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Ausgabe:

Juni/2018

Spalte:

604–607

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Frevel, Christian

Titel/Untertitel:

Geschichte Israels.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2015. 445 S. m. 63 Abb., 17 Tab. u. 11 Ktn. = Kohlhammer Studienbücher Theologie, 2. Kart. EUR 35,00. ISBN 978-3-17-029228-4.

Rezensent:

Michael Pietsch

Drei Jahrzehnte nach der zweibändigen Darstellung der Geschichte des Volkes Israel und seiner Nachbarn in Grundzügen durch Herbert Donner (1. Aufl. 1984/86) legt Christian Frevel wieder eine umfassende Behandlung der Geschichte Israels in deutscher Sprache vor. Gegenüber dem älteren Grundriss der Geschichte Israels, den F. seit der 7. Auflage zu der von Erich Zenger herausgegebenen Einleitung in das Alte Testament beigesteuert hatte, ist der Umfang des neuen Studienbuches um mehr als das Doppelte angewachsen. Die Anlage ist dagegen unverändert geblieben. Zwar wurden einige Ab­schnitte neu geschrieben, andere stark umgearbeitet, vor allem aber wird das einschlägige Quellenmaterial jetzt ausführlicher diskutiert, als dies im knappen Grundriss möglich war. Dabei liegt ein Schwerpunkt auf der Präsentation der Befunde der jüngeren Palästinaarchäologie und ihrer oft strittigen Interpretation.
Darin deutet sich bereits der programmatische Neuansatz an, den F. mit seiner Darstellung verfolgt. Er unternimmt nicht (mehr) den Versuch, eine fortlaufende Geschichte Israels zu schreiben, in der einzelne Ereignisse narrativ verkettet und zu einer Meta-Erzählung verbunden werden, sondern will lediglich »Strukturen des Geschichtsverlaufs« herausarbeiten (41, Hervorhebung im Original), in denen die Konturen der Ereignisgeschichte aufscheinen. Hatte H. Donner die Aufgabe des Historikers 1970 noch als »Rekonstruktion, d. h. die sinnvolle Verknüpfung und Deutung des Überlieferten« beschrieben, die »gleichermaßen kritische Analyse der Überlieferung und konstruktive Phantasie erfordert« (Herrschergestalten in Israel, IX, Hervorhebungen vom Verfasser), so liegt der Akzent der vorliegenden Konzeption stärker auf einer Problemanzeige fragwürdig gewordener Voraussetzungen und Interpretationen der älteren Forschung. Damit ist die Gefahr, unter der Hand einer »subdeuteronomistischen Geschichtskonstruktion« (M. Weippert) zu erliegen, zweifellos ge­bannt, freilich um den Preis des Verzichts auf eine kohäsive Ge­schichtsschreibung überhaupt, und man wird fragen müssen, ob das Geschäft des Historikers bei F. nicht unterbestimmt bleibt.
Ist nach dem Gesagten bereits der Begriff der Geschichte im Titel des Werkes interpretationsbedürftig, so gilt dies nicht weniger für die als Israel bezeichnete Größe. Denn mit ihr ist bei F. nicht länger eine ethnische Gruppe gemeint, sondern in erster Linie eine politisch-territoriale Größe. Die Bezeichnung Geschichte Israels ist daher in mehr als einer Hinsicht einer forschungsgeschichtlichen Konvention geschuldet (33).
Wie stellt sich die neue Gesamtsicht der Geschichte Israels für F. dar? Hier können nur einige ausgewählte Aspekte genannt werden, an denen die veränderte Diskussionslage der jüngeren Forschung sowie das besondere Profil der vorliegenden Konzeption hervortreten. Die Darstellung setzt mit der Vorgeschichte Israels ein (42–65), in der F. umsichtig nach den Voraussetzungen der Entstehung Israels in der spätbronzezeitlichen Stadtkultur und nach möglichen historischen Überlieferungsspuren des biblischen Auszugsgedenkens fragt. Dabei hält er fest, dass Israel zwar indigen, d. h. in und aus Kanaan/ Palästina, entstanden ist, dass jedoch mit dem Zuzug einzelner südpalästinischer Nomadenverbände gerechnet werden kann, die den Jhwhkult (und mit ihm die Exoduserinnerung?) ins mittelpalästinische Bergland einführten.
Dieses Bild führt der zweite Abschnitt zur Entstehung Israels in Palästina (66–92) weiter aus. In kritischer Auseinandersetzung mit älteren und jüngeren Modellen der »Landnahme Israels« (u. a. Alt, Lemche, Finkelstein) betont F. den prozessualen Charakter der Entstehung Israels als eines polymorphen Stämmeverbandes im mittelpalästinischen Bergland in der Eisenzeit I (12./11. Jh. v. Chr.), dessen Beziehung zum Israel der Siegesstele des ägyptischen Pharao Merenptah (1208 v. Chr.) jedoch unklar bleibt. Die früheisenzeitliche Dorfkultur der neuen Siedlungen im Gebirge, die regionale Unterschiede aufweist, kann aus der spätbronzezeitlichen Stadtkultur abgeleitet werden, deren Inventar den veränderten Bedürfnissen angepasst wurde und keine Rückschlüsse auf die ethnische Identität der Siedler erlaubt. Die Organisationsform der Stämme deutet auf Ansätze zu sozialer Differenzierung hin, die zur Ausbildung substaatlicher, lokaler Herrschaftsstrukturen überleiten.
Bleibt die historische Analyse bis hierher weitgehend in konventionellen Bahnen, so ändert sich dies mit dem Abschnitt zur Entstehung des Königtums (93–171) nachhaltig. Die Entstehung der Territorialstaaten Israel und Juda wird als ein längerer Prozess begriffen, der erst im 9./8. Jh. v. Chr. zum Abschluss kommt. Dabei ist die Entwicklung im demographisch und wirtschaftlich schwächeren Juda gegenüber dem israelitischen Nachbarn um etwa ein Jahrhundert verzögert. Noch im 10. Jh. v. Chr. lassen sich im mittelpalästinischen Bergland keine signifikanten Indizien staatlicher Gesellschaftsstrukturen nachweisen. Dies ändert sich erst unter den Omriden in der ersten Hälfte des 9. Jh.s v. Chr. (vgl. Hazor Str. X, Megiddo Str. VA/IVB und Geser Str. VIII, die früher der Regierung Salomos zugewiesen wurden). Daraus folgt, dass über das Königtum eines Saul, David oder Salomo kaum mehr gesagt werden kann, als dass es sich um lokale Stammeskönigtümer mit räumlich (eng) begrenztem Einflussbereich gehandelt haben dürfte. Militärische Konflikte mit den Philistern, die zur Ausbildung staatlicher Strukturen geführt hätten, lassen sich archäologisch nicht nachweisen (die rezenten Grabungsbefunde in Ḫ. Qeiyafa, die ausführlich diskutiert werden, tragen hierzu nichts bei). Es ist nur konsequent, dass von einer detaillierten Beschreibung der Anfänge des davidischen Königtums in Jerusalem, wie sie noch bei H. Donner in engem Anschluss an die biblische Überlieferung zu lesen war, bei F. keine Rede mehr ist.
Gab es im 10. Jh. v. Chr. im mittelpalästinischen Bergland lediglich konkurrierende, lokale oder regionale Stammeskönigtümer mit substaatlichen Herrschaftsstrukturen, dann erweist sich die Vorstellung einer ›Reichsteilung‹, aus der die beiden selbständigen Staaten Israel und Juda hervorgingen, notwendig als späte litera-rische Konstruktion. Den Ursprung dieser fiktiven Konzeption sieht der Vf. im späten 8. Jh. v. Chr., als es Juda gelingt, sich endgültig aus der israelitischen Dominanz zu lösen, unter der Jerusalem seit der Zeit der Omriden gestanden habe. Das Verhältnis der beiden mittelpalästinischen Staaten kann aber mit dem Begriff einer ›verdeckten Vasallität‹ (H. Donner) Judas nicht hinreichend beschrieben werden. Stattdessen hätten die Omriden (und später die Nimsiden) als Klientel- bzw. Filialkönige in Jerusalem regiert. Von dieser Voraussetzung her entwirft F. anschließend die Ge­schichte Israels und Judas (172–286) neu.
Ein wichtiges Indiz für die These eines samarischen Filialkönigtums in Jerusalem stellt die auffällige Namensgleichheit der omridischen Herrscher Ahasja und Joram mit den zeitgenössischen Regenten in Jerusalem dar (vgl. in späterer Zeit noch den Nimsiden Joasch), aus der F. auf eine Identität der genannten Personen schließt. So sei beispielsweise Joram zunächst von seinem Vater Ahab als König in Jerusalem eingesetzt worden, bevor er nach nur zwei Jahren seinem verstorbenen Bruder Ahasja auf dem Thron in Samaria gefolgt sei. In der Folgezeit hätte er beide Staaten in Personalunion regiert. – Dabei bleibt jedoch unklar, wer unter dieser Voraussetzung der Herrscher über das ›Haus Davids‹ gewesen sein soll, den die aramäische Inschrift vom Tel Q ādi neben dem König von Israel (Joram?) erwähnt. Die Vermutung F.s, die deuteronomistische His­toriographie (oder ihre Quellen?) hätte die Namen der omridischen Herrscher verdoppelt und ihre Abfolge vertauscht, um den Eindruck zu erwecken, es handele sich um verschiedene Personen, bleibt letztlich zirkulär und hat keinen gesicherten Anhalt an der Textüberlieferung. Ob die Synchronismen in den Königsbüchern ein spätes historiographisches Konstrukt bilden oder (mindestens partiell) als quellenhaft gelten dürfen, bleibt hingegen eine offene Frage.
Die Entwicklung staatlicher Strukturen in Juda, die in der materiellen Kultur seit dem 8. Jh. v. Chr. zunehmend hervortreten, verdankt sich in dieser Sicht dem Protektorat der Könige von Israel, unter denen Juda sukzessive zu staatlicher Eigenständigkeit gelangt (erste Versuche einer Emanzipation Judas hat es vielleicht schon unter Joasch und Amazja gegeben). Ahas nutzt dann den politischen Druck der Assyrer, um sich von den Hegemonialansprüchen Samarias endgültig zu lösen. Wenn erst Ahas eine selbstständige Dynastie in Jerusalem etabliert haben sollte, stellt sich jedoch die Frage, wie es zur Bezeichnung ›Haus Davids‹ gekommen ist, die bereits Ende des 9. Jh.s v. Chr. epigraphisch belegt ist.
Die Darstellung der Epoche nach dem Untergang Samarias trägt wieder vertrautere Züge. Wichtig ist der Hinweis, dass die häufig angenommene Flucht großer Bevölkerungsanteile aus Samaria nach Jerusalem im Gefolge der assyrischen Eroberung weder im Befund der materiellen Kultur noch in der Siedlungsgeschichte Jerusalems nachweisbar ist. Die lmlk-Stempelsiegel, die auf zentralisierte Verwaltungsstrukturen hindeuten, dürften mit einer Reorganisation der staatlichen Administration in Zusammenhang stehen, um die regelmäßigen Tributzahlungen an den neuassyrischen Hof zu bewältigen, die seit dem letzten Drittel des 8. Jh.s v. Chr. den Staatshaushalt schwer belasteten, und nicht unmittelbar auf die Vorbereitungen zum Aufstand Hiskias gegen Sanherib zu beziehen sein. Fraglich ist ebenfalls, ob der Neubau der Wasserversorgung Jerusalems (vgl. die Siloah-Inschrift) bereits unter Hiskia erfolgte, wie häufig vermutet wird, oder erst später, und ob das Projekt angesichts der zu veranschlagenden langen Bauzeit wirklich durch die Aufstandspläne des Königs veranlasst gewesen sein kann.
Obwohl die jüngere Forschung zur Literaturgeschichte des Alten Testaments immer mehr Textpassagen der persischen (und hellenistischen) Epoche zuweist, bleibt die Darstellung hier vergleichsweise knapp (Geschichte Israels in der Perserzeit, 287–327). Die Perserzeit ist ereignisgeschichtlich nach wie vor ein ›dunkles Jahrhundert‹ (H. Donner). Das Kyros-Edikt (vgl. Esr 1,2–4; 6,3–5) hält F. mit der Mehrheit der jüngeren Forschung zwar für eine literarische Fiktion, die darin angesprochenen Vorgänge jedoch für historisch plausibel, wie analoge Verfahrensweisen der achämenidischen Herrscher belegen. Offen bleibt dagegen, ob der Wiederaufbau des Tempels bereits unter Darius II. (520–515 v. Chr.) oder erst in der Mitte des 5. Jh.s v. Chr. erfolgte, wofür der wirtschaftliche Aufschwung in der Region und die neu gewonnene politische Bedeutung Jerusalems als Schutz der Südgrenze des Perserreiches gegen Ägypten in dieser Zeit sprechen könnten.
Auch das Verhältnis zwischen Jerusalem und Samaria bedarf einer Neubestimmung. Die bekannte Rede vom samaritanischen Schisma und der alte Streit um dessen Datierung sollten in Anbetracht der neuen Ausgrabungen auf dem Garizim und der gewachsenen Einsicht in die pluriforme Gestalt des Judentums in der persischen und hellenistischen Epoche aufgegeben werden. Stattdessen ist von einem langzeitigen Prozess interferenter Identitätsbildungen auszugehen, der unterschiedliche Konzeptionen jüdischen Selbstverständnisses hervorbringt, die mit- und nebeneinander bestehen. Dies schließt die religiöse Symbolwelt ein, die nicht unbesehen mit einem monotheistischen Gotteskonzept gleichgesetzt werden kann, wie nicht zuletzt die Textfunde von der Nilinsel Elephantine aus dem 5./4. Jh. v. Chr. gezeigt haben. Eine klare zeitliche Grenzziehung zwischen dem alten Israel und dem Judentum (vgl. Wellhausen) scheint vor diesem Hintergrund kaum mehr möglich.
Es schließt sich ein Abschnitt zur Geschichte Israels in hellenistischer Zeit (328–366) an, der sich gemessen an der Gesamtanlage des Werkes überraschend eng an die antike Historiographie anlehnt und ein stärker narratives Gepräge besitzt als die Darstellung der früheren Epochen. Ein kurzer Ausblick auf die Geschichte Israels in römischer Zeit (367–380) beschließt den Band, der durch die üblichen Register und Verzeichnisse, das bereits aus dem Grundriss bekannte Kartenmaterial und ein vor allem für Studierende hilfreiches Glossar der verwendeten Fachtermini vorbildlich erschlossen wird.
Insgesamt markiert F.s Geschichte Israels bereits von ihrer Anlage her einen Paradigmenwechsel, der dem Befund der Palästinaarchäologie ein deutliches Übergewicht über die literarischen Quellen zubilligt, die stets einem bestimmten Interesse ihrer Verfasser verpflichtet sind. Dies spiegelt sich in der Auswahl der dokumentierten Quellen wider, unter denen nur wenige außerbiblische, literarische Zeugnisse zu finden sind (die biblischen Quellen werden in der Regel zu Beginn eines jeden Abschnitts summarisch vorgestellt). Eine breitere Berücksichtigung der literarischen Quellen hätte aber eine kohäsive chronologische Verknüpfung der geschichtlichen Ereignisse ermöglicht, die nach Ansicht des Rezensenten nach wie vor das Ziel einer Geschichte Israels bleiben sollte. Der archäologische Befund ist zwar für jede geschichtliche Konstruktion unverzichtbar, seine Leis­tungsfähigkeit auf dem Gebiet der Ereignisgeschichte ist jedoch per definitionem begrenzt. Von daher ist es vielleicht nicht nur bloßer Konvention geschuldet, dass die Anlage des Werkes weitgehend dem biblischen Geschichtsaufriss folgt, selbst wenn sie ihn häufig destruieren oder zumindest relativieren muss. Denn er stellt ein chronologisches (und historiographisches) Gerüst bereit, auf welches keine geschichtliche Darstellung verzichten kann.
Von der konzeptionellen Anlage des Werkes her erstaunt es, dass ein einführender Abschnitt zur Geographie Palästinas fehlt, besonders da F. im Anschluss an F. Braudel die Bedeutung der geopolitischen Strukturen für die kulturelle und politische Entwicklung einer Region ausdrücklich nennt (26). – Im Vergleich mit dem Entwurf der Geschichte Israels von H. Donner fällt zudem auf, dass die Geschichte der Nachbarregionen in der vorliegenden Darstellung mit wenigen Ausnahmen (Philister, Aramäer) nur marginal oder summarisch berührt wird. Dafür gibt es zwar pragmatische Gründe, doch betont F. selbst, dass die Geschichte Israels sinnvoll nur im Horizont einer Geschichte der südlichen Levante geschrieben werden kann (34), die daher eine stärkere Berücksichtigung verdienen würde. – Schließlich soll wenigstens angemerkt werden, dass die Geschichte der (israelitischen und) judäischen Diaspora nur in Ausschnitten (Ägypten) bzw. summarisch (Babylonien) in den Blick gerät. Dies hängt wohl mit dem politisch- territorialen Israelbegriff des Werkes zusammen, macht aber mindestens deutlich, dass dieser nicht frei von Verkürzungen ist.
Diese wenigen kritischen Anmerkungen sollen jedoch die große Leistung F.s in keiner Weise schmälern, der in Zeiten großer forschungsgeschichtlicher Umbrüche die differenzierten, häufig nur mühsam überschaubaren Diskurse zu den jeweiligen geschichtlichen Epochen gesichtet, systematisiert und ausgewertet hat. Er hat mit dem vorliegenden Werk ein wichtiges Kompendium zur Geschichte Israels geschaffen, das eigene Akzente setzt und bereits jetzt seinen Platz als unverzichtbares Referenzwerk für Forschung und Lehre eingenommen hat.