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Ausgabe:

Juni/2018

Spalte:

637–639

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Schönau, Christoph

Titel/Untertitel:

Jacques Lefèvre d’Etaples und die Reformation.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2017. 260 S. = Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte, 91. Lw. EUR 44,00. ISBN 978-3-579-05846-7.

Rezensent:

Christian Volkmar Witt

Die hier anzuzeigende Göttinger Dissertation nimmt mit Jacques Lefèvre d’Etaples »eine Figur in den Blick, in der sich in vielleicht einmaliger Weise gesellschaftliche, politische, kirchenpolitische und theologie- und philosophiegeschichtliche Zusammenhänge der Zeit spiegeln« (9). Vor dem Hintergrund dieser Einschätzung verfolgt sie einen Ansatz, der biographische Beobachtungen mit institutionen-, werk- sowie rezeptionsgeschichtlichen Überlegungen verbindet und darüber in luzider Weise etablierten Narrativen zu Faber Stapulensis und zu seiner Bedeutung für die vielschichtigen reformatorischen Bewegungen in Mittel- und Westeuropa zu begegnen sucht.
Dabei in der Artikulation ihres Anliegens von Anfang bis Ende selbstbewusst, umfasst die Arbeit sechs Hauptkapitel: Nach einer erfrischend knapp gehaltenen Einleitung, die Gegenstand und Zugriff profiliert (9–15), werden im zweiten Hauptteil Rezeptionsgeschichte und Forschungsstand zum »Reformator« Lefèvre d’Etaples eigens thematisiert (16–47), wobei auch und vor allem die Sichtung der französischen Forschungsbeiträge dankbar aufzunehmen sein wird. Grundsätzlich gilt dann bezüglich des gewählten Aufbaus: »Wesentliche und auch die weitere Gliederung dieser Arbeit leitende Bedeutung bei der Interpretation der Schriften Lefèvres kommt den mittlerweile herkömmlichen Einteilungen seiner Biographie zu.« (11) Konsequenterweise rückt daher im Zuge des dritten Hauptteils der prominente Gelehrte in seiner editorischen und exegetischen Arbeit in den Blick und wird zudem als akademischer Lehrer vorgestellt (48–110), womit – nach ersten wichtigen rezeptions- und wirkungsgeschichtlichen Befunden – die analytischen Voraussetzungen geschaffen sind für das vierte Kapitel, das mit »Lefèvre d’Etaples und das Alte Reich: Wahrnehmung, Rezeption und Vereinnahmung« überschrieben ist (111–140). Es bildet ge­meinsam mit dem anschließenden Kapitel »Lefèvre d’Etaples und die Réforme«, das auch den letzten, für seine spätere Einordnung vielleicht zentralen Lebensabschnitt des Franzosen in erster Linie wirkungsgeschichtlich ausleuchtet (141–200), den Kern der Untersuchung. Eine ebenfalls erfreulich pointierte Zusammenfassung beschließt die Arbeit (201–212), der in einem Anhang eine umfassende Bibliographie, deren Quellenverzeichnis besondere Aufmerksamkeit verdient, sowie ein Personen- und ein Ortsregister beigegeben sind (213–260).
Den Interessen des Rezensenten geschuldet ist die folgende Konzentration auf die bezüglich der Fragestellung grundlegenden Kapitel 4 und 5, die in durchgängig quellengestützter Analyse
den Konstruktionscharakter der zeitgenössischen Wahrnehmung Lefèvres und der entsprechenden Rezeption seiner Werke herausstellen: »Bevor Martin Luther Lefèvre zum Gewährsmann seiner eigenen Theologie stilisierte und ihn neben den Hebraisten Johannes Reuchlin stellte, dessen Schriften von der Sorbonne verurteilt worden waren, war Lefèvres Position bereits in der Öffentlichkeit bestimmt […]«, denn durch die wahrnehmungssteuernde Aufnahme bestimmter Wortmeldungen des Franzosen hauptsächlich im weiteren Rahmen der Auseinandersetzungen um Reuchlin »war der Humanist ›geschaffen‹, der ab 1519 und verstärkt in den 1520er Jahren an Erasmus’ Seite vermeintlich gegen die römische Kirche zu agieren versuchte und dessen Schriften die Vertreter der Sorbonne deshalb einer Überprüfung unterzogen« (117). Somit war der Boden bereitet für die Inanspruchnahme Lefèvres sowohl auf reformatorischer als auch auf altgläubiger Seite; wie Luther und seine Anhänger konnten sich auch deren entschiedene Gegenspieler auf ihn berufen. Festzuhalten ist dabei, »dass die humanistisch gebildeten Gegner Luthers im Reich aus dessen Verweis auf Lefèvre nicht auf seine ketzerische Gesinnung schließen mochten; der ›Zeuge der Wahrheit‹, den Luther anführte und den er so für seine ›Sache‹ zu vereinnahmen versuchte, war den Altgläubigen zu gut bekannt, als dass sie ihn eindeutig auf der Seite der Ketzerei wähnten« (138). Die zur Begründung seiner ambivalenten Wahrnehmung angeführten Momente leuchten ein: »Die ›Offenheit‹ der historischen Situation in dieser Zeit ermöglichte die Bezugnahmen auf altgläubiger und reformatorischer Seite; später mangelte es dann für den Bezug sowohl der einen als auch der anderen Seite an der klaren Positionierung, die Lefèvre bis zum Ende seines Lebens schuldig blieb.« (139)
Die aus Anschlussfähigkeit einerseits, Uneindeutigkeit andererseits resultierende Schwierigkeit der Einordnung ergibt sich zwar auch für den Kontext der französischen Reformationsgeschichte. Gleichwohl wurde das Werk des Humanisten in be­stimmten Teilen von der Sorbonne im Zusammenhang mit den von der Reformation Luthers für die papstkirchliche Lehre ausgehenden Gefahren gesehen. Schließlich ist es »wohl kaum als Zufall der Geschichte zu deuten, dass die die lutherischen Schriften und die Schriften von Reformhumanisten wie Lefèvre d’Etaples und Erasmus von Rotterdam ablehnenden Beschlüsse der Fakultät zeitlich mit dem Erscheinen des französischen Neuen Testaments koinzidieren […]« (185). Folgerichtig wurden »Lefèvres Schriften und Ausgaben, aber auch die ›Reformen‹ in Meaux […] von ›außen‹, von den Pariser Institutionen […] zu einer lutherischen und damit häretischen ›Sache‹ erklärt« (195). Davon unbenommen brach Lefèvre zeit seines Lebens nie offen mit Rom; dass seine letzten Lebensjahre »nach seinem Tod verschiedene Deutungen aus reformatorischer und altgläubiger Position erfahren haben, knüpft an die Versuche der frühen 1520er Jahre an, ihn in der sich verfestigenden Kirchenspaltung im jeweiligen ›Lager› zu verorten« (197).
So bleibt gleichermaßen bündelnd wie begründet festzuhalten: »Die Vielfalt der Kontexte, in denen Lefèvres Name genannt wird, und die Fülle an Orten, an denen seine Schriften gedruckt wurden, lassen es plausibel erscheinen, die Ambivalenzen im Umgang mit der Person und ihrem Werk, die Schwierigkeit, ihn […] in den aufbrechenden humanistischen und reformatorischen Konflikten klar zu positionieren, als bereits den Zeitgenossen präsentes Faktum seines Lebens zu betrachten« (207). Daher gilt es, entsprechend aufmerksam mit den frühzeitig aufkommenden zeitgenössischen konfessionellen Stilisierungen und Einordnungen des gelehrten Franzosen umzugehen. Dass es zudem Zeit wird, bestimmte Kategorienbildungen und Zuordnungsversuche, wie sie die schwerlich zu überschätzenden historiographischen Leistungen des 19. und frühen 20. Jh.s entwickelt und wirkmächtig etabliert haben, gewissenhaft und behutsam zu überprüfen, lässt sich folglich auch am Beispiel Lefèvres und mit ihm der französischen Reformationsgeschichte eindrücklich belegen.