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Ausgabe:

Juni/2018

Spalte:

627–628

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Reece, Steve

Titel/Untertitel:

Paul’s Large Letters. Paul’s Autographic Subscription in the Light of Ancient Epistolary Conventions.

Verlag:

London u. a.: Bloomsbury T & T Clark 2016. 256 S. m. 60 Abb. = The Library of New Testament Studies, 561. Geb. £ 80,00. ISBN 978-0-567-66906-3.

Rezensent:

Bernhard Oestreich

Dieses Werk eines klassischen Philologen – Steve Reece ist Professor für Klassische Literatur am St. Olaf College in Northfield, MN – untersucht die Praxis antiker Briefabsender, am Ende eines diktierten Briefes einen eigenhändig geschriebenen Briefschluss anzufügen. Weil sich das auch in den Paulusbriefen findet, ist die Studie für Exegeten interessant. R. geht von Gal 6,11 aus und fragt, warum Paulus den Schluss eigenhändig und mit großen Buchstaben schreibt und warum er das im Brieftext erwähnt (11). Die Antworten auf diese Fragen sucht R. aus dem Studium der Kultur, in die die Paulusbriefe ursprünglich hineingehören. Dieser Ansatz folgt der seit Deißmann gelegten Spur, die auch zu den von Arzt-Grabner herausgegebenen papyrologischen Kommentaren geführt hat.
R. behandelt im ersten Teil die praktischen Umstände des Briefschreibens in der Antike (Kapitel 2) und untersucht dann die in der Literatur erhaltenen Zeugnisse über die Briefkonventionen (Kapitel 3–5), um schließlich festzustellen (Kapitel 6), dass die Paulusbriefe im Licht dieser antiken Praxis keine Ausnahme darstellen: Auch Paulus beauftragt meist einen Schreiber, ohne dass daraus etwas über seine literarische Bildung und Schreibfähigkeit abge-leitet werden könnte. Die Form seiner Briefe folgt dem üblichen Protokoll. Viele Topoi (Dank, Nachrichten, Ermahnung, Ermutigung, Besuchsankündigung usw.) sind konventionell. Schließlich beleuchtet R. den Brauch, einen selbstgeschriebenen Schluss anzufügen (Kapitel 7). Dadurch kann der Absender das Schreiben autorisieren, sich gegen Fälschungen abgrenzen, nachträgliche Gedanken anfügen, vertraulich werden oder mit seiner eigenen Handschrift eine Quasi-Anwesenheit bewirken. Auch darin folgt Paulus dem, was üblich ist. Mit diesen Ergebnissen bestätigt R., was vor ihm White, Doty, Berger, Klauck und andere vertreten haben.
Im zweiten Teil des Buches wendet sich R. Gal 6,11 zu. Zunächst (Kapitel 8) wird eine Übersicht über Übersetzungen und Interpretationen geboten, von denen R. meint, sie seien meist mehr von der Situation und Kultur des jeweiligen Auslegers bestimmt als von der des Paulus (214). Es folgen drei Kapitel, die die brieflichen Dokumente behandeln, die in der judäischen Wüste, in Nordengland und in Ägypten ausgegraben wurden (Kapitel 9–11). Bei diesen Originaldokumenten lässt sich noch die Handschrift der Schreiber erkennen sowie die derer, die einen eigenhändigen Schlussteil an­fügen. Das Ergebnis dieser Untersuchungen war für mich der eigentliche Gewinn des Buches: Es gibt keine Regelmäßigkeit, die die große Schrift des Paulus, die er in Gal 6,11 erwähnt, erklären könnte. Die Nachschriften können größer, gleich groß oder – sogar viel häufiger – kleiner geschrieben sein als die mehr oder weniger professionelle Schrift des Schreibers (138).
Im letzten Kapitel (Kapitel 12) zieht R. folgende Schlussfolgerung: Die Nachschrift des Paulus im Galaterbrief folgt den Konventionen für Briefe und vor allem für rechtliche Dokumente in Briefform, in der der Absender bzw. Auftraggeber das Schriftstück durch eine eigenhändige kurze Zusammenfassung autorisiert. Nicht nur die explizite Erwähnung der Eigenhändigkeit, sondern auch größere Schrift hält R. für typisch in Rechtsurkunden. Daher sieht er im Galaterbrief einen Text mit rechtlichem Charakter (201–202). Für die Erwähnung der Schriftgröße durch Paulus – wofür sich keine Parallelen gefunden haben – gibt er drei mögliche Erklärungen: selbstironische Anmerkung über die ungelenke Schrift im Vergleich zu der des professionellen Schreibers; Hinweis auf die Persönlichkeit des Paulus, die in seiner unverwechselbaren Handschrift erkennbar wird; Bekräftigung der Authentizität und Autorität des Schreibens – dazu neigt R. (203).
Die Deutung von Gal 6,11 hat mich nicht überzeugt. Daraus, dass rechtliche Dokumente öfter Nachschriften in größerer Handschrift aufweisen (201), kann man nicht schließen, dies sei ein typisches Merkmal für solche Dokumente. Zuvor müsste bedacht werden, ob nicht der größere Textumfang solcher Dokumente bei vorliegendem Papyrusblatt tendenziell zu einer kleineren Schrift des Schreibers führt (vgl. Abb. 59). Umgekehrt müsste betrachtet werden, ob die Schriftgröße der Nachschrift auf den auf dem Blatt verbleibenden Platz reagiert.
Es scheint mir auch voreilig zu sein, wenn R. die Nachschriften als generell ungeübter bewertet. Hier fehlt mir eine Unterscheidung zwischen Übung im Schreiben generell und Übung im Schönschreiben beim Abfassen eines Dokuments (vgl. Abb. 27 mit nachlassender Sorgfalt des Schreibers). Nicht wenige Nachschriften zeigen, soweit ich das erkennen kann, eine kursive, weniger leserliche Handschrift (Abb. 13; 16; 38–41; 45 f.; 48; 54). Das könnte auf eine durch jahrelangen und intensiven Gebrauch ausgeprägte Handschrift hinweisen.
Plausibler scheint mir, dass die Größe der Schrift des Paulus nichts mit dem Charakter des Dokuments oder mit seiner Übung im Schreiben zu tun hat, sondern ein Merkmal seiner persönlichen Handschrift war, auf das Paulus hier verweist (vgl. 49.57–61), um durch diese persönliche Eigentümlichkeit eine Quasi-Anwesenheit bei den Hörern zu erwirken (wie auch durch den Hinweis auf seine körperlichen Narben in Gal 6,17, vgl. 60.203). Der Hinweis auf die Schriftgröße funktioniert unabhängig davon, ob die Papyrusrolle herumgezeigt wird (vgl. 98.199), wie der Vortragende auch die Narben nicht zeigen kann. Vielmehr sehen die Hörer in ihrer Vorstellung den »erinnerten« Paulus und nicht die Person, die dem abwesenden Paulus die Stimme leiht. Im Zusammenhang mit Performanzkritik habe ich darauf verwiesen, dass Paulus solche Quasi-Anwesenheit dazu nutzt, um sich von dem zu distanzieren, der seinen Brief den Zuhörern vorträgt (nicht der Briefbote, wie R. auf S. 40 annimmt). Diese Distanz macht die Hörer unabhängiger von der Art des Vortrags, die ja das Briefanliegen unterstützen oder auch unterminieren kann.
Das Buch ist gut verständlich geschrieben, wenn auch etwas redundant. Durch die reiche Dokumentation (große Zahl der Dokumente, genaue Beschreibung, oft ergänzt durch Fotos) erhält der Leser die Chance, tiefer in die antike Kultur des Briefeschreibens »einzutauchen«. Umfangreiche Appendizes erweitern die Materialsammlung, hilfreiche Indizes runden das Werk ab.