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Ausgabe:

Juni/2018

Spalte:

609–612

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Knauf, Ernst Axel

Titel/Untertitel:

1 Könige 1–14.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2016. 408 S. m. Abb. u. Tab. = Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament. Geb. EUR 80,00. ISBN 978-3-451-26814-4.

Rezensent:

Winfried Thiel

Es ist ein Kommentar besonderer Art, der hier angezeigt wird. Auf eine seiner Eigenarten verweist Ernst Axel Knauf den Benutzer bereits im »Vorwort«: »Der Hauptakzent der Auslegung liegt auf der Tora-zentrierten TNK-Exegese; Altes und Neues Testament werden nur gelegentlich gestreift …« (9). Sam/Kön waren anfangs ein einziges Geschichtsbuch und wurden durch Prophetenredaktionen (meist des 4. Jh.s) zu Prophetenbüchern umgestaltet. Dieser Entwicklung soll die Interpretation entsprechen. Dabei legt der Vf. wenig Wert auf Kontinuität zur traditionellen Könige-Forschung; er betont eher die Distanz. Sie ist besonders gewichtig bei der Datierung und der Bestimmung der Herkunft. Während die Entstehung der Könige-Bücher überwiegend in der Exilszeit Judas angesetzt wird, datiert der Vf. sie in die Perserzeit. Von einer Herkunft der Bücher aus den Händen deuteronomistischer Redaktoren und Theologen will der Vf. nichts wissen; ebenso wenig von einem »dtr. Geschichtswerk«, dessen letzten Teil die Könige-Bücher gebildet hätten. Deuteronomistische Sprache und Theologie gehören zu den bedeutsamsten Kriterien in alttestamentlichen Texten. Dem Vf. nach sind sie aber, da angeblich zu breit und langwährend be­legt, als Mittel der Datierung nicht zu gebrauchen. Er nutzt dafür sein Urteil über die Sprachgestalt der Texte, Besonderheiten im Inhalt sowie archäologische Erkenntnisse (Gewährsmann ist dabei zumeist I. Finkelstein). Die Ergebnisse sehen dabei oft sehr anders aus als in der exegetischen Tradition.
Die Kommentierung erfolgt in großen Abschnitten: 1,1–3,1; 3,2–5,14; 5,15–8,66; 9,1–10,29; 11,1–43; 12–14. Der Kommentar wird durch einen langen Abschnitt »Einleitung« eröffnet (37–102). Dem Benutzer, der – wie bei Kommentaren üblich – nur einzelne Texte nachschlagen will, sei dringend geraten, vorher diesen grundlegenden Abschnitt zu studieren, um die einzelnen Textanalysen sachgemäß einordnen und beurteilen zu können. Die rekonstruierte Entstehungsgeschichte von (Sam) Kön ist nämlich kompliziert und nur mühevoll nachzuvollziehen (89–98), kann hier auch nur in Umrissen wiedergegeben werden.
Das Buch »entstand aus der Vereinigung einer ›Davidhaus-Ge­schichte‹ mit einem ›synchronistischen Exzerpt‹ […] aus den ›Annalen der Könige Israels‹ bzw. ›Judas‹, die als Quellen zitiert werden« (89). Mit einigen anderen Quellen verbunden, erwuchs in Babylonien durch einen Redaktionsprozess (D0) ein »Lehrbuch der eigenen Kultur und Geschichte« (93). Eine weitere Redaktion (D1) wird durch das Beharren auf »Kulteinheit und Kultreinheit« charakte-risiert. Dieses Programm entstand zwischen 518 und 484 v. Chr. in Jerusalem. Prophetische und proto-chronistische Redaktionen be­reicherten den Text weiter. Eine jüngere Redaktion (D2) macht am Untergang Judas das ganze Volk, nicht mehr nur die Könige ver­antwortlich. Eine hasmonäische Tora-Propheten-Redaktion ist ge­gen Ende des 2. Jh.s v. Chr. anzusetzen (nicht in Septuaginta [LXX] belegt).
Die Kommentierung erfolgt in den üblichen Methodenschritten: Literatur, Text, Zu Text und Übersetzung, Analyse, Auslegung, Zur Rezeptionsgeschichte. Dabei bietet der Abschnitt »Zu Text und Übersetzung« keine gewohnte Textkritik, die die Varianten diskutiert und beurteilt, sondern bezieht sich auf den Endtext (einige LXX-Befunde werden dennoch besprochen). In diesem Abschnitt geht der Vf. vielmehr den Begriffen und ihren Belegen nach, was manchmal statisch anmutet, aber auch Einsichten ermöglicht.
Im Anschluss an die »Analyse« findet sich in der Regel ein Abschnitt »Historischer Gehalt«, der meist knapp ausfällt. Da der Vf. kaum mit überkommenen Traditionen rechnet und die später entstandenen Texte meist als Zeugnisse aus der Zeit der Verfasser bzw. Redaktoren, d. h. als Fiktionen, beurteilt, ist die Ausbeute für den Historiker gering. Nach Meinung des Vf.s muss man in den Texten etwas anderes erwarten als historische Quellenaussagen: »Der Lektüre aus althistorischem Interesse hat der TNK auch dann etwas zu bieten, wenn man die darin konstruierten Mythen und Legenden durchschaut und seiner Großerzählung mit jener kritischen Distanz bei gleichzeitiger ästhetisch-religiöser Wertschätzung gegenübersteht, wie sie dem Mythos in aufgeklärtem Denken gebührt.« (294) Diese Äußerungen zeigen sehr schön die grundsätzliche Einstellung des Vf.s zu seinen Texten.
Der Benutzer, dem die historischen Erträge zu gering sind und zu wenig zur Vergewisserung beitragen, kann sich von den eigenen Hypothesen und Rekonstruktionen des Vf.s anregen lassen, die man überprüfen und beurteilen kann. Davon enthält der Kommentar eine große Anzahl, und sie bestimmen die Textinterpretation offenbar erheblich. Nur eine kleine Auswahl kann hier genannt werden: Salomo und Rehabeam waren historisch nicht Vater und Sohn, sondern zwei Namen für dieselbe Person, die »Salomo« als Thronnamen trug und im 5. Jahr zu »Rehabeam« wechselte. Der auf dieses Jahr datierte Feldzug des Pharaos Schischak (= Schoschenq I.) nach Jerusalem (1Kön 14,25) war kein feindlicher Angriff, sondern eher ein Staatsbesuch. Der Pharao betrachtete die beiden in Palästina entstandenen Kleinstaaten als Vasallen und versorgte sie mit Landbesitz auf Kosten der Kanaanäer (9,17–19).
Große Textflächen in 5,15–8,66 beschreiben den Bau und die Einweihung des Tempels in Jerusalem durch Salomo. Einen solchen salomonischen Tempelbau hat es historisch nicht gegeben. Die Annahme eines Tempelbaus im 10. Jh. ist »nur durch massive Um­deutungen und Umbauten des hebräischen Textes möglich« (22). Zudem war er nicht nötig, denn Jerusalem besaß ein älteres Heiligtum. Es war wahrscheinlich dem Stadtgott Schalem geweiht, hatte aber auch für die Verehrung anderer Gottheiten Raum. So wurde nun auch der Stammesgott JHWH in das Heiligtum aufgenommen. Die Annahme führt den Vf. zu dem spitzen Urteil: »Das (sc. der Text von 8,12) klingt mehr nach Hausarrest als nach einer großen Ehre. Man kann auch von einer Geiselnahme sprechen: die Gefangenschaft ihres Gottes im Tempel soll die Judäer dem König, der den Tempel kontrolliert, gegenüber gefügig machen.« (228; aber ist das altorientalisches Denken?) Allerdings wurde im Laufe der Zeit JHWH die dominierende Größe im Tempel. Der Baubericht in Kapitel 6–7 bezieht sich auf den Zweiten Tempel, der in der Perserzeit anstelle des von den Babyloniern zerstörten Heiligtums aus der vor-salomonischen Zeit errichtet wurde. Auch die Beschreibung des Palastes (7,1–12) zeigt Elemente persischer Herkunft.
Als Beispiel für einen Textkomplex sei auf die Interpretation von 3,2–5,14 verwiesen. 3,2–15, die Erzählung von der Erscheinung JHWHs vor Salomo in Gibeon, wird als prophetischer Berufungsbericht Salomos verstanden. Die folgenden Texte zeigen, wie die göttlichen Zusagen (Weisheit, Reichtum, unvergleichliche Königsgewalt, langes Leben) Schritt um Schritt eingelöst werden. »Die Grundschicht des Abschnitts wird von einer proto-chronistischen Prophetenredaktion gebildet, in die älteres Material eingebettet ist.« (163) Die Beamtenlisten in Kapitel 4, denen gern Authentizität zugeschrieben wird, sind in Wahrheit »historiographische Konstrukte« (163), die zur Charakterisierung des Übergangs von der Stammesherrschaft Davids zur autokratischen Bürokratie dienen, die freilich erst im 9. Jh. existierte. Die besondere Stellung Salomos als Prophet endete mit seiner Verwerfung (11,1–13).
In Kapitel 12–14 veranlasst der Textbefund in 12,1–10 und 14,1–18, diese Abschnitte als »redaktionsgeschichtliche Aporie(n)« (369) zu erklären. Zu 14,1–18 enthält LXX die ältere Fassung (370 f.393–396). Der Bericht von der sogenannten Reichsteilung wird aus der Jerusalemer Palastschule des 7. Jh.s hergeleitet. Die assyrischen Zerstörungen der Heiligtümer (733/32) führten zu einer israelitischen Kultzentralisation mit Betel als Zentralheiligtum. Sie war wohl das Vorbild für Joschija in Jerusalem.
Der Versuch JHWHs, mit Jerobeam I. eine neue »ewige Dynastie« zu schaffen, scheiterte wegen der Schuld Jerobeams (historisch gehört die Errichtung der Stierbilder allerdings erst in die Regierung Jerobeams II.). Das Urteil darüber (Kapitel 4*) wird in den Mund Ahijas von Schilo (keine historische Gestalt, sondern ein »theologisches Konstrukt«, 371, Anm. 10) gelegt und bezieht die ganze folgende Geschichte des Staates Israel ein. Der Text veranlasst den Vf., auch ins Neue Testament zu schauen (401 f.).
Es wäre noch viel über die Annahmen des Vf.s, seine Hypothesen, Kombinationen und vor allem seine Argumente zu berichten, doch ist das im Zusammenhang mit der Textinterpretation beim eigenen Studium sachgemäßer. Zur Form nur einige Beobachtungen: Die ersten Beispiele hebräischer Sätze (98) wirken abenteuerlich. Die zahlreichen Einzelbeispiele hebräischer Wörter weisen nur in relativ wenigen Fällen Druckfehler auf (gehäuft allerdings in 118.155.263 f.319.387). Das gilt, wenn vielleicht auch in höherem Maße, wie Stichproben nahelegen, für die zahlreichen Stellenangaben. Hier ist Nachprüfen empfehlenswert. Textanm. 2,38a konnte ich nicht finden. Einige Abbildungen und viele Tabellen machen die oft komplizierte Texterklärung übersichtlicher.