Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/2018

Spalte:

639–641

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Sehling, Emil

Titel/Untertitel:

Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts. Zweiundzwanzigster Band: Nordrhein-Westfalen II. Das Erzstift Köln. Die Grafschaften Wittgenstein, Moers, Bentheim-Tecklenburg und Rietberg. Die Städte Münster, Soest und Neuenrade. Die Grafschaft Lippe (Nachtrag). Begr. v. E. Sehling, fortgeführt v. d. Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Hrsg. v. E. Wolgast. Bearb. v. S. Arend.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2017. XIV, 619 S. m. 1 Kt. Lw. EUR 199,00. ISBN 978-3-16-155139-0.

Rezensent:

Frank Stückemann

Mit dem aktuellen Werk liegen die Kirchenordnungen des 16. Jh.s für die Gebiete des heutigen NRW trotz üblicher Terminvorgaben in beachtlicher Vollständigkeit, editionsphilologisch korrekt sowie jeweils mit knappen Einleitungen, Kommentaren und einem niederdeutschen Glossar versehen vor; einige Mängel des Vorgängerbandes wie falsche Rufnamen im Literaturverzeichnis sind ausweislich von Stichproben abgestellt. Band 22 der von Emil Sehling (1860–1928) begründeten Edition ist der vorletzte des ehrgeizigen Unternehmens, welches 1902 beginnend von längeren Unterbrechungen zwischen 1913 und 1955, 1969 und 1977 sowie 1980 und 2004 geprägt war. Seitdem edierte die Heidelberger Akademie der Wissenschaften mehr Bände als alle vorigen Herausgeber; zur Pu­blikationsgeschichte vgl. Stephan Bitter, Rezension des 21. Bandes (NRW I) im Jahrbuch für Evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes 66, 2017, 252–259.
Der erste Teil der NRW-Kirchenordnungen erschien vor zwei Jahren. Er behandelte die Vereinigten Herzogtümer Jülich-Kleve-Berg, das Hochstift und die Stadt Minden, das Reichsstift und die Stadt Herford, die Reichsstadt Dortmund, die Reichsabtei Corvey, die Grafschaft Lippe, das Reichsstift und die Stadt Essen. Die Kirchenordnungen des Siegerlandes wurden bereits 2012 im 10. Band derselben Reihe ediert (Hessen III). Die Übertragung späterer politischer Gebilde und Verwaltungsgrößen auf die Verhältnisse des 16. Jh.s bleibt schwierig, zumal der alte niederrheinisch-westfälische Reichskreis keineswegs mit den Grenzen des heutigen Bundeslandes NRW identisch ist.
Arends Edition der NRW-Kirchenordnungen gewinnt durch Werner Freitag, Die Reformation in Westfalen; regionale Vielfalt, Bekenntniskonflikt und Koexistenz (Münster, Aschendorff, Ende 2016) zusätzlich Bedeutung, zumal Freitag (19 f.) konstatiert, dass ihm trotz zweier Freisemester ein Gang in die Archive aus Zeitgründen nicht möglich gewesen sei. Selbst wohlwollende Kritik moniert dieses; Jürgen Kampmann spricht gar von tendenziöser römisch-katholischer Geschichtsschreibung (Kirchliches Amtsblatt der Evangelischen Kirche von Westfalen Nr. 5 vom 31.5.2017, 63–65).
Vor dem Hintergrund eines solchen Dissenses kann man Arend für die Erarbeitung und Publikation der evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jh.s im Bereich NRW nicht dankbar genug sein. Ihre nach Einzelterritorien, Reichsstädten und -stiften getrennte Behandlung der Quellen macht die jeweils unterschiedliche lokale Entwicklung der Reformation nachvollziehbar. Die Quellen widerlegen zentrale Positionen Freitags zur Marginalisierung der Reformation in Westfalen. Entgegen seiner Darstellung hatte die Reformation nicht nur Teile des Niederrheins und Westfalens, sondern flächendeckend den gesamten westfälischen Reichskreis erfasst. Bei der territorialen Zersplitterung überrascht die sehr unterschiedliche Entwicklung der jeweiligen politischen Gebilde keineswegs; von friedlicher Koexistenz unter den Religionsparteien kann aber insgesamt kaum die Rede sein, am wenigsten unter katholischer Herrschaft.
Hatte schon der erste Band der NRW-Kirchenordnungen den damaligen Katholizismus vor allem in seiner imperialen Gestalt als kaiserliches Herrschaftsinstrument deutlich werden lassen, angesichts dessen der »reformkatholische Mittelweg« der mit den Grafschaften Mark und Ravensberg vereinigten Herzogtümer Jülich-Kleve-Berg chancenlos blieb und aufgrund von Inkonsequenz und innerer Widersprüchlichkeit zu einem fortschreitenden Zerfall auch der politischen Herrschaft führte, so setzt sich der Eindruck rö­misch-katholischer Dominanz auch im zweiten Band fort. Es wird deutlich, weshalb die beiden lutherischen Reformationsversuche im Erzstift Köln zum Scheitern verurteilt waren und warum sich kleinere Territorien wie Moers, Bentheim-Tecklenburg oder Lippe dem Calvinismus zuwandten. Bei Rekatholisierungen gab es keine Toleranz in Glaubensdingen oder schiedlich-friedliche Koexistenz: Erst kamen spanische Truppen – und in ihrem Gefolge Jesuiten.
Die Bekenntnisbildung des Protestantismus vollzog sich aber nicht nur vor dem Hintergrund eines kompromisslos imperialen Katholizismus, sondern auch in Auseinandersetzung mit der militanten Täuferdiktatur in Münster, von dessen Subjektivismus, »Zerrüttung« und »Unordnung« man sich in den hier edierten Kirchenordnungen immer wieder abgrenzte; vgl. die Quellen zu Köln, 48, zu Wittgenstein, 80.152 (Täufermandat für die Herrschaft Homberg), zu Moers, 174 (»heimliche conventicula durch wiedertäuffer«), zu Bentheim-Tecklenburg, 310 (Von der Kindertauff) und öfter.
Die lokalen Unterschiede der Reformation zeigen sich beispielhaft an den Entwicklungen der im vorliegenden Band behandelten Städte Münster, Soest und Neuenrade. Die beiden erstgenannten wurden etwa zeitgleich von lutherischen Einflüssen erfasst. Müns-ter, belastet durch innerhumanistische Spannungen und ohne Bindung an die Confessio Augustana von 1530, glitt ins Täufertum ab. Soest entwickelte unter dem Einfluss Kursachsens (373) sehr früh einen lutherisch-orthodoxen Lehrbegriff, 1595 gipfelnd in der Annahme der Konkordienformel, was der Tolerierung von Katholiken in dieser Stadt und deren Zulassung zum protestantischen Patenamt aber nicht im Wege stand; vgl. 379–381. Die Kirchenordnungen der Stadt Neuenrade lassen wie die der Grafschaft Wittgenstein den Übergang vom Philippismus (Melanchthonianismus) zum Calvinismus erkennen.
Nach Quellenlage verschärfte das kleinräumige Gefüge der Einzelterritorien die religionspolitischen Spannungen bzw. Konflikte meist noch zusätzlich, so dass erst durch die reichsrechtliche Anerkennung der Confessio Augustana im Augsburger Religionsfrieden von 1555 und die des Calvinismus im Westfälischen Frieden von 1648 Rechtssicherheit und damit konfessionelle Koexistenz unterschiedlich geprägter Einzelterritorien möglich wurden. Dieses be­deutete aber keineswegs, dass es zwischen den unterschiedlichen Bekenntnissen innerhalb eines Territoriums oder Ortes friedlich oder tolerant zuging.
Von den humanistischen Reformversuchen in den Vereinigten Herzogtümern Kleve-Jülich-Berg ist jedenfalls auf Dauer keine prägende Kraft ausgegangen; die Erben Wilhelms des Reichen konnten sich der gesamtwesteuropäischen Lagerbildung zwi-schen militantem Katholizismus (Pfalz-Neuburg) und Calvinismus (Brandenburg) mit zunächst nur eingeschränkter Duldung anderer Konfessionsangehöriger in ihren Landen nicht entziehen.
Vor allem ist zu konstatieren, dass es einen von religiöser und weltanschaulicher Toleranz geprägten »Reformkatholizismus« in friedlicher Koexistenz mit anderen christlichen Bekenntnissen im 16. Jh. im Bereich des niederrheinisch-westfälischen Reichskreises nicht gegeben hat – noch nicht einmal ansatzweise. Dieser ist weniger ein Kind des Humanismus als vielmehr ein Produkt der Ideenwelt des 18. Jh.s, insbesondere der Aufklärung, und wird in Westfalen erst nach dem Siebenjährigen Krieg greifbar (Fürstenberg in Münster, Kaunitz in Rietberg, Anstoß der katholischen Aufklärung in Osnabrück durch den Lutheraner Möser). Freitags Versuch, ihn ins 16. Jh. projizieren zu wollen, erweist sich nach Arends Quellen-edition der Kirchenordnungen für NRW als frommes Wunschdenken unserer Zeit.