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Ausgabe:

Juni/2018

Spalte:

597–599

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Harrisville, Roy A.

Titel/Untertitel:

Pandora’s Box Opened.An Examination and Defense of Historical-Critical Method and Its Master Practitioners.

Verlag:

Grand Rapids u. a.: Wm. B. Eerdmans 2014. X, 358 S. Kart. US$ 42,00. ISBN 978-0-8028-6980-7.

Rezensent:

Oda Wischmeyer

Roy A. Harrisville, Professor em. am Luther Theological Seminary
S. Paul/Minn., hat mit 91 Jahren ein lesenswertes Buch über die Ge­schichte und den gegenwärtigen Stand der Bibelwissenschaft vorgelegt. In einem angenehmen Englisch vermittelt der Vf. englischsprachigen wie deutschsprachigen Theologen eine Fülle von Einsichten in die großen Entwürfe der deutschen und amerikanischen protestantischen Bibelwissenschaftler. Im Zentrum seines Interesses steht dabei die historisch-kritische Methode (VIII). Während für eine amerikanische Leserschaft die Darstellung der deutschen Bi­belwissenschaft interessanter sein dürfte, wird die deutsche Le-
serschaft der amerikanischen Bibelinterpretation besondere Aufmerksamkeit widmen. Aus hermeneutischer Sicht ist zudem das Verhältnis beider Interpretationsansätze von besonderer Bedeutung.
Ich übergehe die Kapitel 1 bis 5 der älteren Geschichte der Bibelinterpretation und beginne mit Kapitel 6: »The Modern Period« (18. und 19. Jh.) und Kapitel 7 (20. Jh.). Kapitel 6 enthält im ersten Teil ausführliche Porträts der deutschen Protagonisten seit Schleiermacher. Im 2. Teil stellt der Vf. »The Americans« vor, beginnend mit Jonathan Edwards (1703–1758). Edwards wirkte als Pfarrer in Neu England und studierte und lehrte im Umkreis von Harvard, Yale und Princeton. Der Vf. rechnet ihn unter die common sense »tradi-tion in English thought« (145). Insgesamt gilt: »Edwards’s interpretation could be seen as in service to the moral or ethical« (147) und: »Edwards combined the analytic and intuitive« (148). Moses Stuart (1780–1852), der posthum »The Father of Biblical Science« genannt wurde (161), lehrte in Andover Altes und Neues Testament und beschäftigte sich mit der deutschen Hermeneutik (G. F. Seiler) und Exegese (J. G. Eichhorn, J. A. Ernesti, W. Gesenius). »Stuart, like
Ed­wards, saw the Christian community imperiled by the claims
on behalf of reason and rational religion […] On the other hand,
Stuart’s entire study of German scholarship was calculated to strengthen the orthodox position, first, by extracting the best of German scholarship, and second, by refusing the more radical German criticism« (149). Stuart verteidigte die grammatisch-historische Me­thode, gab aber auch »feeling and sympathy« Raum (155) – man denke an Peter Stuhlmacher und Papst Benedikt XVI. Dass
Stuarts Vertrauen auf »simple historic-grammatical and common-sense exegesis« zu kurz greifen und in unkritischen Biblizismus münden konnte, zeigt die Kongressdebatte über die Sklaverei und Daniel Websters Rede (1850). Stuart verteidigte Websters Haltung: »The Mosaic law does not authorize us to reject the claims of our fellow countrymen and citizens, for strayed or stolen property.« (160) Der Presbyterianer Charles Hodge (1797–1878) vertiefte die wissenschaftlichen Beziehungen zu Europa, speziell zu Deutschland. Er studierte in Paris, Halle und Berlin und wurde Professor für Systematische Theologie und Neues Testament in Princeton. Er bezog sich auf konservative deutsche Theologen (Friedrich A. G. Tholuck) und verteidigte die Inspiration (The Inspiration of Holy Scripture 1857). Sein theologischer Ansatz blieb der der calvinis-tischen O­rthodoxie. Seine Haltung zur Sklaverei unterschied sich nur graduell von Stuart. Er weigerte sich aus biblizistischen Gründen, Sklaverei per se abzulehnen: »Neither Hodge nor Stuart […] resolved the biblical question. Both had reached an impasse« (171) – normativer Biblizismus statt Hermeneutik.
In Kapitel 7 führt der Vf. nach zwei Essays zu Karl Barth und Rudolf Bultmann in »Chicago, Harvard, Yale, Union, Princeton« ein. Von der ersten, philologisch ausgerichteten Generation der Chicago School (1892–1920: Harper, Burton, Goodspeed) führt der Vf. zur zweiten Generation mit Shailer Mathews und Shirley Jackson Case, die sozialgeschichtlich arbeiteten. Der Vf. formuliert: Mathews »joined with Burton in shifting the authority of the Bible as text from the text itself to the men who wrote the texts« (202). Case beendete dann »the dominance of the biblical question« (203): »Case had moved steadily away from the New Testament toward defining his discipline as the social history of early Christianity« (ebd.). Und: »From now on, the Chicago School was basically so-ciological-historical« (204). Damit war auch die »authoritative or normative function of scripture in theology« beendet, wie der Vf. urteilt (ebd.).
Aus Harvard stellt der Vf. Kirsopp Lake und Henry Joel Cadbury vor. Lake war stark von Ferdinand Chr. Baur beeinflusst und arbeitete vor allem textkritisch und historisch. Der Quäker Cadbury legte besonderen Wert auf Grammatik und korrekte Übersetzung gegenüber »artificial theories and presuppositions about interpretation« (207, Zitat aus: Cadbury, Divine Inspiration and the New Testament). Im Zentrum stand für ihn die soziale Übersetzung des Evangeliums. Der Interpret soll strenge historische Rekonstruktion mit »a strong … prepossession« verbinden (209). Aus Deutschland übernahm Cadbury die formgeschichtliche Methode (Martin Dibelius). Der dialektischen Theologie Barths und Bultmanns und der entstehenden Biblischen Theologie (Reinhold Niebuhr) gegenüber blieb er ablehnend.
Besonders empfehlenswert ist der Abschnitt über Frank Chamberlain Porter (Yale), der eine eigene Hermeneutik entwickelte, die die historische Methode mit dem Verständnis der Bibel als Literatur verband: »Thus the Bible, expressed the universal element in human life« (217). Vom Union Theological Seminary stellt der Vf. F. J. Foakes-Jackson, Frederick Clifton Grant, John Knox und Samuel Terrien vor (»Hebraic theology of presence«) – Exegeten, die die Probleme der Bibelinterpretation in eigenen Monographien behandelten.
Die letzte und zugleich eine zentrale Gestalt des Buches ist der akademische Lehrer des Vf.s, Otto A. Piper, Nachfolger Karl Barths in Münster, 1933 entlassen, dann zunächst in England und seit 1937/38 in Princeton. Der Vf. führt in die vielfältigen systematisch-exegetisch-hermeneutischen Schriften Pipers ein, die in Deutschland wenig Echo gefunden haben.
Am Ende stehen vier auswertende Kapitel. In »Summing up« (Kapitel 8) benennt der Vf. wichtige Themen bzw. konstant gestellte Fragen der langen Geschichte der Bibelinterpretation und vermittelt einen Eindruck von den unterschiedlichen Lösungsvorschlägen, die von den einzelnen Forscherpersönlichkeiten und ihren historischen Kontexten abhängen. Am Anfang der modernen Fragestellungen steht für ihn Spinoza: »Since Spinoza, commitment to the historical-critical method on the part of the majority referenced was firm, with some iron-clad« (277). Ausnahmen waren Barth auf der einen, Shailer Mathews auf der anderen Seite. In »The Malaise« (Kapitel 9) verfolgt der Vf. die letzten fünfzig Jahre, in denen »the historical-critical method began to suffer a malaise […] or a steep decline«, aufgerieben zwischen konservativer Schrifttheologie oder Biblischer Theologie einerseits und synchronen und post-historischen Ansätzen (besonders rhetorical criticism, structuralism, deconstructivism) andererseits. Am Anfang von Kapitel 10 (»The Historical-Critical Method Down to Size«) formuliert der Vf. seine eigene These: »An alternative to historical criticism does not exist« (302) und begründet dies Urteil differenziert anhand der Themen: Objektivität, community, Text, Autor, Kritik. »A Last Word« (Kapitel 11) gilt dem kirchlichen Gebrauch. Der Vf. ist überzeugt, dass die historisch-kritische Methode der Evangeliumsverkündigung nützen kann. Umgekehrt: »To reject the critical method spells surrender in the church’s claim to any scientific basis for its exegesis.« (348)
Auch wenn aus Platzgründen keine umfangreiche eigene Würdigung mehr erfolgen kann, so sei doch zumindest abschließend hervorgehoben, dass der Vf. mit diesem Buch nicht nur einen differenzierten Beitrag zum gegenwärtigen Stand der historisch-kritischen Methode leistet, sondern auch auf die Notwendigkeit des Austausches zwischen nordamerikanischer und deutschsprachiger Exegese hinweist.

Korrektur S. 298: Dr. Michael C. Legaspi ist Associate Prof. für Altes Testament an der Pennsylvania State University (statt: Jesuit scholar M. C. Legaspi 1941–2001).