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Ausgabe:

Januar/2000

Spalte:

36–39

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Schenk-Ziegler, Alois

Titel/Untertitel:

Correctio fraterna im Neuen Testament. Die "brüderliche Zurechtweisung" in biblischen, frühjüdischen und hellenistischen Schriften.

Verlag:

Würzburg: Echter 1997. XII, 492 S. gr.8 = Forschung zur Bibel, 84. Kart. DM 56,-. ISBN 3-429-01979-6.

Rezensent:

Wolfgang Schrage

Die sehr umfangreiche, informative und methodisch sauber erarbeitete Studie ist eine Tübinger Dissertation, die der Frage nachgeht, wie das Neue Testament und seine Tradition und Umwelt die gegenseitige Zurechtweisung (= Z.) versteht und praktiziert.

Die sehr detaillierte Untersuchung des religionsgeschichtlichen Befundes (13-263) kann hier nur auszugsweise durch einige Kapitelüberschriften und Ergebnisse angedeutet werden. Der Vf. beginnt den dem AT gewidmeten Teil A (13-124) mit Untersuchungen der Wortfelder in MT und LXX für "tadelndes und zurechtweisendes Schelten", "korrektive Unterweisung, Erziehung, Zucht und Zurechtweisung" u. ä., wobei jkh und jsr schon wegen ihrer Häufigkeit besonders bedeutsam sind. Nach den wenigen Prophetenstellen (20-32) mit forensischer Akzentuierung in Kritik an Missständen im Gerichtswesen (Am 5,10; Jes 29,21; vgl. aber auch Jer 29,27; Ez 3,26) wird S. 33-59 ausführlich auf den für die Wirkungsgeschichte im Frühjudentum und Neuen Testament besonders bedeutsamen Beleg Lev 19,17 in Priesterschrift und Heiligkeitsgesetz eingegangen ("Die brüderliche Zurechtweisung als Ausdruck der Heiligkeit", 33). Zusammen mit V. 18 zielt die Paränese hier "auf einen gerechten, gewaltlosen, korrektiven und solidarisch verantworteten Umgang in einem Volk von Brüdern und einer heiligen Gemeinde und will nicht nur bestimmte eingegrenzte Bereiche erfassen (z. B. das Verhalten vor Gericht), sondern alle Lebensbereiche einbeziehen", wobei durch die Allgemeinheit der Formulierung die Mahnung zur Zurechtweisung offen ist für neue Aktualisierungen und Konkretisierungen (59).

Der Vf. behandelt dann die Z. als pädagogische Aufgabe in den Weisheitsbüchern (60-114), wo sie als "ein Mittel elterlicher und weisheitlicher Erziehung und Bildung" erscheint (114), zunächst S. 60-83 im Buch der Sprüche. Diskutiert werden u. a. die Verortung (Schulbetrieb, Volkssprichwörter in Familie und Stamm) und Vermittlung (durch Eltern und Weise), die positiven (Lebens- und Weisheitsgewinn) und negativen Reaktionen (Ablehnung durch den Toren) auf die Z., wobei ihr z. B. größere Wirkung zugeschrieben wird als körperlicher Züchtigung (Spr 17,10), offene Z. als besser gilt als verborgene Liebe (Spr 27,5). Auf den Seiten 84-94 wird das Thema in der Krise des Tun-Ergehens-Zusammenhangs im weisheitlichen Streitgespräch des Hiob erörtert: Hier dominiert die Z. in Form von Beschuldigungen, Vorwürfen und Anklagen im Verhältnis von Hiob zu seinen Freunden, deren Z. Hiob kritisiert (vgl. 6,25 f.), die er aber auch selbst zurechtweist (13,6). Auch Koh (95-98) relativiert die korrektive Rede des Weisen (7,5-7). Die in Sir (99-113) häufig thematisierte Z. (im griech. Text meist paideia und paideuein) knüpft an die Spr an (in 31,31 auch an hellenistisches Gedankengut). 19,13-17 ist sogar eine eigenständige Abhandlung des Themas; sie zielt auf Verhaltensänderung und soll angesichts unbeabsichtigter Verfehlung verständnisvoll erfolgen. In 20,1 ff. erfährt sie eine negative wie positive Bewertung; auch der rechte Zeitpunkt (20,1; 31,31) und die Voraussetzungen der Z. (11,7; 20,29) werden reflektiert. Die Erzähltexte (115-122) endlich bieten nur wenige Belege (Gen 21,25; 1Sam 3,13; Ruth 2,16).

Teil B. (125-198) gilt der Z. im frühjüdischen Schrifttum, zunächst in den Qumrantexten (126-158), wobei die Gemeindeordnungen den Schwerpunkt bilden. Die dabei zu beobachtende Orientierung an der Tora zeigt schon der aktualisierende Rückgriff auf Lev 19,17 f. (CD 7,2; 9,6-8 u. ö.). Hervorgehoben wird, dass Z. in Wahrheit, Demut und Liebe, nicht in Zorn und Groll erfolgen soll, und zwar am selben Tag (1QS 5,24-26 u. ö.), zudem in Gegenseitigkeit und Brüderlichkeit (CD 20,17f. u.ö.), doch gibt es nach 1QS 9,16 f. auch eine spezielle Funktion des innergemeindlichen Unterweisers (mskjl). Z. ist zugleich die Voraussetzung für ein juridisches Verfahren, das vor Zeugen stattzufinden hat (CD 9,2 f.; 1QS 6,1) und in dem auch der Aufseher (Mebaqqer) eine Rolle spielt (CD 9,18 f.), die Gemeindeversammlung aber die entscheidende Instanz bildet (1QS 3,6; 6,1; CD 20,4); dabei kann es zum Ausschluss (vgl. 1QS 3,6), aber bei Umkehr auch zur Wiederaufnahme kommen (vgl. CD 20,4 f.). Die aktualisierende Konkretion in 1QpHab 5,10 und 4Q 477 lässt dabei nicht nur einen theoretischen Anspruch, sondern auch dessen gemeindliche Praxis erkennen.

In den mit den atl. Weisheitsbüchern, aber auch mit der hellenistischen Popularphilosophie vertrauten Paränesen der TestXII (159-175) ist die Z. (elegcho, nutheteo, paideuo u. a.) "Ausdruck der Gottes- und Nächstenliebe", wobei in TestGad 6,3-7, wenngleich ohne explizite Zitierung, wiederum ein Rückgriff auf Lev 19,17 f. zu beobachten ist. Die versucherische Ägypterin (TestJos 6.6.8 f.), der Gottesleugner (TestBenj 4,5) oder der sündige Bruder (TestGad 6,2) sollen durch Z. "in Frieden und ohne Haß und List" zur Einsicht in ihr Fehlverhalten und zur Umkehr gebracht werden, was bei positiver Reaktion Vergebung zur Folge hat (TestGad 6,3ff.). Wenn der Zurechtgewiesene seine Schuld bestreitet, soll man nach TestGad 6,4.6 nicht rechthaberisch auf einen Sieg über ihn aus sein, wobei davon ausgegangen wird, dass der Betreffende dennoch sein Verhalten ändert; auch die Gefahr eigener Schuld des Zurechtweisenden gerät in den Blick. Zwar werden auch die Grenzen der Z. sichtbar (einem hartnäckigen Sünder soll freilich nach 6,7 trotzdem vergeben und Gott die Vergeltung überlassen werden), doch wird im allgemeinen mit einer positiven Wirkung gerechnet, wobei im Unterschied zu Qumran die Mahnungen auf den einzelnen und nicht auf die Gemeinde zugeschnitten sind. Nach der Behandlung von Arist 207 (176-183), wo "Z. in Milde als königliche Tugend" gegenüber Schuldiggewordenen empfohlen und mit dem Herrscherideal, der Goldenen Regel und der Nachahmung Gottes begründet wird, wendet sich der Vf. zu Texten der Rabbinen (184-196), die sehr verschiedene Positionen überliefern: Aufforderung zur Liebe der Z. und Zusagen für Zurechtweisende (bTam 62a) u. a., vor allem aber die Auslegung von Lev 19,17, wo neue Gesichtspunkte auftauchen, die durch Fragen der Praktikabilität bedingt sind (Unterlassung der Z. zur Vermeidung von Beschämung, Gegenseitigkeit und vor allem die Grenzen der Z.).

Exemplarisch für eine Vielzahl hellenistischer Autoren und Werke wird dann in Teil C (199-263) die Z. in den Moralia Plutarchs vorgestellt, wo die Z. ein häufig traktiertes Thema und ein gängiges Mittel philosophischer Rede und Seelenführung mit einem anspruchsvollen Ethos bildet, "das zur sittlichen Besserung des Individuums in seinen vielfältigen Lebensbezügen beitragen soll" (263). Erwähnenswert sind das breite Spektrum der Lexeme, die Bedeutung von Philosophie, Freundschaft und Familie, der pädagogische Schulbetrieb, Reflexionen über Gefahren und Chancen, Anlass und Zeit der Z., ihre Abhebung von der Schmeichelei, die Anreicherung durch Zitate und Anekdoten u. a. Nach dem ntl. Teil werden dann in einem Exkurs "Plutarch und die Bibel" (423-432) Gemeinsamkeiten (Nähe zum weisheitlichen Ethos, Brüderlichkeit; Wahrnehmung eigener Fehler; Abkehr von Schuld und Umkehr als Ziel u. a.) und Differenzen (Fortschritt des Einzelnen in der Tugend durch Vernunft vs. Gemeinschaftsbezug und Orientierung am Evangelium bzw. der Heiligung u. a.).

Auch im ntl. Teil D (265-420) werden Tradition und Redaktion, Kontext, Sitz im Leben, religionsgeschichtlicher Hintergrund mit seinen Analogien, Fragen der Authentizität u. ä. gebührend beachtet. Nach einer Skizze des Wortfeldes

(epitimao, nutheteo, elegcho, paideuo, kathartizo, epanorthosis, parakaleo, loidoreo, memphomai mit ihrem breiten Bedeutungsspektrum) beginnt der Vf. mit den Texten des Lk- und Mt-Ev (272-311): von der in prophetischer Tradition wurzelnden Z. des Herodes wegen dessen Verfehlung in Lk 3,19 über die Kritik an der selbstgerechten und überheblichen Z. in Mt 7,3 ff./Lk 6,41 f. und der Z. im Rahmen der Mahnung zur unbegrenzten Vergebung in Lk 17,3 f. bis hin zu der abgestuften, im Ausschluss aus der Gemeinde gipfelnden juridischen Verfahrensregel gegenüber einem sündigenden Bruder in Mt 18,15 ff. (in Spannung zu Jesu eigenem Umgang mit den Sündern).

Paulus (312-346) bevorzugt nutheteo, und zwar in der Paränese. Z. ist dabei nicht allein Sache des Apostels, sondern auch gemeindlicher Funktionsträger, die zu respektieren sind (1Thess 5,12 f.), ja aller Gemeindeglieder (5,14). So ist in Gal 6,1 die pneumatologisch begründete Kompetenz zur Z. als Zurechtbringen im Geist der Sanftmut und zugleich als Anlass einer Selbstprüfung zu erkennen, ebenso in Röm 15,14 als Ausdruck gegenseitiger Verantwortung, wobei die gemeindliche Z. komplementär zur apostolischen verstanden wird, die dann als nächstes behandelt wird: In 1Kor 4,13 ff. wird das korrektive Schreiben, das dem Apostel als Gemeindegründer in Analogie zum Vater-Kind-Verhältnis zukommt, von einer beschämenden Funktion abgehoben; in 2Kor 13,11 ist ebenfalls ein Fehlverhalten der Anlass seiner Mahnung, sich zurechtbringen zu lassen. Ein instruktives Beispiel für Z. ist nach dem Vf. der antiochenische Konflikt mit der öffentlichen Kritik des Paulus an Petrus (und indirekt auch der Galater) wegen dessen Aufgabe der Tischgemeinschaft mit den Heidenchristen, was nach Paulus als Rückfall in gesetzliche Praktiken der Wahrheit des Evangeliums widerspricht.

Die Deuteropaulinen (347-412) orientieren sich vor allem an der Paulustradition. Im Kol erhält der belehrende Akzent in Abwehr der "Philosophie" stärkeres Gewicht, sowohl beim Apostel und seinen Mitarbeitern (1,28) als auch bei den Christen (3,16), bei denen die Z. "in aller Weisheit" im Wort Christi gründet und in Gegenseitigkeit geschehen soll; auch Kol 3,13 ist auf gegenseitige Vergebung und die Begrenzung des Tadels aus. In der Mahnung an die Väter in der Haustafel Eph 6,4 wird erstmals eine Erziehung zum Glauben angesprochen und die Aufgabe der Väter in einer dem Herrn entsprechenden Zucht und Z. von ungezügelter Strenge und Härte abgehoben. In 2Thess 3,6 ff. geschieht die Z. (explizit ist davon nicht die Rede) der Unordentlichen durch Rückgriff auf den vorbildlichen Apostel, und zugleich soll die Gemeide nach 14 f. (hier wieder ÓÔÂÙÂÖÓ) die Beziehung gegenüber demjenigen abbrechen, der dem Brief des Vf.s nicht gehorcht, der aber zugleich als Bruder zurechtgewiesen und nicht als Feind angesehen werden soll.

Exkursartig wird dann noch Apg 20,31 einbezogen, wo die Abschiedsrede des Paulus den Amtsträgern angesichts drohender Irrlehre die vorbildliche Z. des Apostels vor Augen stellt, woran sich die Past passend anschließen. Hier werden zunächst die Stellen untersucht, die die Z. (fünfmal elegcho und viermal nutheteo ) als ein dem Episkopos vorbehaltenes Qualifikationsmerkmal benennen (Tit 1,9; 2Tim 2,25; 4,2), das aus der Bindung an die überkommende Lehre erwächst und vor allem Widersprechende widerlegen soll, belehrend und erziehend, tadelnd und langmütig, zu gelegener und ungelegener Zeit, wobei Paulus selbst als Vorbild gilt. Die Z. an Christen (1Tim 5,1) soll Lebensalter und -situation berücksichtigen, die an Amtsträger (1Tim 5,19 f.) bei einem sich verfehlenden Presbyter vor allen anderen Presbytern zur Warnung geschehen, während Tit 2,15 betont den gebieterischen Charakter herausstellt, der der kritischen Z. im autoritativen Auftrag des Apostelschülers zukommt. Nach Tit 1,13 und 3,10 ist die strenge Z. vor allem im Kampf gegen die polemisch abqualifizierten Irrlehrer angebracht. Da alles auf die monologische Z. des die Gemeinde dominierenden Amtsträgers und seine Disziplinargewalt abgestellt ist, ist von einer gegenseitigen Z. nicht mehr die Rede. Zuletzt werden dann noch die beiden Schlussverse in Jak 5,19 f. herangezogen, die dazu ermahnen, einen von der Wahrheit abirrenden Christen zurückzubringen, was soteriologische Qualität erhält.

Im Schlussteil (433-451) werden verschiedene Linien noch einmal aufgenommen, ins Verhältnis zueinander gebracht, z. T. durch neue Belege angereichert und z. T. bis in die Apostolischen Väter ausgezogen. Der letzte Abschnitt (447-451) skizziert die Bedeutung der Z. für die heutige Zeit. Wenngleich eine unvermittelte Übertragung in die Gegenwart unmöglich ist, sei gegenseitige Z. als "ein Mittel zur konstruktiven Konfliktbewältigung" für beide Seiten auch heute bedeutsam, wenn sie "angemessen und im rechten Ton, diskret, gütig, schonend, doch ohne falsche Rücksichtnahme gegeben werden und getragen sind von Mitempfinden, Wohlwollen, Erbarmen und von brüderlicher Liebe" (Zitat von J. Gründel). Dabei sei die argumentative Form des Paulus angemessener als die eher amtliche, ausgrenzende und diffamierende Form der Past.

Ein Literaturverzeichnis und Stellenregister beschließen das nützliche Buch. Der Vf. hat mit seiner Untersuchung zweifellos einen bisher nicht monographisch behandelten Aspekt des frühchristlichen Gemeindeverständnisses und -verhaltens in kundiger Weise erhellt, aber auch dessen Einbettung in eine breite Tradition überzeugend aufgezeigt.

Gewiss ist mit einer Orientierung an den Lexemen nicht alles zu erfassen, wie schon die Einbeziehung von Gal 2 zeigt, wo ein entsprechendes Lexem fehlt. Entsprechendes gilt auch, um nur ein paar Beispiele zu nennen, für das Verhältnis von Starken und Schwachen (vgl. z. B. Röm 14,13; 1Kor 10,23), für die Verteidigung des Apostels in Gal und 2Kor, für die diakrisis pneumaton u. a., wo durchaus auch eine correctio fraterna vorliegt oder darauf, wie im ersten Beispiel, verzichtet wird. Aber dies und anderes hätte den Umfang des ohnehin dickleibigen und zur Redundanz neigenden (zu jedem Unterteil und Teil gibt es Zusammenfassungen) Buches noch weiter anschwellen lassen, und ob wesentlich neue Gesichtspunkte zutage getreten wären, steht noch dahin. Was aber vorgelegt wird, kann sich sehen lassen.

Dass man hier und da anderer Meinung sein kann, versteht sich von selbst (etwa zur apostolischen und christologischen Begründung in 1Thess 5 auf S. 323). Die Exegesen und Übersetzungsvorschläge sind immer gut begründet, wobei auch alternative Interpretationen nicht außer acht bleiben. Die Arbeit ist bis auf Ausnahmen sorgfältig korrigiert, doch die durchgängige Falschschreibung von Marxen statt Marxsen stört.