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Ausgabe:

Juni/2018

Spalte:

613–616

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Wagner, Andreas, u. Jürgen van Oorschot[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Individualität und Selbstreflexion in den Literaturen des Alten Testaments.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2017. 438 S. = Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie, 48. Kart. EUR 56,00. ISBN 978-3-374-04904-2.

Rezensent:

Alexandra Grund-Wittenberg

Der vorliegende Band versammelt Beiträge der zweiten und dritten Tagung der »Projektgruppe Anthropologie(n) des Alten Testaments« der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie und führt die in der ersten Publikation der Projektgruppe aufgeworfenen Diskussionen (s. hierzu ThLZ 142 [2017], 350–352) fort. Der Band dokumentiert, dass nunmehr aus der Auseinandersetzung u. a. mit R. Di Vitos Entwurf, wonach das alttestamentliche Personenkonzept u. a. von Ermangelung innerer Tiefen und grundsätzlicher Heteronomie geprägt sei, eine Reihe grundsätzlicher Klärungen und Differenzierungen hervorgegangen ist. Nach vier übergreifenden Beiträgen sind die Aufsätze den Themenbereichen Pentateuch, Vordere und Hintere Propheten, Psalmen und Recht zugeordnet. Ein Literaturverzeichnis (399–435) und ein Autorinnen-, Autoren- und Herausgeberverzeichnis (437 f.) beschließen den Band.
Christian Frevel, »Von der Selbstbeobachtung zu inneren Tiefen. Überlegungen zur Konstitution von Individualität im Alten Testament« (13–43), macht deutlich, dass Entwürfe wie derjenige von Di Vito die Geschichte der Entdeckung des Individuums fortschreiben, die als Mastererzählung der westlichen Moderne das Gegenmodell vormoderner, vorneuzeitlicher oder vorhellenistischer Personenkonzepte benötigt. Nach hilfreichen Erhellungen in der aktuellen Diskussion virulenter Termini (Ich-Identität, Individualität, ›innerer Mensch‹, ›innere Tiefen‹) zeigt Frevel, dass in zahlreichen, vor allem nachexilischen Textüberlieferungen im ›Inneren‹ des Menschen die Möglichkeit zu unvertretbarer, freier Entscheidung für oder gegen Gott bzw. zu gutem oder schlechtem Handeln verortet wird.
Jan Dietrich, »Hebräisches Denken und die Frage nach den Ursprüngen des Denkens zweiter Ordnung im Alten Testament, alten Ägypten und Alten Orient« (45–65), schließt an die Beobachtung an, dass in der forschungsgeschichtlich älteren Entgegensetzung des hebräischen Denkens im Gegensatz zum griechischen wie in der neueren Achsenzeitdiskussion die Kulturen des Alten Orients und des Mittelmeerraums als archaisch konstruiert werden und ihnen das Denken über das Denken (»Denken zweiter Ordnung«) abgesprochen wird. Demgegenüber macht Dietrich deutlich, dass sich ein Denken zweiter Ordnung bereits im Alten Ägypten und Mesopotamien sowie im Alten Testament, vor allem bei Hiob und Kohelet, findet.
Katrin Müller, »Die synthetische Körperauffassung – keine Besonderheit des hebräischen Denkens« (67–77), verdeutlicht unter Bezug auf Einsichten der kognitiven Linguistik, dass die von H. W. Wolff für ein spezifisch semitisches Denken im Gegenüber zum griechischen ausgewertete metonymische Verwendung von Körperteillexemen ebenso – wenngleich seltener – in modernen Sprachen zu finden ist, und relativiert so beträchtlich eine vermeintliche Besonderheit des hebräischen Denkens.
Lars Allolio-Näcke, »Individualität, Subjektivität und Identität in sozialwissenschaftlicher Perspektive« (79–90), unterscheidet bei den im Titel genannten Leitkonzepten anthropologische Konstanten und kulturabhängig unterschiedliche Ausprägungen. Während die Vorstellungen von Individualität, Fähigkeit zur Selbstreflexion und Subjektivität prinzipiell unter die anthropologischen Konstanten fallen, bleibe es jedoch fraglich, inwiefern aus den alttestamentlichen Quellen konkrete Ausprägungen von Subjektivität, personaler oder kollektiver Identität rekonstruiert werden können.
Michaela Bauks, »Die Selbstreflexivität des hebräischen Menschen in Gen 2,4b–5,1f« (93–115), zeichnet in der nichtpriesterlichen Urgeschichte in MT, LXX und rabbinischer Auslegung nach, wie nach ursprünglicher geschlechtlicher Indifferenz des ’ādām »biologisches« wie »soziales« Geschlecht entsteht. Dieser Prozess ist zwar auf gegenseitige Bezogenheit angelegt, gerät aber zu einem »ambivalenten Entfremdungsprozess« (114).
Ute Neumann-Gorsolke, »Das Ich des Menschen in den Erzählungen der Urgeschichte. Überlegungen zu Gen 2–3 und 4« (117–135), arbeitet heraus, auf welche Weise in Texten der nichtpriesterlichen Urgeschichte Selbstreflexion und -erkenntnis (Gen 2,23), Selbstbewusstsein (Gen 4,1b), Selbstbehauptung und -überschätzung (Gen 4,23b.24) sowie Freiheit, Verantwortung und Verdeckung von Schuld verhandelt werden.
Joachim Schaper, »Die Konstituierung des (göttlichen und menschlichen) Subjekts in Exodus 3« (137–146), macht auf Lektüren L. Althussers und B. Rotmans von Ex 3 aufmerksam, nach denen das Individuum Mose in der Begegnung mit Gott als Subjekt konstituiert wird und Mose nach Rotman in der Begegnung mit einem durch die Schrift entgrenzten göttlichen Ich zum Spiegel dieses Universal-Subjektes wird.
Sara Kipfer, »David – ›Individualität‹ einer literarischen Figur in 1Sam 16–1Kön 2« (149–181), vertieft den bereits als fruchtbar vermuteten (vgl. ThLZ 142 [2017], 351 zu Andrea Beyer) Zugang einer »narrativen Anthropologie« zu Individualitätskonzeptionen in der Antike, indem sie unter Zugrundelegung der narratologischen Figurenanalyse »identitäre« Merkmale der literarischen Figur David anhand der Fremd- und Selbstthematisierungen Davids beschreibt.
Uta Schmidt, »Individualität und Subjektivität im Danielbuch. Ein Beitrag zu alttestamentlicher Anthropologie« (183–197), profiliert mit dem von Sara Kipfer (s. o.) herausgearbeiteten Zugang die individuellen Züge der literarischen Figur »Daniel« als »[u]nterscheidbar, wiedererkennbar, hervorgehoben, mit Selbstreflexion bzw. Introspektion« (190). Zudem werden in der textpragmatisch akzentuierten Bereitschaft Einzelner zum Sterben für die eigene religiöse Überzeugung Subjekte als Ort der Entscheidung für den Gott Israels konstruiert.
Markus Saur, »Verantwortung. Zum Verhältnis von Individuum und Kollektiv im Ezechielbuch« (199–209), zeigt, wie in Ez 33,1–9; Ez 3,16b–21 und Ez 18 der Prophet und die Adressaten als Einzelne angesprochen werden, die für sich und für andere persönlich verantwortlich und prinzipiell zur Umkehr fähig sind.
Ernst-Joachim Waschke, »Zum Theodizee-Problem im Verhältnis von Individuum und Kollektiv« (211–217), versteht in seiner Response auf den Beitrag von Markus Saur die Übertragung der Verantwortung auf Prophet und Einzelne im Volk nicht als in der Anthropologie, sondern in der Theologie, mithin in der Theodizeefrage verorteten Lösungsversuch.
Thomas Wagner, »Zwischen Individualität und Kollektiv. Identitätskonstruktionen in den Gottesknechtsliedern« (219–242), arbeitet unter Einbeziehung der verstehenden Soziologie von Alfred Schütz die Bildung personaler Identität der Figur des Gottesknechts in Wechselwirkung zwischen Selbstwahrnehmung, von außen kommendem Auftrag und Fremdwahrnehmung durch die soziale Umwelt heraus. Die Identitätskonstruktion des Knechts findet nach Wagner letztlich bei Gott statt.
Martina Weingärtner, »Als Individuum im Kollektiv. Response zum Beitrag von Thomas Wagner« (243–256), bezieht in die kritisch-konstruktive Analyse des Beitrags von Wagner weiterführende Elemente wie den Begriff der Verständigung im Sinne von B. Waldenfels ein, nach dem Identität in wechselseitiger Einwilligung konstituiert wird und ein Text aus der Vergangenheit als »potentielles Mitsubjekt« (256) kritisch angeeignet werden kann.
Marianne Grohmann, »Individualität und Selbstreflexion in den Klageliedern« (259–277), verdeutlicht, dass die Threni vor allem beim bewusst eingesetzten Wechsel zwischen individuellen und kollektiven Stimmen Ansätze von Selbstreflexivität und Einsicht in individuelle und kollektive Verantwortung zeigen. Auch wenn Selbstreflexion hier nur in literarisch gestalteter Form greifbar wird, lässt ihre Darstellung durchaus erkennen, dass sie den Verfassenden der Threni keineswegs fremd war.
Susanne Gillmayr-Bucher, »›Ich wachte und war wie ein einsamer Vogel auf dem Dach‹ (Ps 102,8). Selbstwahrnehmung und Selbstreflexion in Krisensituationen« (279–296), schließt an Modelle zur Identitätskonstruktion von Keupp, Zima und Vandenberghe an, nach denen Identität in einem ständigen, dynamischen Prozess in narrativen und dialogischen inneren Diskursen mit sich selbst als einem Anderen (Ricœur) und mit Anderen als mit sich selbst gebildet wird. Sie zeigt, wie das lyrische Ich in Ps 102 im Zusammenspiel von innen und außen, von erlebter Gegenwart, Erinnerung und Hoffnung in der Situation der Infragestellung um die (Re-)Konstruktion der Identität in Orientierung auf JHWH ringt – eine literarische Bearbeitung einer krisenhaften Situation, die bis heute als Rezeptionsangebot gebraucht werden kann.
Anna Zernecke, »Vom ›Sich-Unterbringen‹ in den Psalmen. Überlegungen zur Individualität des Ich in den Psalmen« (297–311), betont im Anschluss u. a. an F. Crüsemann, dass Psalmen gerade aufgrund ihrer Deutungsoffenheit für eine Rezeption in verschiedenen Kontexten über Jahrtausende hinweg als Gebetsformulare geeignet sind, also auf überindividuellen Gebrauch zielen.
Bernd Janowski, »Persönlichkeitszeichen. Ein Beitrag zum Personverständnis des Alten Testaments« (315–340), behandelt umfassend die im alten Israel für den einzelnen Menschen gebrauchten äußeren Zeichen, wie Name, Körper(-teile), Objekte (Gewand, Sandale u. a.), die zur sicht- oder hörbaren Außenseite der Person und zum besonderen Ausdruck von Individualität gebraucht werden konnten.
Dorothea Erbele-Küster, »Zur Anthropologie der Ethik der (Liebes-)Gebote« (341–354), betont im Anschluss an Forschungen des »Mainz Moral Meeting« die Genregebundenheit ethischer Diskurse und legt dar, dass die Aufforderung zur Liebe in Dtn 6,5; 10 und Lev 19 Selbstreflexivität und der Appell an das menschliche Herz die Möglichkeit moralischer Entwicklung impliziert.
Matthias Hopf, »Zwischen Sollen und Sein. Einige rechtsanthropologische Überlegungen zum Menschenbild in Lev 19« (355–372), untersucht anthropologische Implikationen von Lev 19,2 in seinem Kontext, betont zu Recht die enge Verwobenheit von Seins- und Sollensaussagen, deutet die implizite Anthropologie des Heiligkeitsgesetzes überraschend im Kontext derjenigen von P (vor allem von Gen 1,26) und die Heiligkeitsforderung in Lev 19,2 ohne Bezug auf Lev 20,8; 21,8; 22,32.
Annette Schellenberg, »Der Einzelne und die Gemeinschaft nach den Rechtstexten des Alten Testaments« (373–398), macht deutlich, dass in der Regel nur der Täter selbst zur Verantwortung gezogen wird und es zur Gebotserfüllung eines im »Herzen« (lēb) verorteten inneren Engagements bedarf, dass aber die sogenannten Rechtstexte vielfach auf eine Reinigung und Heilighaltung des Kollektivs Israel zugunsten der Gemeinschaft fokussiert sind. In der für das Dtn typischen Anrede des Kollektivs Israel als Einzelperson erkennt sie die Vorstellung einer »Corporate Personality«.
Insgesamt ist in diesem Band gegenüber früheren, begrifflich oft noch unscharfen Publikationen zum Thema der methodische und terminologische Fortschritt deutlich zu erkennen. Angesichts der Vielfalt der einbezogenen theoretischen Modelle zeichnet sich ein Konsens, welche Aufgaben künftig anstehen und wie sie anzugehen sind, aber nicht recht ab. Eine den Fortgang der Diskussion zusammenfassende Einleitung der Herausgeber hätte hier den Ertrag des Bandes verdeutlichen können. Auch hätte ein weiterer Korrekturdurchgang, insbesondere hinsichtlich der Silbentrennung, dem Buch nicht geschadet. Der interessante Band dokumentiert aber sehr gut den Fortgang der anthropologischen Forschung zum Alten Testament und verdient es, auch in den anderen theologischen Fächern wahrgenommen zu werden.