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Ausgabe:

Juni/2018

Spalte:

593–595

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Schreijäck, Thomas, u. Vladislav Serikov [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Das Heilige interkulturell. Perspektiven in religionswissenschaftlichen, theologischen und philosophischen Kontexten.

Verlag:

Ostfildern: Matthias Grünewald Verlag 2017. 488 S. Geb. EUR 52,00. ISBN 978-3-7867-4002-5.

Rezensent:

Rainer Neu

Das Heilige wird totgesagt. Auch und gerade in der Religionswissenschaft. Erdrückt vom Übergewicht konstruktivistischer Theorien, profaniert durch die Verabsolutierung geborgter sozial-, kommunikations-, sprach- oder kulturwissenschaftlicher Methoden, gescheitert an dem Versagen, eigene Kategorien zum Verstehen der Welt der Religionen zu erarbeiten. Verlorengegangen im Projekt der Postmoderne. Rudolf Otto, der sich in seinem Werk Das Heilige (1917) als einer von wenigen um eine eigenständige Methode des Faches bemüht hat und damit immerhin den einzigen Bestseller schrieb, den die deutsche Religionswissenschaft je hervorgebracht hat, wird hundert Jahre nach Erscheinen seines Buches gewöhnlich nur noch für historische Verweise zitiert. Und Mircea Eliade, der wie kein Anderer die Theorie des Heiligen kreativ fortgesetzt und zu begründen versucht hat, ist seit Jahren ins Kreuzfeuer einer vernichtenden Kritik geraten.
Darum ist es umso erstaunlicher, wenn die Diskussion um das Heilige gegen den Trend immer wieder aufflackert. Einer von de­nen, die das Feuer lebendig halten, ist Wolfgang Gantke, Seniorprofessor für Religionswissenschaft und Religionstheologie am Fachbereich Katholische Theologie der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Zu seinem 65. Geburtstag ist jüngst der vorliegende Band erschienen, dessen Beiträge aus einem internationalen Symposium im Januar 2016 an der Universität Frankfurt unter dem Titel Das Heilige interkulturell – Kontextualität und Universalität hervorgegangen sind.
Wolfgang Gantke hält im Zuge einer »problemorientierten Religionsphänomenologie« ohne metaphysische Spekulationen und ohne ahistorische Verallgemeinerungen an dem umstrittenen Begriff des Heiligen fest. Er bezeichnet damit die »Frage nach der Existenz einer unergründlichen und unverfügbaren transzendenten Wirklichkeitsdimension« (418) und fordert von der Religionswissenschaft, dass sie mit dieser Frage die »Transzendenzoffenheit« ihrer Forschungsbemühungen sicherstellt.
Angesichts der Tatsache, dass schon diese Frage von zahlreichen Kritikern als unwissenschaftlich zurückgewiesen wird, ist es umso erstaunlicher, dass sich in dem vorliegenden Sammelband zweiunddreißig Autorinnen und Autoren mit dem Mysterium des Heiligen aus interdisziplinärer und interkultureller Perspektive konstruktiv auseinandersetzen und damit dokumentieren, dass sie diesen Begriff noch immer als eine brauchbare Arbeitshypothese betrachten. In diesen Beiträgen werden die Grenzen der christ-lichen Religion schnell überschritten und die Forschungsperspektive wird – wie schon bei R. Otto und M. Eliade – auch auf andere Religionen übertragen. Dabei werden sowohl in religionswissenschaftlicher und theologischer als auch in philosophischer Perspektive aktuelle gesellschaftliche Fragestellungen aufgegriffen, die den Sammelband zu einer gegenwartsbezogenen und abwechslungsreichen Lektüre werden lassen.
Nüchtern muss man allerdings feststellen, dass auch in den vorliegenden Beiträgen eine Auseinandersetzung mit den Klassikern der Theorie des Heiligen kaum noch stattfindet. Nur sechs Autoren beschäftigen sich mit dem Werk Rudolf Ottos oder erwähnen es zumindest in ihren Beiträgen, nur zwei mit Mircea Eliade und nur einer mit Nathan Söderblom. Es wäre eine eigene Untersuchung wert herauszufinden, was denn die zweiunddreißig Autorinnen und Autoren dieses Bandes tatsächlich unter dem Begriff des Heiligen verstehen. Es dürfte sich oftmals um ein Durkheimsches Verständnis handeln, das das Heilige als einen Ausdruck gesellschaftlicher Wertvorstellungen betrachtet – ohne die Dimension des religiös Numinosen.
Dafür spricht u. a. die Beobachtung, dass in allen Beiträgen die von Rudolf Otto so eindrücklich herausgestellte Ambiguität der Erfahrung des Heiligen, nämlich zugleich mysterium fascinans als auch mysterium tremendum zu sein, völlig ausgeblendet bleibt. Im Sinne der Religionsphänomenologie genügt es allerdings nicht, »das Wahre, Gute und Schöne« als die Zentralbegriffe des Heiligen aufzufassen (so K. Wenzel, 59), wenn das Heilige nicht zugleich auch als das »Rätselhafte«, »Schauerliche« und »Grässliche« verstanden wird. Eine Ästhetisierung des Begriffs des Heiligen kommt zwar dem modernen Zeitgeschmack entgegen, wird jedoch kaum der Vielfalt religiöser Erscheinungsformen gerecht, wie sie sich gerade heute wieder in aller Deutlichkeit und Brutalität weltweit manifestieren.
Weiterhin fällt auf, dass sich kein einziger Beitrag auch nur beiläufig auf ethnische (»archaische«) Religionen bezieht, obwohl für die frühen Religionsphänomenologen hier eine wesentliche Quelle ihrer Beschäftigung mit dem Heiligen lag. Darin spiegelt sich eine weitere prekäre Situation der gegenwärtigen Religionswissenschaft wider, die jegliches Interesse an der Erforschung ethnischer Religionen verloren zu haben scheint, deren Vertreter kaum noch Feldforschung in außereuropäischen Kulturen betreiben und sich elementaren Erfahrungen religiösen Lebens weitgehend entfremdet haben. Trotz aller anderslautenden Rhetorik ist die jüngere Generation der Religionswissenschaftler in mancher Hinsicht oftmals eurozentrischer als ihre Vorgängergenerationen.
Natürlich darf von einem Sammelband auch nicht zu viel er­wartet werden. Eine additive Reihung von Beiträgen, wenn sie auch aus noch so unterschiedlichen Disziplinen stammen, führt von allein zu keinem interkulturellen oder interdisziplinären Neuansatz. Eine wünschenswerte transdisziplinäre Perspektive der Re­ligionswissenschaft wird letztendlich nur in einem in sich ge­schlossenen Werk eingenommen werden können, das nur von einer kleinen Zahl besonders ausgewiesener Forscher zu erwarten ist.
Die Hoffnung mancher gegenwärtiger Religionswissenschaftler, in den Kulturwissenschaften eine Metaebene der Reflexion für die Modernisierung ihres Faches und eine Vernetzungsmöglichkeit der Einzelergebnisse aus den unterschiedlichen Disziplinen zu finden, die für die Religionswissenschaft nützlich sind, unterliegt dem Irrglauben, sich aus dem Methodenpluralismus der Kulturwissenschaften zu einer neuen Einheit des Gegenstandes der Religionswissenschaft emporarbeiten zu können. Stattdessen wird die Selbstauflösung dieses Faches in die Kulturwissenschaft zu seiner Bedeutungslosigkeit führen.
Darum tut Wolfgang Gantke gut daran, an dem zwar umstrittenen, aber dennoch (wie die Vielzahl der Beiträge zeigt) bewährten und anwendbaren Begriff des Heiligen festzuhalten, um damit weiterhin »die lebendige, die authentische Religion« als Gegenstand der Religionswissenschaft zu sichern.