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Ausgabe:

Juni/2018

Spalte:

643–644

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Gailus, Manfred, u. Clemens Vollnhals [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Für ein artgemäßes Christentum der Tat. Völkische Theologen im »Dritten Reich«.

Verlag:

Göttingen: V & R unipress 2016. 330 S. = Berichte und Studien, 71. Kart. EUR 50,00 ISBN 978-3-8471-0587-9.

Rezensent:

Arnulf von Scheliha

Das vorliegende Buch geht auf eine Vortragsreihe zurück, die unter dem Titel »Täter und Komplizen in Theologie und Kirchen 1933–1945« in den Jahren 2013 und 2014 in der Berliner Stiftung »Topographie des Terrors« stattfand. Das Thema wurde bei einer Anschlusstagung, die unter dem Titel »Völkische Theologen im Dritten Reich. Biografische Studien« am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e. V. in Dresden durchgeführt wurde, vertieft. Der vorliegende Band präsentiert die Beiträge zu diesem Workshop in erweiterter Fassung, denn fünf ergänzende Aufsätze wurden von weiteren Autoren zusätzlich beigesteuert. Bei den Herausgebern handelt es sich um im Themengebiet sehr gut ausgewiesene Forscher. Die Autorinnen und Autoren der einzelnen Studien sind Historikerinnen und Historiker, Religionswissenschaftlerinnen sowie Theologen.
Die biographisch orientierten Artikel analysieren (bis auf eine Ausnahme) evangelische Theologen, die sich gedanklich an die
NS-Ideologie assimiliert und auf unterschiedlichen Ebenen Einfluss auf Kirchen und Gesellschaft genommen haben. Insbesondere durch ihr Eintreten für eine rassistisch zugespitzte völkische Theologie arbeiteten sie der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zu.
Sieben Beiträge widmen sich dem Wirken von Universitätsprofessoren und zeigen, dass und wie sich renommierte Fachvertreter aller theologischen Disziplinen an den NS-Staat anschmiegten, ja sogar Vordenker sein wollten: Stefan Dietzel schreibt über »Reinhold Seebergs völkische Theologie zwischen Konservatismus, so­zialer Reform und Eugenik«, Heinrich Assel über »Emanuel Hirsch. Völkisch-politischer Theologe der Luther-Renaissance«, Tanja Hetzer über »Paul Althaus – Wegbereiter einer geistlichen Gleichschaltung«, Dirk Schuster über »›Jesu ist von jüdischer Art weit entfernt.‹ Die Konstruktion eines nichtjüdischen Jesus bei Johannes Leipoldt«, André Postert über »›Lieber fahre ich mit meinem Volk in die Hölle als ohne mein Volk in Deinen Himmel‹. Wolf Meyer-Erlach und der Antiintellektualismus«, Oliver Arnhold über »Walter Grundmann und das ›Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben‹« sowie Dagmar Pöpping über »Der schreckliche Gott des Hermann Wolfgang Beyer. Sinnstiftungsversuche eines Kirchenhistorikers zwischen Katheder und Massengrab«.
Dem Wirken deutsch-christlicher Kirchenführer sind drei Beiträge gewidmet. Rainer Hering präsentiert »Franz Tügel – früher Nationalsozialist und Hamburger Landesbischof«, Gerhard Lindemann hat seinen Aufsatz »›All seine Sorge galt dem Gedanken, einen Einklang herzustellen zwischen dem Dritten Reich und der Kirche.‹ Der Thüringer Landesbischof Martin Sasse« überschrieben. Ulrich Peter verknüpft seine Darstellung des mecklenburgischen Landesbischofs Schultz mit der skurrilen Pastorenkarriere eines seiner engsten Berater (»Walther Schultz und Heinrich Schwartze – zwei deutsche Theologenkarrieren in drei Systemen«). In ihrer Einleitung gehen die beiden Herausgeber vergleichsweise ausführlich auf das Wirken der DC-Bischöfe Ludwig Müller und Joachim Hossenfelder ein.
Exemplarische Pastorenkarrieren, die im Falle von Eugen Mattiat in hohe Parteiämter, im Falle von Ernst Szymanowski alias Biberstein in hohe Gestapo-Ämter und bei Letzterem sowie bei Walter Hoff zur Beteiligung an schlimmen Kriegsverbrechen führten, schildern die Beiträge von Hansjörg Buss (»›Für arteigene Frömmigkeit – über alle Konfessionen und Dogmen hinweg.‹ Gerhard Meyer und der Bund für Deutsche Kirche«), Stephan Linck (»Eine mörderische Karriere: Der schleswig-holsteinische Theologe Ernst Szymanowski/Biberstein«), Isabella Bozsa (»Eugen Mattiat. Vom völkischen Pfarrer zum NS-Funktionär und wieder zurück ins Pfarramt«) und Manfred Gailus (»Pfarrer Walter Hoff und das Berliner Drei-Religionen-Haus: Eine Vergangenheit, die nicht vergehen will?«).
Der Beitrag von Clemens Vollnhals (»Theologie des Nationalismus. Der christlich-völkische Publizist Wilhelm Stapel«) präsentiert das einflussreiche Wirken eines Literaten, der in enger Verbindung mit Emanuel Hirsch stand. Dem Buch voran steht eine ausführliche Einleitung der beiden Herausgeber.
Der Band vermittelt einen sehr instruktiven Einblick nicht nur von dem hohen Maß der ideologischen Verstrickung von Theologie und Kirche mit dem Nationalsozialismus, sondern auch von den Karrierechancen, die sich den vielfach ambitionierten Theologen in den gleichgeschalteten Kirchenleitungen, in Partei und Staat boten und die sie rücksichtslos nutzten. Verblüffend aus heutiger Perspektive ist der Befund, dass nicht wenige Protagonisten nach dem Zweiten Weltkrieg neue Ämter finden und weiter wirken konnten. Insbesondere die uneinheitliche Haltung der Landeskirchen verdient bei diesen Vorgängen große Beachtung.
Nicht alle Beiträge in diesem Band sind taufrisch, vielmehr bieten Autorinnen bzw. Autoren wie Arnhold, Assel, Bosza, Buss, Hetzer oder Hering Zusammenfassungen von Forschungen, die sie an anderer Stelle monographisch oder doch ausführlicher entfaltet haben. Das muss kein Mangel sein, vielmehr wird die Leserschaft in diesem Buch in knapper Form präzise informiert. Aber gerade deswegen wäre eine systematisierende Bündelung der Ergebnisse durch die Herausgeber wichtig gewesen. Leider wird die Leserschaft allein gelassen mit der Frage, ob die Auswahl der Fallstudien und die theologischen Irrläufe nicht doch etwas Zufälliges haben könnten. Haben Zeithistoriker und Totalitarismusforscher eine Theorie im Hinterkopf, die diese theologische Zuarbeit zum NS-Regime erklärbar macht und deutlich werden lässt, warum überhaupt und auf welche Resonanz sie in Kirchen, Wissenschaft und Gesellschaft stieß? Zumindest übergeordnete Gesichtspunkte oder Vergleiche zu anderen gesellschaftlichen Elitegruppen hätten an­gedeutet werden müssen. Systematisch-theologisch wäre zu fragen, ob die hier dokumentierte erschreckende Ideologieanfälligkeit der evangelischen Theologie Ausdruck falschen theologischen Be­wusstseins ist oder am wahren immer auch Anteile hat. Für die noch ausstehende Beantwortung dieser und weiterer Fragen bietet dieser Band eine vorzügliche und streckenweise spannend zu lesende Materialsammlung.