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Ausgabe:

Juni/2018

Spalte:

632–636

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Löhdefink, Jan

Titel/Untertitel:

Zeiten des Teufels. Teufelsvorstellungen und Geschichtszeit in frühreformatorischen Flugschriften (1520–1526).

Verlag:

Tübingen Mohr Siebeck 2016. XI, 412 S. = Beiträge zur historischen Theologie, 182. Lw. EUR 99,00. ISBN 978-3-16-154449-1.

Rezensent:

Markus Wriedt

DDass der Teufel im Werk von Luther eine akzentuierte und herausgehobene Stellung einnimmt, ist hinlänglich bekannt und immer wieder beschrieben worden. Auch dass mit dieser häufigen und häufig nicht recht reflektierten Verwendung des Satans letztlich Luthers bleibende und enge Verhaftung zum spätmittelalterlichen Denken und seinem magischen Wirklichkeitsverständnis in merkwürdigen Kontrast zu seiner ansonsten durchaus modernitätstauglichen reformatorischen Theologie tritt, ist immer wieder in­kriminierend festgestellt und nicht selten beklagt worden. Die im Sommersemstr 2015 von der Philosophischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität aufgrund der Gutachten von Barbara Stollberg-Rilinger und Albrecht Beutel promovierte Dissertation von Jan Löhdefink nimmt diese Spannung produktiv und durchaus innovativ auf. Sie stellt damit – das sei bereits an dieser Stelle ausdrücklich angemerkt – ein gelungenes Beispiel für die notwendige interdisziplinäre Zusammenführung von dezidiert sozial- und kulturwissenschaftlichen Fragestellungen mit theologiegeschichtlichen Interpretationswegen dar. Das wird begünstigt durch die Tatsache, dass ihr Verfasser in keinem hypertrophen Loyalitätsverhältnis zu den meinungsverwaltenden Institutionen bzw. deren Vertretern im Reformationsjubiläum 2017 steht, sondern mit einer durch sein Lehramtsstudium provozierten Multidisziplinarität an die Fragen herantritt. Die Arbeit ist mit einem hohen Problembewusstsein besonders auch für die metatheoretischen historiographischen Theoriebildungen und reformationsgeschichtlichen Problemlagen verfasst worden. So wird sie, wenn denn nicht unbedingt zum Lektürevergnügen, zu einem wichtigen Beitrag in den, zumindest in konfessionell-kirchenhistorischen Feldern, zunehmend festgefahrenen Positionierungsdebatten um die Deutungshoheit über Martin Luther und seine Reformation. Vielleicht vermag sie sogar aus diesem Strudel an po­lemischen Verwerfungen ein Stück weit hinauszuführen.
L. vertritt in seiner Arbeit die These von einem Paradigmenwechsel (12.381) in der überkommenen Teufelsvorstellung. Er resultiert aus einem konfessionell spezifischen apokalyptischen Wirklichkeitsverständnis, das zu einer signifikanten Veränderung der Vergangenheits-, Gegenwarts- und Zukunftsdeutung führt. In dieser – gleichermaßen an den historiographischen Überlegungen Reinhard Kosellecks wie an den Forschungen von Volker Leppin anknüpfenden – Hinsicht »soll die Frage nach der Modernität der Reformation in einer veränderten Perspektive noch einmal neu gestellt werden« (7).
Wer allerdings eine Wiederauflage der inzwischen abgeflauten Debatte um die Epochalität der Reformation und damit auch des Auftretens der Reformatoren, allen voran Martin Luthers, erwartet, sieht sich von den folgenden knapp 400 Seiten umfassenden Analysen getäuscht. Grundsolide und historisch-kritisch detailliert werden exemplarische Zeugnisse von populäre Verbreitung voraussetzenden Flugschriften zusammengestellt und systematisch in drei Abschnitten erläutert. Angeregt durch Achim Landwehrs Verständnis von »Zeit-Geschichte« sieht L. eine signifikante Dynamik historischen Zeitverständnisses. Sie wirkt zusammen mit dem von den Autoren sowie Lesern und Hörern (31-40) der Flugschriften immer wieder bezeugten Trias von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Unter Aufnahme der Arbeiten von Reinhard Koselleck und Martin Sandl wird nach der Semantik der in der jeweiligen Gegenwart die zeitlichen Dimensionen von Vergangenheit und Zukunft verbindenden Geschichtskonstruktionen gefragt (9). L. plädiert mit Landwehr dafür, die »Emergenz temporaler Modalisierungen« (8) stärker zu berücksichtigen, als das bisher geschehen ist. Darin steckt, neben der Quellenauswahl, ein metatheoretisches Potential, das durch die vorgelegte Untersuchung sicher noch nicht erschöpft ist. Stellt diese Untersuchung doch nicht einen durch die Titelgebung implizit konnotierten Versuch der Entmythologisierung und Dekonstruktion mittelalterlicher Vorstellungen im reformatorischen Aufbruch in die Moderne dar, sondern eine Rekonstruktion aus der Umbruchszeit in Kontinuität zur Vergangenheit sich entwerfender Zukunftsperspektiven, die in der Folge als wirkmächtig für die Entstehung der Moderne werden sollten. L. ist sich dabei bewusst, dass er mit diesen Fragen an die in der konfessionellen Kirchengeschichtsschreibung immer noch virulenten Debatten um das »Alleinstellungsmerkmal« Luthers (Kaufmann) im Kontrast zu dem Bemühen eine große Kontinuität zur spätmittelalterlichen Tradition (Hamm, Leppin) rührt. Das hindert ihn aber nicht daran, seine Analyse davon relativ unbeeindruckt fortzusetzen. Kritisch wäre anzumerken, dass er insbesondere in den Abschnitten, wo es um eine theologiegeschichtliche Würdigung der herausgearbeiteten Phänomene geht, zuweilen von einem Referenzautor ausgeht und die dahinter liegenden Debatten zuweilen ausblendet; in der Einleitung etwa Ebeling, Luthers Reden vom Teufel, Hamm für die Betonung der spätmittelalterlichen Kontinuität und Leppin für das apokalyptische Weltbild und die Transformationshypothese, oder als Kontrapunkt die kritische Sicht der Position von Kaufmann (1–16).
Unbeschadet dieser marginalen Kritik ist der Versuch, die Gegenwartsdeutung im Fokus der apokalyptisch zugespitzten Teufelsdeutung in der Spannung zwischen Vergangenheit und Zukunft vorzunehmen, durchaus als gelungen zu betrachten. L. geht davon aus, dass die Zeitgenossen die frühen 20er Jahre in umfassender Hinsicht als Umbruch erlebt haben. Dieses Erleben wurde von verschiedenen Repräsentanten reformatorischer Wirklichkeitsdeutung zu einer Neukonfiguration des Zeitbewusstseins transformiert. Dazu trug eine grundsätzlich und darin konfessionell singuläre Rezeption apokalyptischen Denkens bei. L. spricht in diesem Zusammenhang von einer »apokalyptischen Grundierung« (367) – in bewusster Absetzung von Kaufmanns Terminologie eines »apokalyptischen Codes« (366 f. mit Anm. 6 f.) – und sieht diese als nur »für ein be­stimmtes Spektrum der Gesamtgesellschaft, nämlich die re­formatorischen Bewegungen und deren konfessionelle Verfestigungen« (367) charakteristisch an. In anderen Bereichen der Ge­sellschaft wurde diese Sicht durchaus prononciert abgelehnt.
L. nimmt hier die These von Leppin auf, der in seiner 1999 veröffentlichten Habilitationsschrift zu belegen versuchte, dass diese Aufnahme apokalyptischen Denkens ein Konfessionsspezifikum der reformatorischen Bewegung gewesen sei. Diese Sicht verbindet L. schlüssig mit seinen Befunden, wonach zunächst eine neue Sensibilität für das Wirken des Teufels am Ende der Zeiten wirkmächtig wurde. Sie verbindet sich sodann mit einer Umwertung bis-heriger Vorstellungen. Als Kardinalcharakteristikum des Teufels wird seine Subtilität herausgearbeitet, mit der er »unter schönem Schein als Engel des Lichts sein Unheilswerk verrichte« (369). Das begründet zum einen seinen historischen Erfolg und provoziert zum anderen das Entlarvungswerk der beim Evangelium und dessen Wahrheit ausharrenden Minderheit. Sie ist als letzte in der Lage, noch in rechter Weise zwischen Gott und Teufel zu unterscheiden. Heimlich hat der Satan so in das Zentrum der Gesellschaft und der Kirche vordringen können und insbesondere Letz-tere grundlegend korrumpiert. »Der Teufel sei nicht lediglich punktuell in die Kirche eingedrungen, indem er Einzelpersonen verstockt und seinem Willen dienstbar gemacht habe, sondern er habe mit den Konstitutionsbedingungen des Papsttums, insbesondere dessen angemaßter Überordnung über die Schrift, die Kirche strukturell von innen heraus verdorben.« Teufel und Antichrist arbeiten hier augenscheinlich Hand in Hand und verlieren ihre spezifischen Unterscheidungsmerkmale. Hier wäre noch einmal gesondert nachzuschauen, ob diese mangelnde Differenzkriteriologie sich der Popularisierung reformatorischer Theologie in den Flugschriften verdankt oder aber unter dem Signum »Apokalyptik« Teufel und Widerchrist miteinander verschmelzen lässt. In seinem Apokalyptik-Verständnis orientiert sich L. erneut eng an Leppin und dessen kritischer Würdigung von Lehmann.
L. kommt nicht umhin zu konstatieren, dass in apokalyptischer Wirklichkeitsdeutung Krisenerscheinungen der Zeit verarbeitet werden, will aber einen »Überschuss« gewahrt wissen, der wie auch schon vorher bei Leppin geeignet sein soll, die konfessionelle Besonderheit des Phänomens Apokalyptik zu bestimmen, die sich s. E. mit sozialhistorischen Ansätzen kaum abbilden lassen (367 f.). Sowohl die Entgegensetzung von sozial- und wirtschaftsgeschichtlicher gegen theologiegeschichtliche Interpretation wie auch der Zirkelschluss, dass Apokalyptik nur sein könne, was in der konfessionellen Aufnahme apokalyptischer Elemente repräsentiert wird, verhandeln die damit verbundenen heuristischen und interpretativen Debatten ein wenig unterkomplex. Die in den exegetischen Fächern geführten Diskussionen um die zwischentestamentarische Apokalyptik wurden ja gerade durch das sozial-historische Element entscheidend weitergeführt. Außerdem wird man kaum annehmen können, dass die gesamte Umwelt des entstehenden reformatorischen Gedankenzusammenhangs apokalyptische Motive wegen ihres identitätsmarkierenden Charakters auszublenden versucht hat. Allerdings braucht L. diese positionelle Akzentuierung gar nicht. Sein Nachweis einer konfessionsspezifischen Deutung des Teufels bietet in der beginnenden konfessionellen Systemkonkurrenz genug Differenzpotential, um vor allem die Satanologie, weniger aber ihren Ursprung aus der Apokalyptik, zum Identitätsmarker stilisieren zu können.
In drei Hauptkapiteln werden in der Durchführung ausgewählte Flugschriften als Fallbeispiele vorgestellt und sodann auf ihre innere Kohärenz hin untersucht. Das Kapitel III.1 »Ausgangsbedingungen« (57–78) ist dabei nicht exklusiv im Kontext der Vergangenheitsdeutung anzusiedeln. Hier wird vielmehr die Basis des sich unter dem reformatorischen Denken verändernden Ge­schichtsbildes umfassend geschildert, insofern unter dem Einfluss des wiederentdeckten und exklusiv zugespitzten Schriftprinzips es zu einer Neuinterpretation des seit der Scholastik dominie-renden Traditionsprinzips in der kirchlichen Wahrheitsbegründung kommt. Der reformatorischen Vergangenheitsbetrachtung kommt dabei der Impuls zu, die theoretisch ausformulierte Traditionskritik historisch zu verifizieren (76–78).
Flugschriften sind nach L. »mehrblättrige, selbständige, nicht periodisch und ungebundene Druckschriften, die sich in persuasiver Intentionalität und entsprechendem Duktus aktuellen Themen und Kontexten zuwenden und an ein disperses und möglichst zahlreiches Publikum richten.« (23) Diese Definition lehnt sich an die Forschungen von Hans-Joachim Köhler an, nimmt aber die Debatten der 1980er Jahre zu deren Interpretationen auf. Nach einschlägigen Referaten zur Verfasserfrage, der Rezeption und dem Beitrag der Flugschriften zum medialen Gesamtphänomen »Reformation« fokussiert L. sodann die Problematik der Teufelsvorstellungen. Sie stellt auch das entscheidende Auswahlkriterium des untersuchten Quellencorpus dar. Auf dieser Grundlage können vor allem die »kohärenzstiftende Funktionalität sowie ihre (sc. der Flugschriften) allgemeine Rezeptionsreichweite« in ihrer Bedeutung erhoben werden. »Zudem verspricht die persuasive Intentionalität und der Aktualitätsbezug dieser Quellengattung hinsichtlich der zeitgenössischen Wahrnehmung und Artikulation von Veränderungspotentialen und reformatorischen Innovationsleis-tungen besonders ergiebig zu sein.« (54) L. greift dafür auf die in der Microfiche-Sammlung von Köhler dokumentierten Flugschriften zurück. Den terminus post quem setzt er mit dem Jahr 1520 an. Zum einen, weil ab da eine signifikante Zunahme von Flugschriften erkennbar ist, zum anderen, weil »ab 1520 der Bruch mit der römischen Kirche unhintergehbar vollzogen war« (55). Ab 1526 sinkt die Frequenz des Drucks von Flugschriften wiederum ab, und auch theologiegeschichtlich markieren das Ende des Bauernkrieges und seine Folgen einen neuen Abschnitt der Reformationsgeschichte, da die Vielfalt der reformatorischen Bewegungen durch obrigkeitliche Interventionen kanalisiert wurde. Insofern setzt L. hier den terminus ante quem seiner Untersuchung. L. schließt ausdrücklich institutionelle, sozialhistorische oder regionale Kriterien bei der Auswahl aus. Er beschränkt sich bewusst auf deren theologisch inhaltliche Konzeption. Dabei »ist das theologiegeschichtliche Erkenntnisinteresse der Arbeit eng verzahnt mit einem kommunikationshistorischen, indem sie gezielt nach der publizistischen Aufbereitung theologischer Sachverhalte und deren Einfluss auf die Ausgestaltung des Zeitbewusstseins fragt« (56). Schlussendlich ist auch die Volkssprachlichkeit – hier Deutsch – ein Auswahlkriterium, weil L. hier eine höhere Rezeptionswahrscheinlichkeit – im Gegensatz zu einem Gelehrtendiskurs – gegeben sieht. Diese methodischen Festlegungen sind nachvollziehbar. Bei der Verbindung von historiographischen und theologiegeschichtlichen Be­gründungen erscheint hingegen noch Diskussionsbedarf, der freilich an anderer Stelle zu befriedigen sein wird.
Die Grundannahme, dass es vor dem Hintergrund der Rezep-tion apokalyptischer Motive zu einer Anders-Interpretation des traditionellen Teufelsverständnisses als einer Chiffre für die sub-tile und heimtückische Verkehrung der Wirklichkeitsinterpretation im Interesse einer grundlegenden Umkehr des Gottesverhältnisses der Christen zur Loyalität gegenüber dem Satan kam, vor der auch die heilsvermittelnden Institutionen der Gegenwart nicht gefeit sind, ist hinreichend deutlich gemacht. Sie bestätigt über weite Strecken die theologiegeschichtliche Erforschung der Teufelsvorstellungen der Reformatoren und löst diese von einer mo­dernitätstauglichen Apologetik gegenüber einer historiographischen Sicht, die Luther als dem Mittelalter verpflichteten Menschen charakterisiert und somit für die Moderne letztlich nicht verantwortlich machen kann. Diese Luther- und Reformationsdeutung, die besonders pointiert von Ernst Troeltsch vorgetragen wurde, ist im Zuge einer postmodernen historiographischen Revision der älteren Forschung, die zum Teil mit nicht unerheblichen Dekonstruktionen identitätsstiftender oder die konfessionelle Differenzkriteriologie befeuernder Narrative verbunden waren, freilich mehr und mehr obsolet geworden. Der fraglose Fortschrittsoptimismus, gefördert durch eine kritiklose Übernahme der aufgeklärten Progressionstheorie, ist der postmodernen Dekonstruktion inzwischen gründlich zum Opfer gefallen. Das vergangene Reformationsjubiläumsjahr mag dabei eine Ausnahme, ein letztes Aufflackern überkommener historiographischer Konzepte, dargestellt haben. Die insgesamt mit ho­hem Erkenntnisgewinn zu lesende, perspektivenreiche und durchaus innovative Untersuchung kann dazu beitragen, nicht nur die Trümmer vergangener Konstruktionen beiseitezuräumen, sondern mit neuem Elan sich der Lektüre längst bekannter Quellen zu widmen.
Dem Buch würde vor allem dadurch Gerechtigkeit widerfahren, wenn es nicht nur gelesen würde, sondern ihm weitere Untersuchungen folgten, welche die beobachteten Phänomene einerseits an anderen Quellengattungen und in unterschiedlichen konfessionskulturellen Milieus vergleichend bearbeiten würden. So oder so: Mit der Arbeit ist ein Standard ge­setzt, der in folgenden Analysen nicht mehr unterschritten werden darf.