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Ausgabe:

Juni/2018

Spalte:

589–591

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Mastrocinque, Attilio

Titel/Untertitel:

The Mysteries of Mithras. A Different Account.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2017. XXI, 363 S. = Orientalische Religionen in der Antike, 24. Lw. EUR 99,00. ISBN 978-3-16-155112-3.

Rezensent:

Richard Gordon

Attilio Mastrocinque, Humboldtianer und bekannter italienischer Alt- und Religionshistoriker, der den Lehrstuhl für Alte Geschichte in Verona inne-, und sich vorher vor allem um die Veröffentlichung der gräko-ägyptischen magischen Gemmen verdient ge­macht hat, legt nun seine neueste Interpretation des römischen Mithras-Kults auf Englisch vor. Obwohl die Kategorie der »orien-talischen Religionen bzw. Kulte«, die eigentlich aus dem späten 19. Jh. stammt, mittlerweile immer weniger religionshistorischen Zuspruch ge­nießt, erscheinen paradoxerweise immer mehr Studien zu einzelnen dazugehörigen Kulten, vor allem über die Isis-Gruppe und den Mithras-Kult – so sind etwa in den letzten 15 Monaten nicht weniger als vier Mithras-Monographien und etliche Artikel erschienen.
Das letzte Buch dieser Größenordnung, das bei einem deutschen Verlagshaus veröffentlicht wurde, war Reinhold Merkelbachs gutbebildertes Mithras (1984), das zu seiner Zeit vor allem im deutschsprachigen Raum ziemlich erfolgreich war. M. hat von Merkelbach im Wesentlichen drei Grundthesen übernommen: der römische Mithras-Kult wurde von einem unbekannten, sehr belesenen religiösen Genie als Ganzes konzipiert, der über persische Religion relativ gut informiert, aber selbst griechischer Abstammung war; er wurde maßgeblich von theologisch-philosophischen Ideen, vor allem platonischen, inspiriert; und im Grunde war er schließlich eine eng mit dem kaiserlichen sozio-politischen System verbundene Loyalitätsreligion. Auch wenn M. sich in manchen Fragen von Merkelbach distanziert und sein Buch explizit als »eine neue Herangehensweise« präsentiert, ist seine Verbundenheit mit dem deutschen Autor auch im methodischen Ansatz deutlich: In einer sehr knapp gehaltenen Vorbemerkung berichtet er, dass er in seiner beruflichen Ausbildung gelernt habe, Alte Geschichte mit Philologie und Archäologie zu kombinieren, und sich immer noch als vergleichender Religionshistoriker alter Prägung verstehe; von moderneren Vorgehensweisen, z. B. soziologischen, historisch-an­thropologischen bzw. kognitivistischen, ist er wenig begeistert. Damit schafft er sich einen methodologischen Freiraum und vermeidet es, seine weitreichende Einbildungskraft vorgegebenen Be­grenzungen unterordnen zu müssen.
Eigentlich ist der römische Mithras-Kult eine archäologische Angelegenheit: Den unentbehrlichen primären Grundstoff, der stets durch neue Ausgrabungen und Zufallsentdeckungen zu­nimmt, liefert nur die Archäologie. In der Frühmoderne hat man, bis zur Mitte des 19. Jh.s, ausschließlich die bekannten Stiertötungsreliefs wahrgenommen, die vor allem in Rom und Umgebung, aber auch nördlich der Alpen gefunden wurden, seit dem Zweiten Weltkrieg aber zunehmend den Kleinfunden – Keramik, Tierknochen, rituelle Utensilien – aus den mithräischen Tempeln sowie ihren sehr unterschiedlichen räumlichen Ausgestaltungen Aufmerksamkeit gewidmet. Es war Manfred Clauss, der ehemalige Ordinarius für Alte Geschichte in Frankfurt am Main, der in seinem Mithras-Buch (1990, 22012) in explizitem Gegensatz zu Merkelbach den Vorrang des vielfältigen archäologischen Materials gegenüber der problematischen, in sich sehr heterogenen litera-rischen Überlieferung betont hat. Auch wenn M. die archäologischen Denkmäler gut kennt, ist sein Mithras-Kult, wie der von Merkelbach, und, lange vor ihm, der von Franz Cumont (1868–1947), eher eine literarisch-theologische Angelegenheit. Es ist off­ensichtlich der Fall, dass rein bildliche Informationsquellen dem Betrachter eine Vielzahl verschiedener Interpretationsmöglichkeiten eröffnen; wenn der Deutungskontext problematisch ist, wie so oft in der Altertumswissenschaft, kann nur eine relativ strenge Modellaufstellung vor interpretativer Beliebigkeit schützen bzw. Interpretationen innerhalb von bestimmten Rahmen einschränken. In diesem Fall jedoch fehlt eine solche selbstauferlegte explizite Begrenzung.
Der Band beinhaltet insgesamt 89 gut lesbare Abschnitte, die in elf Kapitel gegliedert sind. M. hat daher die Möglichkeit, praktisch alle Haupt- und Nebenfragen zu diskutieren, die in der nunmehr 300-jährigen Geschichte der (mehr oder weniger) wissenschaftlichen Mithras-Forschung aufgestellt worden sind. Sein Schlüsselerlebnis aber war die sehr originelle Erkenntnis, dass der Gott Apollon als Mithras auf der oberen Zone der Grande Camée de France, die meistens in die Regierungszeit von Tiberius (14–37 n. Chr.) da­tiert wird, als flügellose, aber fliegende weltkugeltragende Person in persischer Kleidung vor dem verstorbenen, d. h. vergöttlichten ( divus) Augustus abgebildet ist. Diese Deutung möge sehr um­stritten sein, sei aber durch Apollons Rolle als Garant des saeculum augusteum gesichert. Wenn Mithras so früh in die kaiserliche Selbstdarstellung aufgenommen worden ist, kann das nur bedeuten, dass der Gott durchweg von den Kaisern anerkannt und unterstützt wurde, jedenfalls unter dem Namen Sol-Apollon. »Der Kaiser selbst stellte Mithras dar« (44). Diese enge Verbindung zwischen Mithras und kaiserlicher Macht stellt eine wichtige Verbindung nach Osten dar, zum achämenidischen Reich einerseits und den gesamtiranischen Merkmalen des Grabheiligtums des kommagenischen Königs Antiochos auf dem Berg Nemrud Da ğ andererseits. Der Gründer der römischen Mithrasmysterien, der wahrscheinlich in Kleinasien geboren wurde, aber als kaiserlicher libertus am römischen Hof unter Augustus oder Tiberius (d. h. zwischen 27 v. Chr. und 37 n. Chr.) aktiv war (wie auch bei Merkelbach, der aber eher an den flavischen Hof, d. h. an die Zeit nach 69 n. Chr., dachte), hat einen Synkretismus zwischen Sonne (Sol), Apollon und Mithras vorgenommen, der zu einer besonderen kaiserlichen Theologie entwickelt wurde. Wenn Mithras dem Kaiser gleicht, muss der Stier selbstverständlich etwas Böses darstellen: Dessen Tod gleicht somit der Vollendung eines erfolgreichen Krieges und der Durchführung eines kaiserlichen Triumphes. Die aus seinem Schwanz hervorsprießenden Ähren deuten lediglich den militärischen Sieg, der immerwährende reiche Ernten ( Abundantia) garantiert, aber vor allem die Nahrungsmittelversorgung der stadtrömischen Bevölkerung an.
Es wurden keine Frauen im Kult zugelassen, weil die Mutter des Tiberius, Livia augusta, die im Jahr 29 n. Chr. verstarb, erst durch Claudius im Jahr 42 als diva konsekriert wurde. Die Auferstehung des verstorbenen Kaisers wurde durch den Kult zur Idealvorstellung für jeden Menschen nach dem Tod, unter der Bedingung,
dass er seine Zugehörigkeit zu einer besseren, unter Apollons Herrschaft geborenen menschlichen Gattung erkannte, und seine ewige Treue zum Mithras-Apollon-Augustus schwor. Auch die ge-samte Geschichte Roms wurde Teil dieser Lehre, die in sieben unterschiedliche Etappen untergegliedert wurde, jeweils unter Einfluss eines bestimmten Planeten.
Nahezu jede Seite des Buchs hat etwas ähnlich überraschend Originelles anzubieten. M.s Alleinstellungsmerkmal als Historiker ist es immer gewesen, einen Strich durch herkömmliches Denken zu ziehen und eine neue Sichtweise anzubieten. Eine solche Einstellung passt natürlich besser zu einer Monographie, so man denn einen willigen Verleger finden kann, als zu einem Aufsatz in einer streng begutachteten Zeitschrift. Andererseits ist es mit dem Le­bensmotto »Think Big« manchmal auch möglich, neue Zusammenhänge und Entwicklungen auszuarbeiten. In dieser Hinsicht hat M. meines Erachtens doch ein paar Einsichten gewonnen, die vielleicht weiterverfolgt werden können. Zum einen fragt er ständig nach den eigentlichen ikonographischen Vorlagen des herkömmlichen Stiertötungsreliefs. Zweitens zwingt er die Forschung, die Wahlverwandtschaft zwischen dem Mithras-Kult und der sozio-politischen Ordnung, obgleich er sie viel zu früh ansetzt, genauer in den Blick zu nehmen. Und drittens hat er völlig Recht, wenn er überhaupt keinen Einfluss des Mithras-Kultes auf die frühen christlichen Strömungen erkennt.
Das Kernproblem der Forschung bleibt jedoch die Prägung des Wortes ›Mithraismus/Mithraicismus‹ vel sim. im späten 19. Jh. Dadurch wurde unterstellt, dass im Römischen Reich eine einheitliche »orientalisch-persische« Religion gegründet worden sei, die irgendwie mit (einem völlig verfälschten) Bild des frühen Chris­tentums vergleichbar wäre. Das Negative an diesem Buch ist die Selbstverständlichkeit, mit der dieses überholte Bild weiterhin angenommen und weitergegeben wird. Es gab keinen Mithraismus in der Antike, nur vielfältige Formen der Verehrung und Ausgestaltung eines Gottes Mithra(s).