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Ausgabe:

Juni/2018

Spalte:

621–622

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Giambrone, Anthony

Titel/Untertitel:

Sacramental Charity, Creditor Christo­logy, and the Economy of Salvation in Luke’s Gospel.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2017. XV, 366 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 439. Kart. EUR 89,00. ISBN 978-3-16-154859-8.

Rezensent:

Petr Pokorný

Die Arbeit von Anthony Giambrone gehört zu der stattlichen Gruppe der neueren Arbeiten über das soziale Anliegen des Lukasevangeliums und der Apostelgeschichte. Ihr spezifischer Beitrag ist die Untersuchung des Themas der Wohltätigkeit vor dem Hintergrund des Almosengebens – des »Tuns der Gerechtigkeit«, wie es in Altisrael, im Frühjudentum und in der rabbinischen Tradition be­legt ist. Jesus wird dabei als guter Jude dargestellt.
Die ersten 66 Seiten sind der Forschungsgeschichte und der gegenwärtigen Debatte gewidmet, die übersichtlich präsentiert ist. Die Spannung zwischen der Idee des Besitzverzichts und den Aufrufen zum Almosengeben, die Hans Conzelmann hervorgehoben hat, hält G. mit Berufung auf die Arbeit von K. Mienshige (WUNT II/163) für eine Missdeutung, weil Lukas Besitzverzicht als Gelegenheit zum Almosengeben betrachtet: »Verkaufe, was du hast und gib’s den Armen.« (Lk 18,22) – Bedeutend ist vor allem, dass G. bei Lukas seine Verbindung der Wohltätigkeit mit dem Tisch des Herrn hervorhebt, in dem die Tradition der Gastfreundschaft vergegenwärtigt wird ( sacramental charity).
Die Exegese der Perikopen, die für die lukanische Sozialethik bezeichnend sind, wird in drei Teile gegliedert: In dem ersten wird die lukanische Auffassung von der Sünde als Schuld behandelt, wobei z. B. die lukanische Fassung der Geschichte von der Salbung Jesu durch die Sünderin als Beispiel der Wohltätigkeit dient, die als Antwort auf die Vergebung Gottes erwiesen wird (Lk 7,36–50). Die Auffassung des Heils als die Vergebung (afesis) der Sünden durch Jesus (creditor christology) wird durch die Zitate von LXX Jes 61,1 und 58,6 in Lk 4,18–19 unterstützt.
In dem zweiten exegetischen Teil wird die Hilfe des Samariters, die er dem Halbtoten (Lk 10,30) erwiesen hat, nicht als eine kühne Übertretung des Gesetzes im Namen der Nächstenliebe als des höheren Gesetzes (wegen der möglichen kultischen Verunreinigung durch Berührung eines Leichnams), sondern in jedem Fall (auch falls der Mann schon tot wäre) als eine Wohltat betrachtet, die dem Gesetz entsprach. Die Bestattung der Toten war nämlich eine religiöse Pflicht (siehe Tob 1), eine gute Tat, die mehr gilt als ein Opfer im Tempel (Hos 6,6).
In dem letzten exegetischen Teil wird das Gleichnis von dem unehrlichen Verwalter (Lk 16) als Rettung des Lebens vor dem Jüngsten Gericht durch Wohltätigkeit interpretiert (vgl. Spr 10,2), die der »Herr« lobt (Lk 16,8). Das Motiv der Wohltätigkeit Gottes oder der Wohltätigkeit der Menschen, die in beiden Fällen zum (ewigen) Leben führt (economy of salvation), findet G. auch in anderen Gleichnissen des Lukasevangeliums.
In der Zusammenfassung werden die mehrmals angedeuteten christologischen Ansätze in einer umfassenden Sicht der Wohltätigkeit als Antwort auf die Wohltätigkeit Gottes interpretiert (282), d. h. als eine imitatio Dei (Christi). Die Buße bekennt offensichtlich die Abhängigkeit von der Wohltätigkeit Jesu, die er den Menschen durch das Opfer seines Lebens erwiesen hat.
Durch den Mut, ein solches umfassendes und theologisch verankertes Bild der lukanischen Sozialethik zu konstruieren, unterscheidet sich diese Monographie sympathisch von mehreren anderen Arbeiten dieser Art, die eine theologische Reflexion vermeiden.
Das Bild selbst weist allerdings mehrere Inkonsequenzen aus. G. hat Recht, wenn er behauptet, dass Jesus im Lukasevangelium als ein treuer Jude dargestellt wird. Manchmal gerät er durch seine kühne Interpretation jedes Vorkommens des griechischen Wortes ἄφεσις als Erlass der Schulden (LXX Jes 58,6 und 61,1 – zwei verschiedene hebräische Äquivalente) in Schwierigkeiten, besonders wenn gerade im lukanischen Vaterunser »Schulden« durch »Sünden« ersetzt sind. Dies erklärt G. als Interpretation für die griechisch sprechenden Leser (Hörer).
Dass Lukas die jüdischen guten Werke als den Weg zum (ewigen) Leben (Spr 10,2) betrachtet, gilt auch nur in gewisser Weise. In Lk 9,60 relativiert Jesus ausdrücklich ein bedeutendes jüdisches gutes Werk, nämlich die Bestattung der Toten, das der Titelheld
des von G. oft zitierten Buches Tobit um den Preis seines eigenen Lebens erfüllt. G. betont mehrmals, dass er sich mit der lukanischen Theologie und nicht mit der historischen Kritik befasst, aber in diesem Fall taucht die kritische Stellung Jesu zu einem jüdischen religiösen Brauch auch in dem lukanischen Text auf. G. könnte einwenden, dass er sich der Komplexität des jüdischen Denkens be­wusst ist und z. B. auch Hos 6,6 zitiert. Aber dann wird seine Auffassung der Wohltätigkeit so breit, dass es schon einfacher wäre, von der Schlüsselrolle des Liebesgebots zu sprechen.
Die Deutung des Kreuzes Jesu als Wohltat und als Opfer im Tempelkult, die G. am Schluss seiner Monographie entwirft und die z. B. im Hebräerbrief hervorgehoben wird, steht bei Lukas nicht im Vordergrund und wird sogar radikal neu interpretiert: Bei Lukas ist Jesus gekommen, um das Verlorene zu suchen und zu retten (Lk 19,10). Jesus ist bei Lukas der Offenbarer des barmherzigen Gottes, der dies Bild des himmlischen Vaters in seinem ganzen Leben vorführt und durch seinen eigenen Tod besiegelt.
Diese Kritik soll allerdings nicht schmälern, dass G. ein inspirierendes und zur Diskussion einladendes Buch geschrieben hat.
Hilfreich ist das Verzeichnis der Sekundärliteratur, das mehr
als 40 Seiten beträgt; leider fehlt ein Stellenregister, das gerade in einem solchen Werk sehr nützlich wäre.