Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/2018

Spalte:

650–652

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Decher, Friedhelm

Titel/Untertitel:

Handbuch der Philosophie des Geistes.

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2015. 302 S. Geb. EUR 79,95. ISBN 978-3-534-26741-5.

Rezensent:

Reinhard Hiltscher

Das Handbuch beginnt seine Darstellungen (7–72) an den Wurzeln der Geschichte des Geistbegriffes in der antiken Welt. Ausgehend von der religiösen Auffassung der alten Ägypter sowie Homers ›Leib-Seele-Mythen‹ zeigt Friedhelm Decher schließlich bei den Vorsokratikern auf, wie sich hier eine rudimentäre philosophisch-rationale Diskussion des Leib-Seele Problems entwickeln konnte. Zwei relativ kurze Abschnitte zu Platon und Aristoteles schließen sich an, welche primär die Lehre(n) von den Seelenteilen bei Platon und Aristoteles strapazieren. Die Emanationslehre Plotins (58–64), gemäß der Nous und Psyche Emanationsprodukte des HEN seien – und hierdurch zugleich die intelligible obere Welt repräsentierten, wird aufgerufen. Augustins Seelenmodell (64–72) wird als vestigium trinitatis gedeutet, insofern der menschliche Geist nach Augustinus als imago dei aufzufassen sei. Schließlich bespricht D. noch die Seelenlehren von Thomas und dem Cusaner (72–88).
Wie üblich wird die cartesische Distinktion zwischen res ex-tensa und res cogitans »bedient« und zudem deren systematische Schwierigkeiten benannt (89–101). Spinozas Degradierung der »cartesischen Substanzen« res cogitans und res extensa zu bloßen Grundmodi der Substanz (101–108) – der beide Substanzen koordinierende ›Deus ex machina‹ des Occasionalismus (108 ff.) – sowie Leibnizens Lehre von den miteinander prästabilierten, aber dennoch fensterlosen Monaden werden als Lösungsversuche des cartesischen Problems angerissen (108–117).
La Mettrie (126–134) fasse als materialistischer Monist in hobbes’scher und spinozistischer Tradition den Menschen als eine einheitliche, »sich selbst aufziehende« Entität auf (129). Nahrung, Klima und andere kausale Umstände wirkten unmittelbar auf das Denken des Menschen und dessen Moralität ein (130). La Mettrie bestreite eine Autarkie der Seele dem Leib gegenüber, was allerdings auch zur anticartesischen Einsicht führe, Tiere besäßen Seelen und seien keineswegs schlichte Automaten. Helvetius (124–140) träfe in diesen Zusammenhängen eine erhellende Unterscheidung zwischen Geist und Seele. Besäßen doch sowohl Erwachsene als auch Kinder gleichermaßen Seele – hingegen werde der Geist (wo-runter Helvetius das Vermögen der Ideen verstehe) im Erwachsenenalter erst richtig funktionstüchtig. Unfälle z. B. könnten den Verlust des Geistes bewirken, ohne jedoch hierdurch die Seele zum Austritt aus dem Körper zu veranlassen (136 f.). Dies bedeute aber nicht etwa, dass Helvetius in der Seele das Empfindungsvermögen lokalisiere und den Geist hingegen als autark in seinen Leistungen auffasse. Vielmehr sei es die Meinung Helvetius’ gewesen, dass das Material, bezogen auf das der Geist ausschließlich tätig werden könne, vollständig der Empfindung entstamme (138). Auch Diderot (140–145) halte an der Doktrin des Materialismus fest, geistige Prozesse seien an Körperfunktionen gebunden und von diesen ab­hängig (143). Wie könne es aber ein identisches Ich geben, wenn doch Bewusstsein eine Art Confunktion natural-materialer Organe sein solle? Diderot deute eine Antwort auf Basis der Funktionsweisen des Gedächtnisses an (145). Holbachs (146–155) materialis-tische Theorie des Denkens lege nun in diesen Kontexten Denken als »Wahrnehmung jener Modifikationen unseres Gehirns aus, die dieses durch äußere Gegenstände erfahre« (154). Durch das »Denken s elbst gegebene Gegenstände stellten demzufolge die Wahrnehmung einer Art ›Selbstaffektion‹ des Gehirns dar« (155)
Auch die »exzentrische Positionalität« des Menschen (nach Plessner), Schelers Lehre von ›Macht und Ohnmacht des Geistes‹ sowie das ›Gehlensche Mängelwesen‹ werden dem Leser nahegebracht (197–217).
Russels (218–223) »neutraler Monismus« lege der Wirklichkeit eine Realität zugrunde, die weder Materie noch Geist sei. So wie sich das Licht weder nur als Korpuskel noch nur als Welle verstehen lasse, wir also zum Verständnis beider komplementären, aber nicht zu vereinheitlichenden Bilder bedürften, seien Geist und Mate-
rie »Aspekte« jener zugrundeliegenden »neutralen Wirklichkeit«. Whiteheads Kosmologie (224–228) beinhalte die Grundüberzeugung, dass jede aktuale Entität eine bipolare Struktur in Form eines physischen und mentalen Momentes besitze. Der physische Pol erfasse die anderen aktualen Entitäten. Der mentale Pol erfasse Möglichkeiten und Strebeziele, welche die aktuale Entität zu verwirklichen strebe. Im Sinne des Popperschen 3-Weltenmodell (229–234) stelle Welt 1 qua veränderbare Welt der Naturdinge den Gegenstand der Einzelwissenschaften und Technik dar, Welt 2 sei der Erlebnisraum des Ichbewusstseins, Welt 3 die Welt der Kultur, welche eine Objektivität sui generis besitze und in den anderen Welten wirksam werden könne. Diese Sicht lege Eccles seiner Lehre von den »Psychonen« zugrunde, welche letzteren seiner Ansicht nach als elementare geistige Einheiten auf das physikalische Neuronalsystem wirken könnten (232 ff.).
Searles Gleichnis vom chinesischen Zimmer darf in diesen Zu­sammenhängen natürlich nicht fehlen (249 f.): Ein der chinesischen Sprache Unkundiger finde, eingesperrt in einen Raum, un­verständliche chinesische Zeichen vor, bekomme allerdings eine chinesische Grammatik und Syntaxlehre, jedoch kein Wörterbuch zur Verfügung gestellt. Die fiktive Person wäre zwar nach Studium der Grammatik und Syntaxlehre auch ohne Kenntnis der Bedeutung der chinesischen Zeichen in der Lage, diese Zeichen grammatisch und syntaktisch korrekt zu kombinieren, könnte dabei aber dennoch den semantischen Sinn dieser Verbindung niemals erfassen. Auch der menschliche Geist sei demzufolge nicht als bloßes Regelsystem biologischer Funktionen zu verstehen, sondern besitze eine genuine semantische Dimension. Das Bewusstsein der »ersten Person« sei also nicht direkt durch die Hirnaktivität zu erklären, sondern stelle ein genuines Phänomen der wirklichen Welt dar (253 f.). So besitze es qua »Stellung in der realen Welt« Kausalität, etwa wenn der Durst die Trinkhandlung verursache (254). Das biologische Gesamtsystem des Hirns erzeuge kausal das Be­wusstsein, nicht jedoch könne ein einzelner neuronaler Vorgang mit dem Bewusstsein korrelativ eindeutig identifiziert werden.
Das Handbuch stellt ein empfehlenswertes Lesebuch dar, das die einschlägigen Theorien gut zugänglich zusammenstellt. Besonders die Abschnitte zum klassischen Materialismus sind instruktiv. Vorsicht ist allerdings betreffs der Ausführungen zur Naturalisierung des Geistes (234–244) und zur klassischen deutschen Philosophie geboten (158–195), die, weil etwas zu holzschnittartig geraten, bisweilen Irrtümer produzieren. Fichtes ›Formel‹ A=A hat m. E. nicht den Sinn (wie D. meint) die Identität des Gegenstandes als ersten Akt der Erkenntnis kenntlich zu machen (163), sondern Fichte hat die Irreversibilität der Geltungsprätention im Blick. Kants Lehre von »unbewussten Vorstellungen« hat ihren Kern in der Auffassung, die denkunabhängigen sinnlichen Vorstellungen seien nur kraft der synthetischen Formung durch den Verstand überhaupt bewusst, und darf deshalb nicht abschließend von der ›Anthropologie‹ aus bewertet werden (162). Hegels System wird einseitig von der Realphilosophie aus gedeutet, so dass nicht in den Blick kommt, dass die Lehrstücke vom »absoluten Anfang« und von der »absoluten Idee« in der »Logik« die Basis des Systems sind (z. B. 173 f.)