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Ausgabe:

Juni/2018

Spalte:

571–588

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Elisabeth Gräb-Schmidt

Titel/Untertitel:

Freiheit und Selbsterkenntnis

Zur Bedeutung der Buße in der Anthropologie Luthers

I Zur Gegenwartsrelevanz reformatorischer Grundeinsichten


Der reformatorische Paukenschlag beginnt mit den 95 Thesen,12 Das Epochale der reformatorischen Entdeckung liegt darin, dass die Buße eine neue Einsicht in die Seins- und Erkenntnisbedingungen des Menschen und seiner Freiheit markiert. Mit der Buße ist jenes Geschehen markiert, das das Individuum in seinem Sein vor Gott in seiner Endlichkeit ins Zentrum des Glaubens und der Erkenntnis rückt. Der Anlass der Formulierung der Thesen, die Kritik am Ablass,3 ist daher nicht nur eine äußerliche Kritik an Missständen der römischen Kirche, sondern eine grundlegende Kritik an der Kirche als Institution der Heilsvermittlung. So wird die Buße bei Luther nicht an die Kirche als ein sakramentales Heilsinstitut gebunden, sondern an den Glauben, der auf das individuell zu verantwortende, aber auch glaubend hinzunehmende Selbstverständnis des Menschen zielt. Es geht mithin in der Buße nicht in erster Linie um demütige Zerknirschung und Selbsterniedrigung, sondern um Klarheit und Wahrheit vor allem über uns selbst. Es ist die Konzentration auf das Selbst und die eigene Einsicht, die es nicht erlaubt, das Bußgeschehen zu delegieren an eine externe Ablasspraxis.

Luthers Kritik an der Ablasspraxis schließt damit die Kritik an einer verfehlten Bestimmung des Glaubens ein und das heißt des Gottesverhältnisses des Menschen und damit auch seines Selbstverhältnisses und Selbstverständnisses. Diese Einsicht erschließt sich dem Menschen nach Luther nicht durch Vernunft, sondern durch jenen Glauben, der im Bußgeschehen als demjenigen, das den Einzelnen herausfordert, allererst Einblick gibt über Vermögen und Reichweite von Vernunft und Freiheit des Menschen. Luthers Kampf gegen den Ablass intendiert mithin jenes Befreiungselement, das dem Menschen in seinem und durch sein Gottesverhältnis zuteil wird und das ihn seine Endlichkeit anerkennen lässt. Es ist die Unvertretbarkeit dieser Einsicht in die eigene Be­stimmung, die das Gewissen in der Buße formiert. Damit rückt bei Luther das Individuum, der Einzelne, in den Blick. Luthers Bußtheologie impliziert insofern auch eine radikale Er­kenntnistheorie, die die Vernunft über sich selbst aufklärt. Eine solche Aufklärung ist zwar nicht mit der neuzeitlichen Emanzipation des Subjekts identisch. Im Insistieren auf der unverstellten Sicht auf das eigene Urteilsvermögen und die Unvertretbarkeit des Einzelnen und dessen Verantwortung zielt das durch die Buße vermittelte Verständnis von Freiheit und Vernunft aber gleichwohl auf den zur Mündigkeit berufenen Menschen. Denn die besondere Bestimmung des Individuums als Bezugspunkt einer Letztinstanz des Urteilens ist theologisch begründet im Bußgeschehen. Sein Ausdruck ist die Anerkennung der Sünde als permanente Selbstvergessenheit und Verdrängung der Endlichkeit des Menschen,

die als hermeneutischer Ankerpunkt einer angemessenen Inanspruchnahme von Rationalität und Freiheit dient. Solches Urteilsvermögen ist also nicht durch Vernunft allein zu erlangen, sondern nur durch eine Vernunft, die über ihre Bedingungen und d. h. die Grenzen auch ihrer Freiheit aufgeklärt wurde. Gerade dies aber

ge­schieht nach Luther im Vollzug der Buße. Für Luther ist diese Erkenntnis die reformatorische Erkenntnis schlechthin.4 Indem es bei der Buße um nichts Geringeres als den Zugang des Menschen zu Wahrheit und Freiheit geht, der dem Menschen durch die Sünde verstellt wird, gewinnt die Kritik am Ablass als Kritik an einem verfehlten Bußverständnis fundamentaltheologische, und -an­thro­pologische und damit fundamentalphilosophische Relevanz.

Dieser Zusammenhang von Glaube, Vernunft und Freiheit, wie er sich im Bußgeschehen zeigt, soll im Folgenden näher beleuchtet werden. Luther versteht die reformatorische Entdeckung der Freiheit eines Christenmenschen im Bußgeschehen als Ermöglichung einer unverstellten Sicht auf die conditio humana. Daher soll zu­nächst 1. Luthers Sicht des Menschen, wie er sie in der Disputatio de homine5 entfaltet hat, dargelegt werden. Indem diese auf die zentrale Funktion von Sünde und rechtfertigender Gnade für den Menschen hinweist, wird 2. die reformatorische Bedeutung der Buße deutlich werden. Inwiefern diese nicht für eine vormodern-mittelalterliche Einstellung steht, sondern ein aufgeklärtes Freiheitsverständnis einschließt, wird durch die grundlegende Funktion des Geschehens der Buße für die Freiheit und Vernunft des Menschen sichtbar. Damit können 3. gegenwartsrelevante Einsichten und Weichenstellungen der reformatorischen Theologie Luthers benannt werden, die selbst über Aporien der Moderne im Freiheitsverständnis hinausweisen. Die Konsequenzen dieser reformatorischen Einsichten Luthers für die Moderne werden dabei 4. gerade darin sichtbar, dass sie vor allem die Ambivalenzen, denen das Menschsein unterliegt, nicht verschweigen.

II Luthers Sicht des Menschen


Die Sicht des Menschen, wie sie sich in den Thesen zum Ablass ankündigt und in der Konzentration auf die Buße abbildet, wird von Luther in seiner Disputatio de homine6 entfaltet. Martin Luther grenzt sich dort kritisch ab gegenüber den altbewährten philosophischen Konzeptionen vom Menschen,7 die in Anschluss an Platon und Aristoteles den Menschen als animal rationale, als zoon logon echon verstanden haben, aber auch – mit Platon – als den Menschen, dessen Bestimmung es ist, Gott ähnlich zu werden in der homoiosis theou.8 Dies hat weitreichende Konsequenzen für das Verständnis des Menschen.

Luther zeigt diese auf, indem er seine Aussagen in der Disputatio de homine in zwei Hinsichten entwickelt, in philosophischer9 und theologischer Hinsicht.10 Dabei wird die philosophische Sicht im Wesentlichen durch Kritik und Würdigung der Vernunft hinsichtlich ihrer Leistung der Erkenntnis und der Bestimmung des Menschen beurteilt und die theologische Sicht durch jene die Vernunft transzendierende Sicht des Glaubens mittels Offenbarung. Glauben und Wissen sind dabei nicht harmonisch einander zugeordnet, sondern durch einen Bruch gekennzeichnet, der zwar beides, Wissen und Glauben, bestehen lässt, aber nur dem Glauben die Fähigkeit einer ganzheitlichen Sicht des Menschen und seiner Wirklichkeit zuerkennen möchte. Die Vernunft hingegen ist ein abgeleitetes Vermögen, die nicht aus sich selbst Ziel und Zweck des Menschseins erkennen kann. Das aber heißt, über die Prinzipien des Erkennens und Handelns kann die Vernunft nicht bestimmen.

Luthers grundlegende Kritik an der Übernahme der aristotelischen Vermögenspsychologie durch die Scholastik ist, dass diese Möglichkeit in Aussicht gestellt werden könnte. So kritisiert Luther die Hierarchisierung der unterschiedlichen Vermögen des Menschen, die Aristoteles von Platon übernommen hatte, des leiblich-niedrigeren, des psychischen und des geistig-rationalen, höheren Vermögens. Darin sähe Luther die Gefahr einer Spiritualisierung des Menschen und seiner Seele. Nicht die Vernunft, sondern stets nur der Glaube gibt den Blick auf unseren Gottesbezug frei und lässt durch diesen die Vernunft in heilsamer Weise ihre Kraft und Reichweite erkennen. Weil aber solche Erkenntnis der Vernunft an die Offenbarung gebunden bleibt, können Freiheit und Erkenntnis nicht zur eigenen Möglichkeit der Vernunft werden. Das aber heißt auch, die Vernunft wird durch die Gnade nicht vermögender im Blick auf Ziel und Ursprungswissen, sondern allein im Blick auf die Kenntnis ihrer Grenzen und deren Konsequenzen für die Freiheit.

Nun könnte man meinen, Luther verwechselt – neuzeitlich mit Kant gesprochen – Vernunft mit dem Verstand. Die technische Rationalität ist in der Tat genau auf ihre Eigenart zu behaften, dass sie sich in Dienst nehmen lässt für allerlei Zwecke. Kriterium ist allein, dass sie zum Erfolg führt und effizient ist. Schließlich war genau die Kritik dieser technischen Rationalität Thema der »Dialektik der Aufklärung«, wie sie von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno entfaltet wurde. 11 Das Spannende ist nun aber, dass Luther genau diese Eigenart – sozusagen das »Technische« der Ra­tionalität, d. h. die reine Zweck-Mittel-Orientierung – nicht nur für das Vermögen, welches wir kritisch als Verstand bezeichnen, sondern für die Vernunft im Ganzen diagnostiziert hat. Auch die Vernunft ist nicht in der Lage, das Gute, d. h. die dem Menschen vorgegebenen Ziele und damit auch die Frage seiner Bestimmung, angemessen in den Blick zu bekommen. 12 Die Vernunft hat demnach bei Luther prinzipiell keinen apriorischen, sondern nur apos-teriorischen Charakter im Blick auf Wahrheits- und Freiheitserkenntnis.

Das gilt es festzuhalten, denn es führt Luther nun dazu, dass er sich in seiner Disputation zwar an die aristotelische Strukturbeschreibung des Menschen anlehnt, aber nur, um daraus die Be­schränktheit der philosophischen Sicht, d. h. der durch Vernunfterkenntnis zu erlangenden Sicht zu beschreiben. Die Vernunft hat durch sich selbst keine originäre Fähigkeit der Erkenntnis13 und auch keine Kraft über den Willen. Gegenüber der aristotelischen Vermögenspsychologie bestreitet Luther jegliche formative Kraft der Vernunft des Menschen. Nicht nur die sinnlichen Begierden sind unter die materia zu rechnen, sondern auch die Vernunft. Denn die Vernunft ist selbst endlich und begrenzt, und darüber hinaus ist sie Teil der sündigen Natur des Menschen. In Konsequenz dieser Beschreibung der conditio humana gewinnt nun für Luther eine weitere Charakteristik des Menschen zentralen Stellenwert: sein Schuldigsein als Signatur seiner Freiheit.

1 Luthers Verständnis von Freiheit und Schuld


Die menschliche Freiheit hat als endliche eine grundlegende Abhängigkeit zur Voraussetzung, die sie nur im Bewusstsein dieser Abhängigkeit bewahren lässt. Diese kommt im Schuldbewusstsein als Ausdruck der Freiheit zum Vorschein. In der Eröffnung seiner Schrift »Von der Freiheit eines Christenmenschen« bringt Luther diese Sicht in einer Doppelthese zum Ausdruck. Sie nimmt das

dialektische Wechselspiel von Freiheit und Abhängigkeit in seiner bleibenden Spannung auf: »Der Christ ist ein ganz und gar freier Herr über alles und keinem untertan. Der Christ ist ein ganz und gar dienender Knecht aller und allen untertan.«14 Aufgelöst wird diese Spannung nicht durch gewisse Zuordnungen des Frei- und Knechtseins, sondern durch ein eigentümliches Gleichzeitigsein der Abhängigkeit und Freiheit im Schuldbewusstsein, wie sie die menschliche Selbstbestimmung kennzeichnet. In der lutherischen Sicht des Menschen, wie sie in der Definition des hominem iustifi- cari fide15 zum Ausdruck kommt, ist daher auch das unauflösliche Schuldigsein des Menschen angesprochen. Die Schuld drückt dabei die grundlegende Passivitätsstruktur unseres Daseins aus. Indem uns das Leben gegeben ist, stehen wir in der Schuld des Schöpfers. Schuld ist damit also zunächst keine moralische, sondern eine exis-tenzielle Kategorie.

In dieser existenziellen Abhängigkeit und Schuld stehen wir auch und gerade in aller Freiheit des Denkens und Handelns. Denn selbst diese Freiheit verschulden wir jenem Gegebensein. Wir bringen uns nicht selbst ins Leben und bestenfalls auch nicht in den Tod. Unser Leben steht in der Spannung zwischen Verdanktsein und Geschuldetsein, sich zu seinem eigenen Sosein verhalten zu müssen und zwar sich so verhalten zu müssen, dass es sich in die gegebenen Verhältnisse einfügt. Diese Einsicht in die Ambivalenz der Freiheit ist nun aber nicht nur als eine in die biologischen oder sozialen Abhängigkeiten gemeint, im Sinne des Einfindens in eine ökologische und soziale Nische; sie ist auch nicht als moralische Schuld zu verstehen. Sie meint die Bestimmung, die den Menschen als das Wesen auszeichnet, das ein Selbstverhältnis eingehen kann und dieses im Bewusstsein jener Spannung zwischen Abhängig-keit und Freiheit präsent hält. Der Mensch ist nicht ohne diese Bestimmung des Selbstverhältnisses. Bewusst wird ihm dieses dadurch, dass sein Leben unter einer Bestimmung steht. Diese hält ihn als freies Wesen in einer relativen Abhängigkeit, die sein Streben nach Erfüllung und Ganzheit prekär werden lässt. Zum Vorschein kommt es untergründig implizit in seinem Sehnen, explizit aber in seiner Schuld bzw. in seiner Reue.

Luthers Verständnis der Freiheit basiert so zugleich auf seiner Erkenntnis der radikalen Ambivalenz des Menschen, die aus der Dialektik von Abhängigkeit bzw. Schuld und Freiheit resultiert. Diese kann selbst nicht überwunden werden, sondern sie baut jene spezifische Spannung auf, die sich in der Ambivalenz der Freiheit prekär zeigt. In dieser Spannung drückt sich daher auch das Spezifische des »Unfreien« des Willens bei Luther aus. Diese Freiheit kann sich nur an der Aufrechterhaltung dieser Spannung bewähren. Darum gilt: ohne Schuld keine Freiheit. 16 In Aufrechterhaltung dieser Spannung zwischen Freiheit und Abhängigkeit in Relation zu Gott und dem Mitmenschen gewinnt der Mensch jene Freiheit zur Verantwortung, die voraussetzt, dass er seine Schuld anerkennen kann und nicht negieren muss. Der Normalzustand des Menschen besteht nun aber darin, dass gerade dieses Bewusstsein der Schuld verdunkelt ist.17 Wir sind daher nicht nur Schuldner vor Gott, sondern Sünder.

2 Luthers Verständnis von Sünde und Schuld


Wie die Schuld, so ist auch die Sünde keine moralische, sondern eine existenzielle Kategorie. Die Sünde ist die Verdeckung des Bewusstseins der Schuld und damit ein Verkennen der konkreten Freiheit.

Entgegen der mittelalterlichen Tradition in ihren verschiedenen Ausrichtungen18 der Bestimmung der Sünde, schließt Luther an den augustinischen Begriff der Erbsünde19 an, radikalisiert diesen aber. Es ist die Erbsünde, die er in der concupiscentia verborgen sieht. Diese wird bei Luther nun aber nicht nur als sinnliche Be-gierde verstanden, sondern sie umfasst die menschliche Natur als Ganze. Gleichwohl wird durch den Sündenfall nicht die Natur des Menschen verändert,20 sondern die diese Natur kennzeichnende und für das rechte Leben maßgebliche Gottesbeziehung. So nimmt die Sünde die Person im Innersten, in ihrer Seele, in Anspruch.21 In der Missachtung des 1. Gebots verweigert sie den Glauben an den Schöpfer.22 Seine Seelenvermögen können unter der Sünde keiner Angleichung an Gott folgen, einem Gott-ähnlich-Werden nach Platon. Kennzeichen des Menschen ist jetzt vielmehr seine innere Zerrissenheit, die Verdeckungen und Lügen provoziert. Diesen kann der Mensch nicht entfliehen. Sie müssen ertragen werden und kennzeichnen sein Ausgeliefertsein an die Affekte.23

Entsprechend seiner Anthropologie, die eine Hierarchie der Seelenvermögen ablehnt, ist in Luthers Affektbestimmtheit nicht wie in der Antike und im Mittelalter – auch so noch bei Augustin – nur die Triebschicht des Menschen im Blick.24 Dieses Bestimmtsein durch die Affekte betrifft auch das vornehmste Vermögen des Menschen, nämlich seine Vernunft und Freiheit. In seiner Schrift De servo arbitrio hat Luther gerade dies minutiös gegenüber Erasmus als seine sozusagen »ursprüngliche Einsicht« charakterisiert. Lu­ther hat dort entfaltet, dass die Freiheit des Menschen keine Freiheit kraft Vernunft ist.25 Sie ist kein Vermögen des Menschen, sondern nur indirekt durch von außen initiierte Erfahrungen wirksam. Demnach ist menschliche Freiheit immer Ausdruck des Sich-Verlassens auf einen Gesamtzusammenhang, aus dem das eigene Wirken seine Rechtmäßigkeit erfährt, mit anderen Worten, sich in Einklang mit dem göttlichen Willen selbst betrachtet. Sie ist damit endliche, bedingte Freiheit, die ihre Kraft in Anerkennung ihrer Relationalität erfährt. Jede andere Freiheitskonkretion hin-gegen, die der Freiheit als Willensvermögen, als arbitrium, einen bloß selbstbestimmten Raum gewährt – ohne die Relationen mit zu berücksichtigen –, endet nach Luther in heilloser Verstrickung.

Kennzeichen dieser Verstrickung ist nun gerade die Leugnung der Schuld oder das Abschieben der Schuld auf andere.26 Nichts anderes bezeichnet die Sünde. Darum, weil die Freiheit kein Vermögen ist, ist auch die Sünde nicht nur menschliche Schuld, sondern als existenzielle Kategorie hat sie Teil an der Verschränkung von Abhängigkeit und Freiheit und führt in dieser zu bestimmten einseitigen Gewichtungen. So gewinnt sie den Charakter eines Machtphänomens, dem wir ausgeliefert zu sein scheinen. Und diese Macht erstreckt sich nicht nur auf die Affektgebundenheit, die sich als solche dann gegen die Moralität sperrte. Das Verhängnis des Menschen, das mit der Sünde signalisiert wird, ist das Verkennen der Bedingungen menschlicher Freiheit, die eben in jener Spannung zwischen Abhängigkeit und Freiheit bzw. Schuld liegen. Sünde ist Verkehrung der Freiheit, die sich als diese in der Vernunft als Bewusstsein von Freiheit einnistet. So korrumpiert die Sünde die Moralität, indem sie selbst deren Stelle einnimmt. Darum kann Luther sagen: »Das aufs Beste vollbrachte gute Werk ist eine tägliche Sünde.«27 Dieser Angriff auf die Moralität als Ausdruck selbstbestimmter Freiheit beschreibt die zirkuläre Selbstentmächtigung der Freiheit in der Sünde als Erbsünde. 28 Sie ist Abstraktion von der Situation, die sich im Relationsgefüge zeigt. Sie ist die Haltung, die die Einsicht in die Endlichkeit des Menschen verdeckt. Denn die Sünde äußert sich gerade darin, dass sie die Endlichkeit des Menschen, seiner Vernunft und Freiheit attackiert und damit dessen Bestimmung untergräbt. Im Sündenfall ist symbolisch festgehalten, wie sich der Mensch durch ein falsch verstandenes Vermögen seiner Freiheit ganz von seiner Gottesbeziehung entfernt hat. Seither unterliegt nach Luther das Verständnis menschlicher Freiheit als Willensvermögen der Verblendung durch die Sünde. Und daher kulminiert die Sünde darin, gerade durch die menschliche Freiheit selbst sich die Einsicht in die conditio humana verstellen zu lassen.

Sünde ist also wesentlich das Selbstmissverständnis der Freiheit. Sie resultiert aus einem Missverstehen unserer Handlungsbezüge und -vollzüge und ihrer möglichen Zielorientierungen im Blick auf das Gute und die Gerechtigkeit. Diese »Sünde« tritt ein und muss eintreten, sobald das eigene Handeln sich aus Zusammenhangsüberlegungen löst und in der Annahme besteht, selbst das Gute wollen und Gerechtigkeit errichten zu können oder zu sollen und das Verfehlen dieses Zieles nicht anerkennen zu kön-nen, sondern leugnen zu müssen. Zugespitzt formuliert: Sünde ist eigenmächtig bestimmte Freiheit als Leugnung von Schuld. So vollzieht sich mit der Sünde eine Verkehrung der Wirklichkeit in ihr Gegenteil, die die Wirklichkeit in das Nichts verwandelt 29

Heute würde man sagen, das Wesen der Sünde ist es, alternative Fakten zu verbreiten, insofern sich in der Sünde der Freiheitsverlust in der sich selbst verstrickenden Freiheit als Freiheitsvollzug suggeriert. So stellt sie ihre verkehrende Macht dadurch unter Be­weis, dass sie sie verdeckt. Um zur Wirklichkeit und Wahrheit vorzudringen, müssen daher solche Verkehrungen durchschaut, Vorurteile aufgebrochen werden.30

3 Luthers Verständnis von Sünde und Rechtfertigung


Die reformatorische Freiheit hängt am Aufbrechen solcher Vorurteile, die sich in der Vernunft einnisten. Das Problem, das Luther hier identifiziert, ist dann, dass die Vernunft tatsächlich in der Erkenntnis über sich und den Menschen im Dunkeln befangen ist. Ohne Aufklärung ist sie nicht daraus zu befreien. Diese Aufklärung ist eine solche, die die Vernunft in doppelter Hinsicht nicht leisten kann, aufgrund ihrer Endlichkeit und aufgrund ihrer Sündhaftigkeit. Vernunft und Freiheit werden schließlich nicht erst durch die Sünde tangiert, sondern bereits durch ihre Endlichkeit. Nicht erst die Sündhaftigkeit, schon die Endlichkeit des Menschen ist für das Selbstverständnis von Vernunft und Freiheit problematisch. Um zur Selbsterkenntnis zu gelangen, ist die Vernunft daher auf externe Leitorientierungen angewiesen, die sich aus Erfahrungen, ge­nauer aus Erfahrungen der Schuld, generieren.

Es ist nun aber diese Erfahrung der Schuld, an der der Mensch scheitert, die er nicht einfach als solche zulassen kann. Mit dieser Erfahrung ist der Mensch überfordert. Und diese Überforderung – die wesentlich eine Überforderung der endlichen Freiheit ist – ist das Einfallstor der Sünde. Denn sie bezieht sich auf die Freiheit unter Abstraktion ihrer Endlichkeit. Das aber ist die eigentliche Schuld der Freiheit. Insofern haben Schulderfahrungen selbstbestimmenden Charakter, d. h. in der Sprache der traditionellen Dogmatik, sie halten den Menschen entweder in seinem Sündersein fest und haben selbstverdeckenden, oder sie befreien ihn daraus und haben selbsterschließenden Charakter. Wie aber gelangt der Mensch zu dieser Erkenntnis unter der Bedingung von Sünde? Diese Erkenntnis muss ihm eröffnet werden. 31 Er kann sie nicht aus sich selbst gewinnen, sondern allein in der Bezogenheit auf seinen Ursprung und sein Ziel, d. h. durch die Erfahrung des Hinein-genommen- und Eingebundenseins in den Zusammenhang mit Gottes Schöpfung. Dies bezeichnet die Rechtfertigungserfahrung. Luther spricht hier von Gottes verheißendem Befreiungswort, das allein eine Erfahrung von Schuld zulassen kann. Befreiung ist an Erfahrung gebunden, die durch Begegnung und Anerkennung von Schuld – und das heißt zugleich der Endlichkeit der Freiheit – er­möglicht wird und so selbstaufklärenden Charakter hat.

Diese Erfahrung kann als »Neuschöpfung« bezeichnet werden. Als solche »Neuschöpfung« bedarf sie der Rechtfertigung, die die ursprüngliche Beziehung des Menschen wieder herstellt, sie neu »justiert«, indem sie dem Menschen die iustitia zuerteilt, die im angemessenen Gottesverhältnis besteht. Dieser Akt der Rechtfertigung des Menschen ist daher nach Luther zugleich die Bedingung der Möglichkeit von Aufklärung der Vernunft über sich selbst. Erst mittels solcher revelatio der ursprünglichen Beziehung erkennt sie. Daher ist es im Anschluss an CA IV die menschliche Schuld in ihrer Verdeckung durch die Sünde, die der Rechtfertigung einen zentralen Stellenwert im Freiheitsgeschehen zuweist. Wesentlich dabei ist, dass die Gabe der Rechtfertigung die Schuld tilgt, indem sie zum Schuldbekenntnis führt. Die Rechtfertigung löscht Schuld daher nicht aus, sondern sie wird gerade in und durch Anerkennung getilgt, die zum Schuldbekenntnis führt. Denn in der An-erkennung von Schuld im Schuldbekenntnis drückt sich der Relationscharakter der Freiheit aus. In der Tilgung der Schuld durch Anerkennung konkretisiert sich die göttliche Freiheitsbestimmung als unsere Rechtfertigung in unserem Schuldbekenntnis. Erst diese Tilgung der Schuld durch ihre Anerkennung in der Vergebung erschließt Freiheit und macht uns verantwortungsfähig. Ein Selbstmissverständnis der Freiheit zeigt sich damit immer punktgenau in ihrem Verhältnis zur Schuld.

In dieser Konstellation der Freiheit auf dem Boden der Anerkennung von Schuld behält aber auch das reformatorische Freiheitsverständnis das verantwortliche Subjekt im Blick. In der Vergebung der Schuld sind durch deren Anerkennung Handlungsakte eingeschlossen, die sich der durch Christus befreiten Freiheit des Menschen verdanken. So übergeht die Freiheit in Anerkennung der Schuld nicht das verantwortliche Subjekt, sondern zielt auf dieses. Der dargestellte Sachverhalt hebt also menschliche Freiheit nicht auf. Aber für das reformatorische Freiheitsverständnis ist die Anerkennung von Schuld im Schuldbekenntnis für das Verständnis von Freiheit zentral. Dass solch ein Schuldbekenntnis daher kein mittelalterliches Relikt ist, sondern ein differenziertes Verständnis von Freiheit ermöglicht, zeigt nun eben Luthers Bußverständnis.

III Die grundlegende Bedeutung der Buße

für das Selbst-, Vernunft- und Freiheitsverständnis des Menschen


Luthers Bestimmung von Vernunft und Freiheit justiert grundlegende anthropologische Weichenstellungen neu, die immer auch – und zwar bereits zu Lebzeiten Luthers – Missverständnissen ausgesetzt waren und heute noch sind. Die in der Bußtheologie getroffenen Weichenstellungen lassen das unvertretbare, an Erfahrung der Gewissheit gebundene Urteil des Einzelnen zum unhintergehbaren Ort der Einsicht in die Wirklichkeit der Freiheit werden. Die Einsicht in die Struktur des Bußgeschehens wird bei Luther daher als Einsicht in die conditio humana zum Dreh- und Angelpunkt seiner theologischen Arbeit, die vor allem um die Frage menschlicher Freiheit und Schuld coram deo kreist.32 Indem sich in der Buße ein unvertretbares Ergriffensein des Individuums abbildet, lässt diese das Gewissen des Einzelnen hervortreten als dasjenige, das durch den Glauben die Urteilsfähigkeit des Einzelnen stärkt und ihm durch dessen inhaltliche Bestimmtheit Urteilskriterien an die Hand gibt. So ist es nach Luther nicht die Vernunft, sondern die Gewissheit des Glaubens, die den Menschen in seinem Denken und Handeln ausrichtet. Diese Gewissheit hat aber das Schuldbekenntnis der Buße zur Voraussetzung. Kein anderer Weg des Menschen führt ihn zur Freiheit. Denn erst im Schuldbekenntnis versteht sich der Mensch als in Relation zu Gott stehend, in die er eingebunden ist und die ihm seinen Handlungsraum erschließt. Für Luther repräsentiert die Buße geradezu den Möglichkeitsraum der Freiheit als solchen.

Nun scheint aber gerade eine solche Bestimmung der Eingebundenheit des Menschen nicht mit einer Selbstbestimmung des modernen Subjekts in Einklang stehen zu können. Vielmehr könnte man auf den ersten Blick meinen, ein solches Motiv der Buße, die die Eingebundenheit des Menschen in die Gottesbeziehung be­tont, lässt Martin Luther ganz im Mittelalter verwurzelt sein. In gewisser Weise trifft das auch zu.33 So hat Luther vieles von der mittelalterlichen Mystik eines Bernhard von Clairvaux übernommen, so vor allem den Gedanken der Demut. Als Weg zur inneren Selbsterkenntnis ist die Demut ein tragendes Motiv von Luthers Theologie,34 und dieses spielt in seinem Bußverständnis eine bedeutende Rolle. Aber bei aller Nähe Luthers zur Mystik manifestiert sich dennoch in seinem Demutsverständnis ein entscheidender Unterschied.35 Er besteht in zweierlei, zum einen teilt Luther nicht Bernhards Verständnis der Humilitas als einer Tugend.36 Die in der Buße sich vollziehende Demut darf nicht als frommes Werk mit satisfaktorischem Charakter verstanden werden.37 Zum andern geht es bei Luther im Bußgeschehen gerade nicht nur um den Ge­danken der Selbstverneinung, sondern zugleich auch um den der Selbstbestätigung des Menschen, und zwar gerade durch sein eigenes, unvertretbares Ansichtigwerden in der Selbstnichtung. So deckt die Buße den dialektischen Zusammenhang von Schuld und Freiheit auf.

Die Humilitas verbleibt damit nicht in einer Passivität, sondern sie lässt aus dieser – in der Anerkennung der Schuld durch die Rechtfertigung – eine dem Menschen eigentümliche Aktivität entstehen. Dieser Umschlag von der Passivität zur Aktivität besteht in etwas Doppeltem. Erstens, dass der Mensch seine Nichtigkeit zu­gleich als die ihm eigentümliche relationale Freiheit erfährt, und zweitens aber, dass diese Freiheit gerade aufgrund ihrer Relationalität darin besteht, sich als schuldig zu erkennen und zu be­ken-nen. Beides ist mithin seiner Relationalität geschuldet, in die der Mensch durch die Rechtfertigung zurückfinden kann.

Aufgrund der Bedeutung der Schuld, die, gerade als vergebene, im Rechtfertigungsgeschehen auf das Subjekt zielt, führt die Buße im Rechtfertigungsgeschehen also nicht zur Selbstauflösung, sondern zur Selbstanerkennung. In der Vergebung und Anerkennung der Schuld hat die Rechtfertigung damit das selbstbestimmte Subjekt im Auge. Um es an einem Beispiel zu veranschaulichen: Auch für Luther ist die Christusmeditation von großer Bedeutung.38 Durch sie lernte er schließlich – unter den Hinweisen Staupitz’ – sein verzweifeltes Gerechtigkeitsstreben als irregeleitet zu erkennen. Die Betrachtung des Leidens Christi führt bei Luther nun aber nicht zum Innewerden Gottes allein im Selbstverlust, sondern im Gegenteil kommt es in der meditativen Konzentration auf die Niedrigkeit des Selbst zu dessen Neukonstitution. Die Buße ist damit selbst in Entsprechung zu der der Freiheit des Menschen in seiner Rechtfertigung angemessenen ambivalenten Gestalt zu se­hen. Sie ist es, die in der Dialektik von Demut und Selbstverantwortung unser Leben vor Gott bestimmt.

In der Buße drückt sich nach Luther jenes Erkennungs- und Anerkennungsverhältnis aus, das uns im Vollzug des Rechtfertigungsgeschehens in der Begegnung zuwächst und das uns in die uns vom Schöpfer zugedachte Freiheit zurückführt. Und nur in diesem Anerkennen des göttlichen Willens im Subjekt wird dessen Freiheit in die angemessene – und nur so als freiheitlich verstan-dene – Haltung überführt. Die Freiheit des Menschen meldet sich demnach zwar weiterhin in der Zumutung oder Pflicht, und darin fühlt sich das Subjekt angesprochen. Diese Pflicht versteht sich jedoch darin, jener Relationalität zu entsprechen, die den Menschen dadurch in Anspruch nimmt, dass er diese Entsprechung auch will. Es ist daher die Dialektik von Pflicht und Gabe, die sich im Bußgedanken als Konsequenz der Rechtfertigung abbildet. Denn die Buße lässt uns erkennen, dass unsere Freiheit in Gottes Willen begründet ist und genau darum als Pflicht begegnet, der wir in Freiheit – und das heißt in Anerkennung des Willens Gottes – entsprechen wollen.

Die Buße hat also für Luther einen zentralen Stellenwert für die Bestimmung des glaubenden als gerechtfertigten und damit freien Menschen, weil sie den intrinsischen Zusammenhang der besonderen Verhältnisbestimmung von Freiheit und Abhängigkeit bzw. Schuld nicht nur abbilden, sondern dieses Verhältnis auch in eine Dominanz der Freiheit überführen kann. Ausdruck des solchermaßen mit der Buße bezeichneten Geschehens relationaler Freiheit ist der sich im Sündenbekenntnis bildende Revisionsgedanke. Ohne Revision in das vergangene Schuldigsein gibt es für den Menschen keine Freiheit. Denn nur die Revision vergangener Schuld lässt die Erkenntnis und Selbsterkenntnis des Menschen in unverstellter Weise zu und eröffnet so den Rückweg in die Freiheit, die sich der Pflicht gerne stellt. In dieser Revision ist die Buße Ausdruck der durch die Rechtfertigung erlangten Befreiung aus den Verdrängungsversuchen begangener Fehler und fehlender Anerkennung. In der Rechtfertigung bildet der Revisionsgedanke daher geradezu das Strukturelement der Freiheit, das sich in der Buße als Glaube der Befreiung zur Freiheit ausdrückt.

Luther stellt damit den die Buße leitenden Revisionsgedanken als den entscheidenden für die Bestimmung menschlicher Freiheit als Befreiung heraus. So steht aller Vernunftkritik des Glaubens zum Trotz gerade die Buße dafür ein, dass die individuelle Urteilsfähigkeit des Menschen und damit seine Vernunft und Freiheit erhalten bleiben. Darum gilt für den aus dem Paradies vertriebenen Menschen: Das ganze Leben soll eine tägliche Buße sein. Das ist kein masochistisches Selbstzerfleischen, sondern dieser Vorgang wird von Luther als die Bedingung der Selbsterkenntnis des Menschen in seiner Freiheit gesehen. Diese Erkenntnis besteht darin, zu erkennen, dass Vergebung nicht nur möglich, sondern dass Vergebung das Lebenselixier des durch die Schuld gezeichneten Menschen ist, weil allein sie einen Rückgang in das Schuldiggewordensein und die damit verbundene Reue zulässt. Im Einschlussverfahren des Gewesenen und Erinnerten in allen seinen Dimensionen und Abgründen gewinnt der Mensch seine Freiheit im Akzeptieren- und Annehmenkönnen der Schuld und im Zulassenkönnen der Reue.

Die Reue aber ist Ausdruck der Anerkennung von Schuld, zwecks Wiedergewinnung von Freiheit, und zwar der Freiheit zur Pflicht und Verantwortung. So bildet sich in der Reue die formale Gestalt der Buße ab als Ermöglichungsbedingung einer Freiheit des Subjekts. Diese Reue bindet die Freiheit an das Moment der Befreiung, das sich aus Erkenntnis und Anerkenntnis eigener Schuld, eigener Fehler und eigenen Versagens ergibt. Es ist diese Reue, in der bei Luther die Buße wesentlich auf die Freiheit und Verantwortlichkeit des Menschen zielt.

Damit aber wird die Buße zur conditio sine qua non für die Entwicklung jenes aufgeklärten Freiheitsverständnisses über sich selbst, das Luther nicht nur in Kontinuität mit dem Mittelalter stellt, wie es die Aufnahme des Humilitasgedankens nahelegte, sondern das ihn auch mit der Neuzeit verbindet. Diese Verbindung liegt im Sich-In-Anspruch-Nehmen lassen zur Selbstverantwortung durch und in der eigenen Selbsterkenntnis als Schulderfahrung und der Befreiungserfahrung in der Rechtfertigung.

IV Die bleibende Relevanz der reformatorischen Einsichten Luthers für das Selbstverständnis

des Menschen, seiner Vernunft und

Freiheit des Gewissens


Wir haben gesehen: Nicht nur für die Moderne, sondern auch für die Antike und die mittelalterliche Theologie ist die Bestimmung des Menschen an seine Freiheit gebunden.39 Auch Luther ist kein Gegner von Selbstbestimmung und Freiheit als solcher. Aber er problematisiert diese, indem er die Freiheit der Vernunft an jene des Gewissens bindet.40 Denn nicht die vernünftige Reflexionssubjektivität ist bei Luther als Rekursfundament im Blick, sondern die sich in der individuellen Gewissensbildung vollziehende Einsicht in die Wahrheit von Gottes Wort. Das erhellt die Bedeutung der Freiheit des Gewissens für Luther, die eng mit dem Verständnis der Selbstbestimmung des Menschen verbunden ist. Die Freiheit des Gewissens ist nicht durch Beliebigkeit und Willkür gekennzeichnet. Frei ist das Gewissen vielmehr durch Anerkennung einer Ge­wissheit, an die es gebunden bleibt. Solcher Freiheit entspricht im Begegnungs- und Widerfahrnischarakter ein unhintergehbares Moment, das die Selbstbestimmung als extern initiiert sieht. Als Ort dieser Initiation fungiert das Gewissen. Ohne die Gebundenheit der Vernunft an die im Gewissen sich bildende Gewissheit zu erkennen, bliebe sie orientierungslos und abhängig von äußeren Moden, Konventionen, von fremden Einflüssen und Verführungen.

Mit der Einbeziehung des Gewissens findet sich bei Luther da­mit das über die Vernunft hinausweisende kritische Moment des Glaubens. In der Gebundenheit in Gottes Wort verschafft er dem Menschen im Gewissen als innere Erfahrung Gewissheit über Sinn und Wahrheit des Daseins. Es ist das Gewissen in seinem Gefordertsein, das für die Unverwechselbarkeit und Unvertretbarkeit des Individuums steht, und zwar gerade durch Einsicht in das eigene Schuldigwerden, die die Rechtfertigung ermöglicht. Durch sie ist es herausgefordert, ein Urteil zu fällen, nicht über Gut und Böse, nicht über Sinn und Unsinn des Lebens, sondern über die Wahrheit der sich im Gewissen einstellenden Erfahrung des Glaubens. Frei ist das Gewissen gerade nicht, wenn es nichts von dieser Wahrheit weiß. Dieses Kriterium der Gewissheit im Glauben bündelt sich bei Luther im Schuldbekenntnis der Buße. Es ermöglicht, die sich ge­geneinander verklagenden Gedanken im Gewissen, durch die Recht- fertigung aus ihren Schuldzuweisungen herauszuführen.

In der Bindung der Vernunft an das Gewissen des Einzelnen gelten daher durchaus die Parameter der Eigenverantwortlichkeit, wie sie Kant dann in der Aufklärungsschrift entfaltet hat, die für ihn den Ausgang des Menschen aus seiner unverschuldeten Un­mündigkeit bedeuten. So ist die Rechtfertigung, die sich als Ge-bundenheit des Gewissens in Gottes befreiendem Wort erfährt, die

Voraussetzung für Freiheit und Selbstbestimmung. Denn die Vernunft wird in dieser Gebundenheit nicht suspendiert. Unter dieser Bedingung der Gebundenheit des Gewissens an das Erschließungsgeschehen des Wortes in der Erfahrung ist der Mensch vielmehr herausgefordert, eigenverantwortlich zu denken und zu handeln. Nicht eine solipsistische Autonomie des neuzeitlichen Subjekts, sondern eine in Relationen eingebundene Selbstbestimmung befähigt mithin den Menschen zur Verantwortung.

Das emanzipative Potential von Luthers Bußtheologie kommt daher allem äußeren Anschein zum Trotz in der altehrwürdigen Gestalt nicht der Autonomie des Subjekts, sondern der Heteronomie – oder besser Theonomie – des Gewissens auf uns zu. Nur sie bringt den Menschen vor sich selbst und vermag es so, ihn als Einzelnen zur Verantwortung aufzufordern. Auch wenn diese Verantwortung keiner selbstsetzenden und bindungslos unabhängigen Subjektivität folgt, sondern eine sich in Abhängigkeit erkennende und darauf antwortende ist, ist der Mensch in diesem Rahmen herausgefordert und berufen, sich über sich selbst und die je eigenen Gedanken und Handlungen Rechenschaft zu geben. Das heißt aber nicht, dass Luther den Glauben an die Stelle der Autonomie setzt, vielmehr wird Selbstbestimmung in realistischer Weise an die Re­lationen, in denen der Mensch steht, gebunden. Kann Selbstbestimmung daher nicht absehen von solchen Relationen, dann drückt sich die Selbstbestimmung des Menschen im Antwortgeben aus. In dieser Antwort besteht seine Verantwortung. Verantwortung ist Antwortgeben auf eine Relation, die ein Gegenüber hat, den Mitmenschen, die Gesellschaft im Ganzen und Gott. Demnach eignet den Menschen nur eine responsorische Freiheit. Die Akzeptanz dieser relational-responsorischen Freiheit entscheidet über seine Authentizität und Identität.

Damit bildet sich in Luthers Bußtheologie ein Verständnis des Menschen heraus, das nicht nur vorausweist auf das neuzeitlich verantwortliche Subjekt, sondern das bereits dessen kritisch mo­dernen Infragestellungen begegnen kann. Insofern ist Luther als Wegbereiter einer kritischen Moderne zu sehen, die eine Rückbindung an die Zusammenhänge, in denen dieses Subjekt unhintergehbar steht, nicht ausblendet, sondern sie anerkennen und damit der Selbstaufklärung der Vernunft dienen kann. Der qualitative Sprung, der von der Neuzeit in die Moderne weist, zeigt sich dabei in der Konzentration auf das Individuum in seinen Relationen und der damit einhergehenden Qualifizierung der Selbsterkenntnis gerade als Freiheitserkenntnis.

Mit der heutigen Willensfreiheitsdebatte in der Neurobiologie kann Luther daher durchaus übereinkommen in der Erkenntnis, dass Freiheit keine empirische Eigenschaft ist. Er würde ihr aber auch dezidiert darin widersprechen, Freiheit für eine »Illusion«41 zu halten. Auch wenn Freiheit kein Vermögen und keine Eigenschaft ist, ist sie wirklich. Sie zeigt sich jedoch immer nur im praktischen Vollzug als eine Erfahrung, die nicht einem Planen und Berechnen nach eigenen Vorstellungen folgt. Mittels solchem er­liegen wir letztlich immer Voraussetzungen und Bedingungen unserer natürlichen Wünsche und Regungen, etwa unserem Streben nach Macht, Reichtum, Anerkennung. Freiheit ist vielmehr dort, wo wir unserem Streben, Planen, Berechnen und unseren natürlichen Wünschen – oft ohne zureichende Gründe – nicht nachgehen, sondern das tun, was sich als innere Bestimmung dem Gewissen aufdrängt, das uns eine Entscheidung abringt, der wir folgen wollen.42

Solche Entscheidung vollzieht sich nach dem Gesagten als selbstbestimmte allein in der Buße, d. h. in jener Erfahrung, die alle Erkenntnis über sich selbst, über die Welt und über Gott in ein Relationsgefüge einrückt, weil sie diese Relationalität als wesentliches Merkmal der Freiheit und Vernunft des Menschen erkennt und es in der Pflicht bejaht. Die Erfahrung des Glaubens in der Buße berührt den Menschen damit in seiner »Selbst«-Bestimmung. Selbstbestimmung ist daher notwendig eine abgeleitete, die dem Menschen aus solchem Beziehungsgefüge, in dem er steht, zu­wächst und in die er willentlich einstimmen kann.

V Konsequenzen von Luthers reformatorischen Einsichten für die Moderne


Die Relevanz von Luthers reformatorischen Einsichten zeigt sich nicht zuletzt darin, dass sein Freiheitsverständnis nicht nur in Kritik, sondern in eine Profilierung eines modernen Freiheitsverständnisses münden kann, das auch die Selbstbestimmung des Menschen umgreift. Ganz im Sinne von »Mündigkeit« geht es Luther darum – wie später den Denkern der Aufklärung –, selbst zu denken und selbst zu urteilen und vor allem selbst zu glauben. Dass sich dies nicht von selbst versteht, das sieht Luther klarer und tiefer als andere. Und diese Klarheit wurzelt in seiner Erkenntnis der Bedeutung der Buße.

Diese lässt es zu, die Subjektivität differenzierter und konkreter und im Ganzen genauer zu bestimmen. Sie zeigt, Selbsterkenntnis ist uns nicht durch uns selbst möglich, sondern nur dadurch, dass unsere eigenen Fehler und gewollte und ungewollte Missverständnisse so präsentiert werden, dass sie uns den Weg zu einem Neuanfang nicht versperren, sie aber gleichwohl verantwortet werden können. Im Rahmen gerechtfertigter Erfahrung ist das Subjekt herausgefordert und berufen, sich über sich selbst in seinem Verhältnis zur Welt und zu Gott Rechenschaft zu geben. Selbstbestimmung und Mündigkeit in christlichem Sinne zeigen sich somit in einer Bildung der Vernunft, die sich in der Buße als Bildung des Gewissens vollzieht.

Luthers Bußtheologie bildet eine Vorlage für eine aufgeklärte Bestimmung des neuzeitlich-verantwortlichen Subjekts, die nicht übersieht, dass dieses der Einsicht und Rückbindung an die Zu­sammenhänge, in die seine Vernunft unhintergehbar eingebunden bleibt, bedarf. Mit seinem Glaubensverständnis, das die Vernunft einbindet in das eigene Urteil des Gewissens, ist mit Luther daher in gewisser Weise die subjektivitätstheoretische Wende von Neuzeit und Aufklärung vorbereitet und zugleich kritisch fortgeführt worden. So geht Luther über die immer wieder sich findenden Verengungen und Selbstabschließungen einer allgemeinen Vernunft hinaus. Bei Luther kann nicht die Vernunft, an der die Subjektivität Anteil hat, uns die Wahrheit verbürgen, sondern es sind die Widerfahrnisse des Lebens, die im Glauben an das heilschaffende Wort jenes Urteil hervorrufen, das sicher und feststeht im Gewissen des Einzelnen. Hier gilt bei Luther das unvertretbare Individuum als das, das über die Erfahrung der Wahrheit des Wortes im Gewissen zum Urteil befähigt wird. Dieses kann so seine Einsichten gegenüber anderen vertreten und festhalten. Die im­mer wieder diskutierte Frage, ob Luther in Kontinuität mit dem Mittelalter zu stellen ist, oder ob er in qualitativer Neuausrichtung seiner Theologie in die Neuzeit hineinreicht,43 findet mithin ge-rade in dieser Verbindung von Vernunft und Gewissen ihre Be-

antwortung,44 die über jene Alternativen hinausreicht. Entgegen

neuzeitlicher Selbstsetzung repräsentiert damit die Buße die eigentliche Form menschlicher Selbstbestimmung,45 indem sie den Menschen vor sich selbst bringt und ihn als Einzelnen zur Verantwortung ruft.

Das Neue bei Luther ist dabei – und das ist bis heute bedeutsam– die Achtsamkeit auf die eigene Gemütslage, auf die Innerlichkeit des Gewissens, mit anderen Worten: auf die den Menschen bestimmenden Affekte, denen er Rechnung trägt. Luthers Entde-ckung der Affektbestimmtheit des Lebens über alle Kontrolle der Vernunft hinweg und über alle moralischen Vorgaben der Traditionen hinaus, das ist jenes Moderne, das noch über die meist emphatisch betonte Entdeckung der Freiheit des Gewissens hinausreicht, in­dem sie zugleich die Gefährdung des Menschen, die in der Ambivalenz der Freiheit liegt, ernst zu nehmen vermag. Diese Erkenntnis ließ Luther zwar zu einem unverrückbaren Vertreter der Erbsünde werden. Aber zugleich ist diese Erkenntnis bei Luther eine die neuzeitliche Emanzipation ebenso wie deren (post-)mo-derne Infragestellungen umschließende und daher eine auch die Moderne revolutionierende Erkenntnis. Das in der Buße angezeigte Gottes- und Selbstverhältnis des Menschen ermöglicht es schließlich, selbst die Krisen des modernen Subjekts überstehen und Freiheit trotz aller Infragestellungen festhalten zu können. In dieser glaubens- und erkenntnistheoretischen Fokussierung der Buße liegen daher Einsichten verborgen, die Luther zu einem theologisch und philosophisch relevanten Gesprächspartner der Ge­genwart ma­chen.

Vor diesem Hintergrund können drei grundlegende philosophische Konsequenzen aus Luthers reformatorischen Einsichten festgehalten werden: erstens die Herausbildung des Einzelnen in seiner unvertretbaren erfahrungsgebundenen Urteilskraft und zweitens – damit zusammenhängend – die das Individuum auszeichnende relationale Bestimmung, sowie drittens die transzendente Bestimmung eines fundamentum inconcussum im Gewissen. Alle drei Einsichten haben erkenntnistheoretische und ethische Relevanz.

Die erste Konsequenz räumt auf mit dem Vorurteil einer voraussetzungslosen Vernunft, die über die neuzeitliche Subjektivität Kriterien der Geltung setzen und bestimmen kann. Durch diese Konsequenz gewinnt das an Bedeutung, was wir als religiöse bzw. weltanschauliche Bindung, die in den uns leitenden Gewissheiten im Leben hervortritt, bezeichnen. Indem hier nicht das Vernunftsubjekt, sondern die in Relationen stehende Individualität in ih-

rer Erfahrungsgebundenheit für das Menschsein hervorgehoben wird, weiß diese sich in ihrer Bestimmung auf Gewissheiten verwiesen, die die Ausrichtung des Lebens in allen seinen Facetten, einschließlich Fühlens, Denkens und Handelns, umfassen. Solche Gewissheiten sind es, die uns orientieren und leiten, selbst wenn wir das nicht immer wahrnehmen. Für Luther kommt das in seinem berühmten Wort aus dem Großen Katechismus zum Ausdruck »woran du dein Herz hängst, das ist dein Gott«. 46 Das bezieht sich nach Luther nicht nur auf irdische oder himmlische Güter, sondern auf unsere gesamte Einstellung, auf alles Wahrnehmen, Empfinden, Denken und Handeln. Mit dem Herz als »Beziehungsorgan«,47das für die Relationalität der conditio humana steht, sind solche Gebundenheiten des Menschen im Blick.

Ein Verständnis von Wahrheit und Erkenntnis, das sich an der allgemeinen Vernunft ausrichtet, wird bei Luther daher durch

diesen Bezug auf die konkreten Menschen in ihren Relationen wi­derlegt, ohne deswegen Normativitätsansprüche verabschieden zu müssen. Das betrifft die genannte zweite Konsequenz. Durch Lu­thers Vernunftverständnis, das durch die Grundverfassung der Relationalität ausgezeichnet ist und so an das Individuelle in seiner Erfahrungsbestimmtheit gebunden bleibt, ist es ihm möglich, an Verbindlichkeit und Geltung festzuhalten, ohne diese unter neuzeitlich-subjektivitätstheoretischer Ägide der allgemeinen Vernunft zuschreiben zu müssen, deren Erkenntnis metaphysikkritisch gesehen problematisch bleibt. Normativität und Geltung entscheidet sich an der im Einzelnen wirksamen Verbindung von Gewissen und Vernunft.

Damit kommen wir zur dritten Konsequenz. Indem Luther die Erkenntnis der Freiheit des Subjekts mit der Erkenntnis der Buße im Individuum zusammenbindet, leitet er ebenjene geistes-geschichtliche Wende ein, die sich als Wende nicht nur vom Mittelalter hin zur Neuzeit, sondern auch und gerade zur Moderne erweisen wird. Sie besteht in der Entdeckung des Menschen als Individuum, das in seiner Unvertretbarkeit und in seiner an Verantwortung orientierten Freiheit vor Gott zu sehen ist. Diese Entdeckung gewinnt Luther aus der Erkenntnis des Bußgeschehens. Im damit einhergehenden Rückbezug auf das Individuum in seiner Unhintergehbarkeit und Unvertretbarkeit wird das Gewissen zum Bezugspunkt einer Letztinstanz des Urteilens und die Erfahrung der Gewissheit des Einzelnen in der Buße zum unhintergehbaren Ort der Einsicht in die Wirklichkeit.

Nun findet sich aber bei Luther in dieser Konzentration auf das Individuelle in seiner Erfahrungsgebundenheit in eins mit der Moderne darüber hinaus das die Moderne Übergreifende. Und gerade hierin zeigt sich die Sperrigkeit Luthers – auch die Sperrigkeit seiner Zuordnung entweder zum Mittelalter oder zur Neuzeit. Diese Sperrigkeit ergibt sich daraus, dass das fundamentum inconcussum, das Gewissheit verbürgt, selbst nicht durch die freie Reflexionssubjektivität bestimmt werden kann, da sie nicht über eine solche Autonomie verfügt. Ihre Freiheit und Vernunft ist – wie ge­zeigt wurde – eine abgeleitet-relationale. Dementsprechend wird dann bei Luther die Vernunft ihrer Freiheit auch nur gewahr durch deren Erfahrungsbestimmtheit hindurch, die allen »Selbst-«Be­stimmungen schon vorhergeht und diesen immer schon vorhergegangen ist. Luther begriff insofern freies Denken auch nicht als Spekulieren, sondern als ein »Nach-denken«. Gedanken sind nachfolgende Operationen der Explikationen des Verstehens und der Zuordnung und Aneignung von Erfahrung, 48 auf die sie als in einem externen Gegründetsein angewiesen bleiben.

Der Glaube bildet das fundamentum inconcussum ebenjener eigenen gemachten Erfahrungen als denjenigen, die zum Nachdenken auffordern und anstiften. Diese Erkenntnis markiert den Beginn reformatorischer Theologie. In der Fokussierung und Zentrierung der Individualität strahlt sie aus auf die in der Aufklärung hervortretende Emanzipation und Mündigkeit des Menschen, und darüber hinaus auf das moderne Subjekt in seinem bleibenden Freiheitsanspruch. Insofern erweist sich gerade in der Bußtheologie das revolutionäre Potential Luthers, das ihn aus dem Mittelalter hinausführt in die Emanzipation, nicht nur der modernen Vernunft, sondern einer aufgeklärten Vernunft, die sich einer Religion der Freiheit für freie, mündige Menschen verpflichtet weiß.

Abstract


Luther develops his insight into the structure of repentance into a theory of the human condition, making it the central pivot of his theological work revolving around the issue of human freedom

coram deo. Accordingly, Luther’s definition of freedom resets fundamental anthropological tracks by interpreting repentance in a manner preserving the individual judgement of human beings and, thus, their reason and freedom. According to Luther, this insight is not gained by mere reason alone, but through the kind of faith which illustrates the capacity and the reach of human reason, as well as freedom. This theological and theoretical focus on repentance provides fundamental insights, thus proving the dialogue with Luther to be theologically and philosophically relevant, not only within the framework of (Early) Modernity, but up until the present day.

Fussnoten:

1) Martin Luther, Disputatio pro declaratione virtutis indulgentiarum, WA 1, 233–238; vgl. Heinrich Bornkamm, Thesen und Thesenanschlag Luthers, Berlin 1967.
2) Vgl. Ulrich Barth, Die Geburt religiöser Autonomie. Luthers Ablaßthesen von 1517, in: Ders., Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 53–95. Zu den historischen Anfängen des Ablassstreits vgl. Thomas Kaufmann, Geschichte der Reformation in Deutschland. Neue Ausgabe 2016, 30 ff.; Ders., Der Anfang der Reformation. Studien zur Kontextualität der Theologie. Publizistik und Inszenierung Luthers und der reformatorischen Bewegung (SMHR 67), 2012, 1–27; Ders., Erlöste und Verdammte. Eine Geschichte der Reformation, 42017, 17 ff.
3) Vgl. hierzu Gustav Adolf Benrath, Art. »Ablaß«, in: TRE, Bd. 1, Berlin/New York 1977, 347–364; dort auch Literatur.
4) Die eigenständige und neue Einsicht, die sich in den Ablassthesen darlegt, kann auch dann als »reformatorisch« geltend gemacht werden, wenn nach Thomas Kaufmann »die zäsurierende Bedeutung des Sommers 1520« zu beachten ist (Thomas Kaufmann, Reformatoren als Konvertiten, in: ZThK 114 [2017], 149–175, hier 152, Anm.10). Auch wenn dort von »reformatorisch« angemessen erst im Sinne des Bestrebens eines kirchlichen Neubaus gesprochen wird, kann das »Reformatorische« doch auch für die theologie- und geistesgeschichtlichen Pointen der Ablassthesen in Anspruch genommen werden.
5) Vgl. Martin Luther, Disputatio de homine, WA 39/1, 175–177.
6) Martin Luther, Disputatio de homine, WA 39/1, 175–177 [s. Anm. 5] (im Folgenden zit. WA 39/1); vgl. dazu Gerhard Ebeling, Luthers Disputatio de homine, Bd. 1–3, Tübingen 1977–1989.
7) Vgl. WA 39/1, 175, Thesen 1–16.
8) Vgl. dazu Ulrich Barth, Gott ähnlich werden, in: Ders., Gott als Projekt der Vernunft, Tübingen 2005, 33–69.
9) Vgl. WA 39/1, 175–176, Thesen 1–19.
10) Vgl. WA 39/1, 176–177, Thesen 20–40.
11) Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, in: Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1981.
12) Luther beschreibt diesen Prozess anhand des aristotelischen Vier-Ursachen-Schemas. Vgl. dazu auch Wilfried Härle, »Der Mensch wird durch den Glauben gerechtfertigt«. Grundzüge der lutherischen Anthropologie, in: Ders., Menschsein in Beziehungen, Tübingen 2005, 169–190, bes. 171. Der Mensch kann – so These 12 – weder die stoffliche Ursache (causa materialis), also die Körperlichkeit des Menschen, kennen, noch – so These 13 und 14 – die wirkende Ursache (causa efficiens), Gott den Schöpfer, noch die zweckhafte Ursache (causa finalis), noch kann er die gestaltende Ursache (causa formalis) erkennen, d. h. auch von der Seele hat er keine Erkenntnis des Ziels und Zwecks. Denn seine Erkenntnis ist beschränkt auf das diesseitige Leben (These 15–17).
13) These 10, WA 39/1, 175, 22 f.: »Tamen talem sese Maiestatem esse, nec ea ipsa ratio novit a priore, sed tantum a posteriore.«
14) Martin Luther: Lateinisch-Deutsche Studienausgabe. Bd. 2: Christusglaube und Rechtfertigung, Wilfried Härle u. a. (Hrsg.), Leipzig 2006, 121 (WA 7, 49,22 f.).
15) WA 39/1, 176,34 f.
16) Luther nimmt hier in anderer und genauerer Weise die Faktizität, d. h. das Gegebensein von Freiheit vorweg, wie es Jean-Paul Sartre mit seinem Verurteiltsein zur Freiheit angesprochen hat. (Vgl. Jean-Paul Sartre, L’existentialisme est un humanisme, Paris 1946, 37: »Der Mensch ist verurteilt dazu, frei zu sein«, frz. »[…] l’homme est condamné à être libre«.)
17) »Nullus ex omnibus hominibus cogitare potuit peccatum mundi esse non credere in Christum Jesum crucifixum«, Martin Luther, 4. Thesenreihe zu De ius-tificatione, WA 39/1, 84,16 f.
18) Nach Gabriel Biel konnten drei Schulen unterschieden werden, die erste augustinische nach Petrus Lombardus, die zweite, der Anselm, Duns Scotus, Ockham und Gregor von Rimini folgten, und die dritte, zu der Thomas von Aquin gehörte. Alle diese unterschiedlichen Schulen diskutierten das Verhältnis von Erbsünde und concupiscentia in ihrer Zuordnung zur forma und materia der Sünde. Vgl. Heiko A. Oberman, Spätscholastik und Reformation. Bd. 1: Der Herbst der mittelalterlichen Theologie, Zürich 1965, 117.
19) Vgl. Augustinus, De Spiritu et Littera, 28, 48.
20) Vgl. Luthers Schrift gegen Latomus, in der er diesen Verdacht des Latomus ausräumt, dass, wenn er Recht habe, Gott die menschliche Natur böse erschaffen haben müsse. (Gegen Latomus, Fol. 55, 2B; vgl. Martin Luther, Rationis Latomianae Confutatio, WA 8, 43–128). Vgl. dazu Rudolf Hermann, Studien zur Theologie Luthers, Göttingen 1981, 266–268.
21) Vgl. These 8 der 4. Thesenreihe zu De iustificatione, WA 39/1, 84: »Hoc est peccatum originale, post lapsum Adae nobis ingenitum et non tantum personale, sed et naturale«.
22) Vgl. den Gedanken eines normalen Ausgangspunktes des Lebens im »non-faith«-Modus bei Ingolf U. Dalferth, Justification by Faith as Key to Understanding Human Existence, in: JMJ, Spring 2017, 33–43, hier 36–38. Vgl. ebenfalls zum Normalzustand des Menschen in der Sünde und dem Ordnungsgedanken, Elisabeth Gräb-Schmidt, Sünde als Erschlossenheit des Daseins. Zur anthropolo-

gischen und philosophischen Deutungsleistung des protestantischen Sündenbegriffs, MJTh XX, Leipzig 2008, 75–106.
23) Das ist heute fast eher zu plausibilisieren als damals, wenn wir an Kierkegaards Entdeckung des Dämonischen denken, oder an Kafkas Undurchschaubarkeit der Ordnungen menschlicher Gesellschaft und nicht zuletzt an die Entdeckungen des Unbewussten in Freuds Psychoanalyse.
24) Nein, es ist – wie es dann Kierkegaard konstatiert hat – »alles viel entsetzlicher« (vgl. den Titel des Aufsatzes von Ingolf U. Dalferth, »Die Sache ist viel entsetzlicher«. Religiosität bei Kierkegaard und Schleiermacher, in: Niels Jørgen Cappelørn [Hrsg.], Schleiermacher und Kierkegaard. Subjektivität und Wahrheit. Akten des Schleiermacher-Kierkegaard-Kongresses in Kopenhagen, Oktober 2003, Berlin/New York 2006, 217–264.) Vgl. bei Kierkegaard selbst: Søren Kierkegaard, »X. Eine These – nur eine einzige« (veröffentlicht in: Das Vaterland Nr. 74 vom 28. März 1855), in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 27: Der Augenblick. Aufsätze und Schriften des letzten Streits, hrsg. v. E. Hirsch und H. Gerdes, Gütersloh 1994 (1959), 42.
25) WA 18, 600–787, hier: 636: »Quare sequitur liberum arbitrium sine gratia Dei porsus non liberum sed immutabiliter catptivum et servum esse mali«). Vgl. zur Unfähigkeit des Willensvermögens zum Guten ohne die Gnad WA 18, 753,36–39; 767,32–768,4. Vgl. zur Abwehr eines Beitrags des Menschen zur Rechtfertigung WA 18, 759,15–18; 26 ff.; 762,19 ff.; 769,24–771,14 und auch WA 18, 665,15.
26) Weder der menschliche Leib noch die nicht menschliche Natur ist sündig, sündig ist der Mensch als Mensch in seiner ganzen Ausrichtung – oder eben in dieser als Ganzes gerecht. Vgl. Martin Luther, De servo arbitrio (s. Anm. 25), 744 f.
27) Martin Luther, Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute, WA 1, 608, 10 f.
28) So ist sie später auch in minutiöser Klarheit und psychologischer Tiefe von Kierkegaard entfaltet worden, vgl. Søren Kierkegaard, Der Begriff Angst, Düsseldorf 1958; vgl. dazu auch Gräb-Schmidt, Sünde als Erschlossenheit des Daseins

(s. Anm. 22), 75–106.
29) Diesen Sachverhalt hat Karl Barth treffend mit der Sünde als der Bestimmung des Nichtigen gekennzeichnet, vgl. Karl Barth, KD III/3, 347; dazu Wolf Krötke, Sünde und Nichtiges bei Karl Barth, Neukirchen-Vluyn 21983, 10 ff.67 ff.
30) Vgl. hierzu Gerhard Ebeling, Das Leben – Fragment und Vollendung. Luthers Auffassung vom Menschen im Verhältnis zu Scholastik und Renaissance, in: ZThK 72 (1975), 310–336, hier 327 f.
31) These 27, WA 39/1, 176,22 f.: »Similiter qui dicunt, hominem faciendo, quod in se est, posse mereri gratiam Dei et vitam.«
32) Vgl. als eine seiner reformatorischen Hauptschriften Von der Freiheit eines Christenmenschen (WA 7, 42–73) ebenso wie seine zentrale Schrift gegen Erasmus De servo arbitrio (WA 18, 600–787), die er nach seinen eigenen Aussagen neben dem Großen Katechismus als seine wichtigste Schrift ansah.
33) Die vielbeachtete Nähe Luthers zur Mystik ist hier nicht zu vernachlässigen (vgl. neuerdings Volker Leppin, Die fremde Reformation. Luthers mystische Wurzeln, München 2016), aber auch hinsichtlich ihrer Unterscheidung zu bedenken.
34) Vgl. Ulrich Barth, Die Entdeckung der Subjektivität des Glaubens. Luthers Buß-, Schrift- und Gnadenverständnis, in: Ders., Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 27–51, hier: 33.
35) Vgl. dazu die früheren Psalmenvorlesungen Luthers, Dictata super Psalterium 1513–1515, WA 3, 1 – WA 4, 462; Adnotationes Quincuplici Fabri Stapulensis Psalterio manu adscriptae, WA 4, 463–526; Operationes in Psalmos 1519–1521, WA 5; s. dazu Reinhard Schwarz, Vorgeschichte der reformatorischen Bußtheologie, Berlin 1968, 202 f.
36) Vgl. Reinhard Schwarz (s. Anm. 35), 202.
37) Vgl. a. a. O., 235.
38) Vgl. a. a. O., 227 f.
39) Vgl. a. a. O., 254.
40) Diese Leistung der Theologie Luthers verkennt etwa die – wenngleich brillant geschriebene, so doch beißend verstellende – Kritik des in den öffentlichen Medien präsenten Philosophen Peter Sloterdijk. Sloterdijk vergleicht in seinem Artikel »Luther und die Folgen – Glaube, Fegefeuer des Zweifels« (im Feuilleton der Neuen Zürcher Zeitung vom 10.10.2016) die reformatorische Theologie Martin Luthers mit Salafismus, Wahabismus und Dschihadismus. Das Insistieren Luthers auf seinen Glaubenseinsichten möchte Sloterdijk gar mit den Überzeugungspraktiken des ISgleichstellen. Er sieht in Luthers Theologie »antihellenistische« und »antiphilosophische« Impulse, die einer Antiaufklärung verpflichtet sind. Damit äußert er nicht nur infame und brüskierende Assoziationen, sondern es zeigt sich die völlige Verkennung philosophischer Implikationen und ideengeschichtlicher Konsequenzen der theologischen Einsichten Luthers. Nicht – wie Sloterdijk insinuiert – eine finstere Himmel- und Höllendramaturgie kennzeichnet Luthers Theologie. Sein Gott ist kein totalitaristischer, revisionsre-

sistenter, dezisionistisch erwählender Gott, der den Menschen in seinem Ge­-rechtigkeitsfanatismus vernichten will und ihm allenfalls durch das Fegefeuer Milderungen gewähren kann. Luther hatte gerade diese Sicht Gottes als sein Missverständnis erkannt. Sloterdijk verstellt und verkennt Luthers gedankliche Leistung daher, wenn er nicht die subjektivitäts- und die freiheitstheoretischen Implikationen seines Bußverständnisses erfasst, die bei Luther gerade eine neue Akzentsetzung gegenüber der mittelalterlichen Theologie bedeuten.
41) Vgl. hierzu Elisabeth Gräb-Schmidt, Die Aufgabe der Verantwortung als Erfahrung der Freiheit, in: Thomas Fuchs/Grit Schwarzkopf (Hrsg.), Verantwortlichkeit – nur eine Illusion?, Heidelberg 2010, 275–294.
42) Vgl. hierzu die Beispielerzählung vom Barmherzigen Samariter Lk 10,25–37.
43) Vgl. Ernst Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt. Vortrag, gehalten auf der IX. Versammlung deutscher Historiker zu Stutgart, in: HZ 1997 (1906), 1–66.
44) Vgl. dazu Ulrich Barth, Entdeckung (s. Anm. 34), 32 f.
45) Vgl. ebd.
46) Martin Luther, Auslegung des Ersten Gebots im Großen Katechismus, BSLK 560.
47) Vgl. Bernd Janowski, Das Herz als Beziehungsorgan – Zum Personverständnis des Alten Testaments, in: Ders./Christoph Schwöbel (Hrsg.), Dimensionen der Leiblichkeit. Theologische Zugänge, Neukirchen-Vluyn 2015, 1–45, hier 1.
48) Ohne solche Vorgegebenheit würde ein solches Fundament nach Durchlaufen neuzeitlicher Vernunftkritik gar nicht existieren, dann würde ein vermeintlich freies Subjekt degenerieren in seine bloßen »Selbsttechniken« im Sinne Foucaults, die über Konventionen und ein Nachjagen von Klischees nicht hinauskommen. Vgl. Michel Foucault, Hermeneutik des Subjekts, Frankfurt a. M. 2004; Ders., Der Gebrauch der Lüste, Frankfurt a. M. 41995.