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Ausgabe:

Juni/2018

Spalte:

600–602

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Kraus, Matthew A.

Titel/Untertitel:

Jewish, Christian, and Classical Exegetical Traditions in Jerome’s Translation of the Book of Exodus. Translation Technique and the Vulgate.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2017. XIII, 266 S. = Vigiliae Christianae. Supplements, 141. Geb. EUR 114,00. ISBN 978-90-04-34297-2.

Rezensent:

Michael Fieger / Brigitta Schmid Pfändler

Matthew A. Kraus eröffnet in seinem Buch einen umfassenden Blick auf die Übersetzungstätigkeit des Hieronymus und auf die innere Logik im Schaffen des Hieronymus. Über eine mehrstufige Analyse der Vulgata-Version des Buches Exodus gelingt es ihm, diese Übersetzung wissenschaftlich an die Analyse des Gesamtwerkes des Hieronymus anzuschließen. Ausgehend davon, dass die Vulgata eine potenziell reiche Ressource ist, um Übersetzungstechniken und exegetische Wiedergabemöglichkeiten zu untersuchen, vertritt er die These, dass die Vulgata des Hieronymus gelesen werden muss als Übersetzungswerk, das in einem ständigen Dialog mit den leitenden Kulturen seiner Zeit und ihren jeweiligen Sprachsystemen entstanden ist. Er nennt diese Arbeitsweise des Hieronymus »recentiores-rabbinic philology«, wobei recentiores im ersten Sinn für die Rezensionen der Hexapla (Symmachus, Theodotion und Aquila) und im weiteren Sinn für alle Fassungen der Bibel steht, die Hieronymus bekannt waren. Rabbinic steht für den Bezug zur jüdischen Auslegungstradition und philology für das Arbeiten mit der lateinischen Grammatik und den Konnotationen aus dem lateinischen Kulturkreis. Diese Übersetzungstechnik be­leuchtet K. aus philologischen, exegetischen und historischen Blickwinkeln.
Einleitend spannt K. seiner Analyse einen weiten systematischen Boden, indem er sich mit der aktuellen Entwicklung der Übersetzungstechniken der Septuaginta auseinandersetzt. Er legt die Un­terschiede und Zwischenstufen zwischen wörtlicher und freier Übersetzung dar und macht auf deren potenzielle Koexistenz aufmerksam.
In Kapitel 1 zieht K. das umfangreiche Wissen über die Biographie und das persönliche und kulturelle Umfeld des Hieronymus heran, um dessen Arbeitsweise zu erfassen. Er verortet die Übersetzungen von Hieronymus in seinem Gesamtwerk und situiert die Analyse in der Fülle der Hieronymus-Studien.
In Kapitel 2 folgt ein Blick auf Hieronymus’ direkte Begegnung mit dem He­bräischen. Über das Studium von programmatischen Aussagen des Hieronymus und über eine Analyse naher Vergleiche von Übertragungen des Hieronymus mit dem hebräischen Ur­sprungstext stellt K. wortgetreue und freie Übertragungen fest. Er isoliert etymologische, klärende, intertextuelle und idiomatische Variationen zum hebräischen Text, die den Sinn des übertragenen Textes grundlegend beeinflussen. Dieser Analyseschritt dient auch der Klärung des Grades der wortgetreuen oder freien Übertragung, derer sich Hieronymus bedient.
In Kapitel 3 untersucht K. die Rolle der Zielsprache wie sie vom Übersetzer verstanden wird. Er argumentiert für eine genauere Beschreibung des philologischen An­satzes über Kategorien der spätantiken lateinischen Grammatik und stellt auffällige Parallelen zwischen Hieronymus’ Wissen über die lateinische Grammatik und den Übersetzungsschichten fest. K. entwickelt diesen Punkt ausführlich und anschaulich an­hand von zahlreichen Textbeispielen zur Lectio, Enarratio und Emendatio.
Längst nicht alle Textbeispiele können auf den beschriebenen philologischen Ansatz zurückgeführt werden, und so wendet sich K. in Kapitel 4 dem kritischen Umgang mit der Septuaginta und ihren Versionen, den sogenannten recentiores der Hexapla, zu. In­dem er den Blick weg von der Grammatik hin zu möglichen In­terpretationsvarianten leitet, bringt er einen innovativen Ansatz in die Diskussion ein. Er tut dies mit ausführlichen Textbeispielen, an denen er aufzeigt, wie sich diese Übersetzungsvarianten semantisch und syntaktisch niedergeschlagen haben. Er geht auch näher auf die unterschiedliche Akzeptanz des Hieronymus für die Septuaginta und ihre Versionen ein. K. will klären, wie die hebräische Gelehrsamkeit in Dialog mit den lateinischen Texten tritt. Er schließt aus Wiedergaben des Hieronymus, die nicht über das Hebräische oder über die lateinischen Versionen erklärt werden können, auf eine mögliche Rezeption einer rabbinischen Exegesetradition.
In Kapitel 5 macht K. in der Übersetzungstechnik rechtliche, theologische und historische Elemente aus dem jüdischen Kulturkreis aus. Diese will er verstanden wissen als aktive Exegese im Dialog der verschiedenen spätantiken Kulturkreise. K. ist überzeugt, dass ein Lesen der Vulgata in ihrem spätantiken kulturellen Kontext Informationen darüber gibt, wie der Text vom spätantiken Publikum selbst verstanden worden ist.
Nach diesen Ausführungen geht K. in Kapitel 6 genauer auf Textpassagen mit einer erkennbaren Latinität ein, die er für den einsprachigen lateinischen Leser oder Zuhörer als zugänglich an­sieht. Ebenfalls erkennbar sind für ihn eine innerbiblische lateinische Hermeneutik, technische Ausdrücke und Idiome so­wie spezielle Passagen in einmaligem klassischen oder spätantiken Kontext. Im letzten Kapitel fasst K. zusammen und weist auf sein Hauptanliegen hin: Die spätantike lateinische Welt des Hieronymus hat vielfachen, spezifischen Einfluss auf seine Übersetzungstätigkeit.
Ausgehend von den Studien zu Übersetzungen der Septuaginta und anhand von zahlreichen Textbeispielen zieht K. einen breiten Interpretationsrahmen für die Übersetzung des Hieronymus und geht weit über die Feststellung hinaus, dass Hieronymus neben der Aufmerksamkeit für die wortgetreue Wiedergabe eine freie Übersetzungstechnik gepflegt hat. K. unternimmt es, diese Freiheit der Übersetzung genauer zu lokalisieren und über den Einschluss exegetischer Übertragungen zu definieren. Dieser spannende und innovative Ansatz bleibt jedoch bis zu einem gewissen Grad spekulativ.
Zudem läuft K. stellenweise Gefahr, von den Überlegungen zur Exodus-Übertragung verallgemeinernde Schlüsse auf die gesamte Vulgata-Übersetzung zu ziehen, die mit Vorsicht zu genießen sind. Indem er die Vulgata als aktiven Teil eines dynamischen literarischen und kulturellen Systems der Spätantike verortet, hat er diese Diskussion aber eindrücklich eröffnet.
K. ist überzeugt, dass diese Art biblischer Studien eine Land-
karte zeichnet zum Erkennen der Religiosität und Spiritualität der spätantiken Welt des weströmischen Reiches. Innerhalb dieser neuen Landschaft von Übersetzungsstudien und spätantiker Wissenschaft müssen sich die konventionellen Beschreibungen von Hieronymus und seinem Werk in Zukunft wohl messen lassen. Dabei weist der offene und interdisziplinär produktive Blick der vorliegenden Studie auf einen Zugang der Neubewertung des Übersetzungswerks von Hieronymus. Wie K. zeigt, sind die Übersetzungen des Hieronymus eine Fundgrube von konkreten Hinweisen auf dessen Schaffen und Zeit. Dasselbe gilt aber auch für die Studie von K.
Das Buch bietet eine Vielfalt von möglichen linguistischen, literarischen und kulturellen Verbindungen und Verknüpfungen der Vulgata. Damit werden die Argumente um die vertiefende kulturelle Verortung bereichert und die literarische und linguistische Diskussion um das Übersetzungswerk des Hieronymus neu eröffnet. Ihm ist wohl beizupflichten, dass Übersetzer nicht nur ein tiefes Verständnis für die Natur der Übersetzung zeigen, sondern dass eine Übersetzung ein genauso einmaliges Verständnis über die Natur des Übersetzers bereithält. In diesem Sinn ist K. selbst ein exzellenter Übersetzer der Übersetzungstechnik des Hieronymus in die heutige Zeit.