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Ausgabe:

Juni/2018

Spalte:

628–630

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Eusterschulte, Anne, and Hannah Wälzholz[Eds.]

Titel/Untertitel:

Anthropological Reformations – Anthropology in the Era of Reformation.

Verlag:

Göttingen u. a.: Vandenhoeck & Ruprecht 2015. 575 S. m. 19 Abb. = Refo500 Academic Studies, 28. Geb. EUR 175,00. ISBN 978-3-525-55058-8.

Rezensent:

Andreas Stegmann

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Wilczek, Piotr: Polonia Reformata. Essays on the Polish Reformation(s). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2016. 145 S. = Refo500 Academic Studies, 36. Geb. EUR 85,00. ISBN 978-3-525-55250-6.


Die beiden zu besprechenden Sammelbände aus derselben Reihe haben zwar unterschiedliche Themen und unterschiedlichen Um­fang, gemeinsam ist ihnen allerdings, dass ihr Titel – wohl im Bemühen, die beiden Publikationen aus der Flut der wissenschaftlichen Neuerscheinungen rund um das Reformationsjubiläum herausstechen zu lassen – mehr verspricht, als die Bände einzuhalten ver­-mögen.
Der Tagungsband zur RefoRC-Konferenz, die 2013 in Berlin stattfand, versammelt acht keynote lectures und 31 vielfach auf Dissertationsprojekte bezogene paper zur Anthropologie in der Frühen Neuzeit, allesamt in englischer Sprache. Forscherinnen und Forscher aus verschiedenen Disziplinen – der Theologie, Philosophie, Geschichtswissenschaft, Musikwissenschaft, Kulturwissenschaft, Kunstgeschichte und anderen – behandeln eine Fülle von Themen: Der Bogen spannt sich von ideengeschichtlichen Studien zur Willensfreiheit und politischen Theorie über literatur- und kunstwissenschaftliche Studien zu Hans Sachs und Caravaggio bis hin zu kulturgeschichtlichen Studien über Raum, Gefühl und Körperlichkeit. Es wird ein breit angelegtes regionales, zeitliches und konfessionelles Panorama geboten, wobei sich die meisten Beiträge auf Mittel-, West- und Südeuropa im 16. Jh. beziehen. Das Oberthema »Anthropologie« verbindet diese Einzelstudien nur sehr locker, und bei manchen Texten fragt man sich, was sie dazu beitragen. Weder die Einführung der Herausgeberinnen noch die Untergliederung in sieben thematische Gruppen lassen erkennen, inwiefern dieser Band mehr ist als die lose Aneinanderreihung von Einblicken in abgeschlossene oder laufende Forschungsarbeiten der 39 Beitragenden. Für die Nutzer des Buchs bedeutet das, dass sie sich auf die für sie relevanten, mit Hilfe des Inhaltsverzeichnisses und des Sach- und Personenverzeichnisses recherchierbaren Einzelbeiträge konzentrieren können, von denen es – je nach Forschungsinteresse – einige geben dürfte. Allerdings führt die umfangmäßige Beschränkung der Beiträge dazu, dass die in ihnen vorgetragenen Beobachtungen und Analysen vielfach nicht angemessen entfaltet und vertieft werden können. Der Band macht gleichwohl deutlich, dass gerade auch im so sehr an Gott interessierten Reformationsjahrhundert der Mensch ein zentrales Thema war und dass das menschliche Sein und Handeln theologisch, philosophisch und künstlerisch auf unterschiedlichste Weise bedacht wurde. Die die anthropologische Fragestellung ergänzende Perspektive der Umbrüche im alltäglichen Lebensvollzug und des damit verbundenen Wandels von Mentalitäten und Praktiken des Menschseins wird in einigen Beiträgen angesprochen, aber nicht eigens zum Thema gemacht. Damit kommen die hierfür einschlägigen Quellen (Ego-Dokumente, Testamente, Gerichts- und Visitationsakten etc.), die sich auch hinsichtlich anthropologischer Vorstellungen auswerten lassen, nicht ausreichend in den Blick, vielmehr bewegen sich die Beiträge zumeist auf der Metaebene von »art, poetry, literature, music, scientific knowledge etc« (12). Nach der fortlaufenden ermüdenden Lektüre kommt man nicht umhin, dem Band zu attestieren, dass er die behauptete »complexity of anthropological reformations« (12) nicht zu vermitteln, geschweige denn analytisch zu durchdringen vermag, sondern vielmehr zeigt, dass Internationalität, Interdisziplinarität und Multiperspektivität nicht immer förderlich für ein Erkenntnisbemühen sind.
Auch der Aufsatzsammelband von Piotr Wilczek, dem Warschauer Literatur- und Kulturhistoriker, der zurzeit als polnischer Botschafter in den USA amtiert, liegt in englischer Sprache vor. Auf knapp 120 Seiten finden sich hier neben der Einleitung zehn durchweg kurz gehaltene Vorträge und Artikel zu Themen der polnischen Religions- und Literaturgeschichte des Reformationsjahrhunderts, die auf Wilczeks in polnischer Sprache publizierten Forschungsarbeiten zu Dichtern des 16. Jh.s und zum Sozinianismus basieren. Eingeleitet wird der Band mit einigen essayistisch gehaltenen Überlegungen zur Bedeutung des frühneuzeitlichen Polen für die europäische Kirchengeschichte (15–23) und einer Längsschnittstudie zur polnischen Calvinrezeption (23–36). Darauf folgen fünf Beiträge zum frühneuzeitlichen Sozinianismus, die sich mit dessen Deutung in der neueren polnischen Geschichtsschreibung (36–45), seinen theologischen Grundideen (45–55), der Stadt Raków als seinem Zentrum (55–60), der Publikationsgeschichte des Rakauer Katechismus als seiner Programmschrift (60–71) und seiner Bestreitung durch die polnischen Jesuiten (71–92) beschäftigen. Zusammengenommen bieten diese fünf Beiträge einen Überblick über die neuere polnische Forschung zum Sozinianismus, ergänzen damit die Standardliteratur zum Thema (vgl. Wac ław Urban: Art. Sozzini/Sozinianer, in TRE 31, 2000, 598–604) und vertiefen diese in einigen Hinsichten. W.s Sozinianismusforschungen hängen eng zusammen mit seinem Interesse für die »Polish poets in the age of the Reformation«, von denen eine ganze Reihe mit der Reformation sympathisierte, sich dabei im breiten Raum »between Luther and Socinus« bewegte und sich zum Teil auch wieder der Papstkirche annäherte. Vorgestellt werden hier die von W. bereits in Form von Monographien oder Editionen ausführlich behandelten Dichter Jan Kochanowski (93–103) und Erazm Otwinowski (103–121) sowie in Gestalt von »few remarks on the lives and works of Polish writers of the Reformation and Counter-Reformation« auch Miko łaj Sęp Szarzyński, Kasper Twardowski, Wacław Potocki und Kasper Wilkowski (121–128). Für die deutsch- und vor allem die englischsprachige Reformationsforschung, der diese Namen und die mit ihnen verbundenen Quellen und Zusammenhänge nicht vertraut sein dürften, sind diese Beiträge eine willkommene Ergänzung ihres Bilds der polnischen Reformation, macht
W. doch deutlich, dass die von Bibelhumanismus und Reformation inspirierte religiöse Dichtung einen Beitrag zur Verbreitung reformatorischer Ideen im Jagiellonenreich und der ersten Rzeczpospo-lita leistete. Mit beiden thematischen Schwerpunkten und mit der – wegen des Verzichts auf Fußnoten und auf Diskussion der Forschung allerdings oberflächlich bleibenden – Erschließung der neueren polnischen Forschung nützt der Band allen an der Reformationsgeschichte Polens Interessierten. Einen Überblick über die »Polonia Reformata« oder die Vielgestaltigkeit der »Polish Reformation(s)« bietet er allerdings nicht. Was die von der reformationsgeschichtlichen Forschung im deutschsprachigen Raum sträflich vernachlässigte und in ihrer Bedeutung unterschätzte Geschichte der polnischen Reformation angeht (vgl. Michael Müller: Reformations­forschung in Polen, in: ARG 100, 2009, 138–154), so muss der Interessierte ohne Polnischkenntnisse auf die nicht unproblematischen Darstellungen von Theodor Wotschke (Geschichte der Reformation in Polen, Leipzig 1911; vgl. seine verstreut publizierten Studien zur polnischen Reformationsgeschichte, die in seinem Schriftenverzeichnis nachgewiesen sind: Deutsche Wissenschaftliche Zeitschrift für Polen, Heft 12, 1928, 163–169) und Christoph Schmidt (Auf Felsen gesät. Die Reformation in Polen und Livland, Göttingen 2000) zurückgreifen, die die recht spärliche ältere und neuere Forschung zum Thema verarbeiten und die mittlerweile durch Hilfsmittel polnischer Autoren ergänzt worden sind (Maciej Ptaszynski: The Polish-Lithuanian Commonwealth, in: A Companion to the Reformation in Central Europe, hrsg. v. Howard Louthan u. Graeme Murdock, Leiden/Boston: Brill 2015, 40–67; Georg Ziaja: Lexikon der bedeutends­ten Protestanten in Polen-Litauen im 16. Jh., Warschau 2016).