Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/2018

Spalte:

648–650

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Wendebourg, Dorothea, Stegmann, Andreas, u. Martin Ohst[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Protestantismus, Antijudaismus, Antisemitismus. Konvergenzen und Konfrontationen in ihren Kontexten.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2017. X, 556 S. Kart. EUR 89,00. ISBN 978-3-16-155102-4.

Rezensent:

Konrad Hammann

Beim Reformationsjubiläum 2017 nahm Luthers Antijudaismus im öffentlichen Gedenken eine hervorgehobene Rolle ein. Manche Autoren – zumal die halbgebildeten – sowie etliche politisch eilfertige Kirchenleitungen und Synoden erweckten gar den Eindruck, als hätten Luthers Stellungnahmen zu den Juden eine zentrale Bedeutung in seinem reformatorischen Werk eingenommen und eine bis in das 20. Jh. reichende unselige Wirkung erzeugt. Der vorliegende Band verzichtet darauf, die einschlägigen Voten Luthers erneut zu vergegenwärtigen und zu analysieren. Statt dessen be­mühen sich die Beiträge zu dieser gehaltvollen Bestandsaufnahme der Forschung darum, das Verhältnis des reformatorischen Chris-tentums und seiner neuzeitlichen Gestalten zu den Juden einer differenzierten Betrachtung zu unterziehen. Dabei kommt der Frage, ob der Protestantismus »zum Umschlagen des aus der Antike und dem Mittelalter ererbten Antijudaismus in eliminatorischen Antisemitismus beigetragen« habe (V), eine besondere Be­deutung zu. Der Band, der eine 2015 in Berlin gehaltene Tagung dokumentiert, nimmt diese Problemstellung unter drei thematischen Perspektiven in den Blick.
Das erste Segment behandelt »Luthers Zeitgenossen und die Juden«. Die Reformatoren übernahmen von der spätmittelalterlichen Kirche als unauflösliches Dilemma die Einstellung, dass die Juden als unfreiwillige Zeugen der christlichen Wahrheit ge­schützt werden sollten und zugleich als Häretiker verfolgt wurden (Hans-Martin Kirn). Dieses Erbe machten im 16. Jh. auf altgläubiger Seite unabhängig voneinander der Jurist Marquardt de Susannis und der Theologe Johannes Eck zum Gegenstand handbuchartiger Anweisungen zum Umgang mit den Juden (Manfred Schulze). Unter den Humanisten ergriff immerhin der Hebraist Johannes Reuchlin Partei für die Rechte von Juden. Jedoch galten ihm und anderen Humanisten jüdische Konvertiten als moralisch insuffizient. Erasmus von Rotterdam nahm antijüdische Ressentiments weniger in seinen Publikationen als vielmehr in seinen Briefen auf (Thomas Kaufmann). Martin Bucer, einer der einflussreichsten Reformatoren, betonte zwar die Einheit von Altem und Neuem Bund, befürwortete aber ein rigides Vorgehen der (für die rechte Gottesverehrung zuständigen) weltlichen Obrigkeit gegen die Juden (Christoph Strohm). Auch Johannes Calvin nahm eine ambivalente Stellung gegenüber dem Judentum ein, wertete er doch das alttestamentliche Israel überaus positiv, während er die Juden nach dem Kommen Christi nurmehr als Feinde der Wahrheit ansah (Daniele Garrone). Der mittelalterliche Antijudaismus wirkte mithin im 16. Jh. konfessionsunabhängig fort. In der Kirche von England verband sich der reformatorische Umbau ebenfalls mit antijüdischen Momenten, denen freilich später Richard Hooker in seiner Auseinandersetzung mit dem Puritanismus entgegenwirkte (Ashley Null).
Das zweite Segment »Protestantismus und Judentum vom späten 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert« ist das umfangreichste des ganzen Bandes. Die oft sträflich vernachlässigte Frage nach der Bekanntheit der Judenschriften Luthers im 19. und 20. Jh. bearbeitet Dorothea Wendebourg methodisch überzeugend. Seine einschlägigen Schriften lagen wohl in unterschiedlichen Ausgaben und Formen vor, jedoch kam es erst während des Dritten Reiches zu einer tatsächlichen, von den Nationalsozialisten gesteuerten Re­zeption der judenfeindlichen Aussagen Luthers. Albrecht Beutel weist auf die Ambivalenzen im Verhältnis der deutschen Aufklärung zum Judentum hin, auf die verhaltene Resonanz der Berliner Haskala unter den deutschen Aufklärern und die antisemitischen Äußerungen Lichtenbergs ebenso wie auf Christian Wilhelm Dohms Eintreten für die Judenemanzipation und Moses Mendelssohns Interpretation des Aufklärungsbegriffes. Anhand der zwischen Friedrich Rühs und Jakob Friedrich Fries 1815/16 geführten Debatte über die Emanzipation der Juden macht Simon Gerber auf die Bedeutung des aufkommenden deutschen Nationalismus für das Thema aufmerksam.
Das partielle Umschlagen des traditionellen christlichen Antijudaismus in einen rassischen Antisemitismus und partiell zugleich den Kampf gegen Letzteren verfolgen durch das 19. Jh. Martin Friedrich an der Auseinandersetzung Franz Delitzschs mit August Rohling, Andreas Stegmann am Berliner Antisemitismusstreit 1879/80, Martin Ohst an einem Vergleich der antisemitischen Vorstellungen Adolf Stoeckers und Reinhold Seebergs, Notger Slenczka am völkischen Antisemitismus Paul de Lagardes sowie Christian Nottmeier an der von Adolf Harnack, Martin Rade und Friedrich Naumann vertretenen liberalen Minderheitenposition einer Ablehnung von Antisemitismus und ethnisch-rassischer Diskriminierung der Juden. In unterschiedlicher Intensität verschrieben sich, wie Arnulf von Scheliha zeigt, Paul Althaus und Emanuel Hirsch einem handfesten Antijudaismus, wobei Hirsch – anders als Althaus – nach 1933 vollends dem rassischen Antisemitismus verfiel. Im Anschluss an lange übersehene Forschungen Uriel Tals macht Johannes Wallmann auf die Disparatheit des deutschen Judentums vor 1933 aufmerksam, wie sie im Spiegel der von verschiedenen lutherischen Theologen und Vertretern des Zionismus geteilten merkwürdigen Annahme einer Verwandtschaft zwischen dem Nationalsozialismus und dem Judentum exemplarisch deutlich wurde. Die im zweiten Abschnitt des Bandes behandelten Themen vermitteln einen guten Eindruck von der seit dem ausgehenden 18. Jh. im deutschen Protestantismus anzutreffenden Vielfalt an Positionen gegenüber dem Judentum.
Das dritte Segment besteht aus Beiträgen zum Antisemitismus in Ländern, in denen Protestanten eine Minderheit bildeten, und zum Verhältnis des skandinavischen und nordamerikanischen Luthertums zu den Juden. In Frankreich wurde infolge der Ausbildung eines politischen Antisemitismus im 19. Jh. das Judentum erst im 20. Jh. als Teil der Nation betrachtet (Pierre Birnbaum). Der durch viele verschiedene ethnische, politische und religiöse Konstellationen bestimmte Antisemitismus Österreichs entfaltete eine erhebliche Wirkung vor allem in katholischen Milieus (Astrid Schweighofer). In Russland weitete sich der traditionelle religiöse Antijudaismus nach den polnischen Teilungen, unterstützt durch die massive zaristische Diskriminierungspolitik und eine radikale antijüdische Publizistik, im 19. Jh. stark aus (Tobias Grill). Im skandinavischen Luthertum kam es unbeschadet einiger Sonderentwicklungen einerseits zu Ausprägungen eines religiösen Antijudaismus, andererseits traten die nordischen lutherischen Kirchen während des Zweiten Weltkriegs für die verfolgten Juden ein, was Martin Schwarz Lausten für Dänemark, Vidar L. Haanes für Norwegen sowie Risto Saarinen für Schweden und Finnland belegen. Wie die Diskriminierung und Verfolgung der Juden im Dritten Reich durch das zeitgenössische nordamerikanische Luthertum aufgenommen wurde, lässt sich dagegen derzeit aufgrund fehlender Untersuchungen nicht genau sagen (Franklin Sherman).
Der Band bietet ein vielschichtiges Bild. Ein Einfluss von Luthers Judenschriften auf den eliminatorischen rassischen Antisemitismus des späten 19. und 20. Jh.s ist auszuschließen. Der religiös motivierte Antijudaismus war seit dem 16. Jh. in allen christlichen Konfessionen anzutreffen. Ob und inwieweit der rassische Antisemitismus während des Dritten Reiches faktisch an traditionelle Ressentiments des religiösen Antijudaismus anknüpfte, wäre wohl noch zu untersuchen.