur Konstitution neuzeitlicher Subjektivität bei Hans Blumenberg und Wilhelm von Ockham« vorlegte?
Vor allem aber: Warum gibt es kein einziges Wort zu Philipp
Stoellgers zwei Jahre später vorgelegter Studie, die nicht nur zum »frühen« Blumenberg weiterhin die maßgebliche Arbeit ist? Stoellgers »Metapher und Lebenswelt. Hans Blumenbergs Metaphorologie als Lebenswelthermeneutik und ihr religionsphänomenologischer Horizont« zeichnet unter anderem einen gegenüber Heidegger wesentlich freieren, an einer komplexen Geschichtsphilosophie interessierten, dabei weitaus differenzierteren Blumenberg nach, dessen »Kind seiner Zeit«-Bewusstsein zugleich höher entwickelt war, als es sein Kritiker wahrhaben möchte. Und das aus guten, alles in allem bei F. viel zu kurz kommenden Gründen.