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Ausgabe:

Januar/2000

Spalte:

31–33

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Riedl, Gerda

Titel/Untertitel:

Modell Assisi. Christliches Gebet und interreligiöser Dialog in heilsgeschichtlichem Kontext.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 1998. XIII, 523 S. gr.8 = Theologische Bibliothek Töpelmann, 88. Lw. DM 198,-. ISBN 3-11-015814-0.

Rezensent:

Marianne Grohmann

"Modell Assisi" ist eine Dissertation an der Katholisch-Theologischen Fakultät Augsburg im Fach Dogmatik bei Anton Ziegenaus. Das 1986 von Papst Johannes Paul II. initiierte "religionsumspannende Gebetstreffen in einem gemeinsamen Anliegen (Modell Assisi)" (11) mit weiteren Folgetreffen wird als Modellfall für den interreligiösen Dialog untersucht.

Chancen des Modells Assisi sind nach R. die Ausbildung interreligiöser Solidarstrukturen und Bewusstmachung der Gemeinsamkeiten aller homines religiosi in einer zunehmend säkularisierten Welt, Vertiefung christlichen Selbstverständnisses gerade durch den Dialog mit anderen Religionen und Bekehrung zu den eigenen christlichen Wurzeln, Verwirklichung des christlichen Sendungsauftrages durch anziehende Glaubwürdigkeit, "eirenisch-advokatorisches Heilsangebot unter Wahrung des Völkerwallfahrts-Horizontes zum endgültig-eschatologischen Ziel aller Menschen" (318). Um das trinitarische Proprium genuin christlichen Betens nicht zu gefährden, soll gemeinsames Beten immer unter der - nicht unwesentlichen - Prämisse stehen, dass "eine ,Communicatio in sacris/spiritualibus’ vermieden wird" (303) und folgende Rahmenbedingungen beachten: Wahrung der Heiligkeit des Ortes, "Verzicht auf das gemeinsame Beten je glaubensfremder oder ,neutraler’ Gebetstexte, die Anrufung nichtchristlicher Gebetsadressaten oder einen Vollzug glaubensfremder Gebetsriten" (303). R. betont immer wieder, dass es kein wirklich gemeinsames interreligiöses Gebet gibt, dass es aber möglich ist, zusammen zu sein, um zu beten, anwesend zu sein, wenn andere beten. Für die Anwendung in der Praxis bedeutet das Modell Assisi im Bereich der Gemeindearbeit eine Vertiefung der christlichen Gebets- und Gottesdienstpraxis, in der Religionspädagogik eine Verstärkung Interreligiösen Lernens zum Abbau von Spannungen, zur Begründung religiöser Solidarstrukturen und christlicher Identitätsstärkung unter Schülern, im Bereich der Seelsorge - v.a. im Krankenhaus und in Übergangssituationen - "advokatorische Bezeugung des eigenen Glaubens" und damit "geschwisterliche Zuwendung allen Menschen gegenüber" (313). Organisatorisch kann das Modell Assisi als "gesamtkirchlich organisierte Großveranstaltungen mit Medienereignis-Charakter" oder als "(interreligiöse) Treffen in kleinerem Kreise" (302) verwirklicht werden.

R. versucht mit ihrer Arbeit aufzuweisen, dass Ergebnisse der Religionswissenschaft, biblisches Offenbarungszeugnis, theologische Tradition und lehramtliche Entscheidungen - unter Anwendung der Konvergenzargumentation - nicht gegen solche Gebetstreffen von Christen und Nicht-Christen sprechen. R. vertritt einen inklusivistischen Mittelweg zwischen christlichem Exklusivismus und radikalen Pluralismusforderungen und zeigt dementsprechend auf, dass von der Religionswissenschaft, über Altes und Neues Testament, durch die gesamte Kirchengeschichte bis ins 20. Jh. der Inklusivismus über exklusivistische und pluralistische Tendenzen überwog.

Das Modell Assisi wird in den Hintergrund der breiten gegenwärtigen religionswissenschaftlichen Forschung eingeordnet. Zwischen unterschiedlichen Gebetsformen bestehen nach R. ubiquitäre Strukturanalogien: die "Überzeugung von der Unverzichtbarkeit des Gebetes" (46), "die Ubiquität des Gebetes als Ausdruck unbedingter Verwiesenheit des Homo religiosus auf das Heilige" (47), wobei Gebet grundsätzlich als responsorische Sprachhandlung verstanden wird.

R. fragt nach dem Verhältnis zwischen den Gebeten der Völker und dem Zeugnis der Heiligen Schrift in alt- und neutestamentlichen Texten: Im AT sind z. B. das Monolatrie-Gebot (Dtn 4,19; 5,6-21; 32,8 f. u. a.), die Völkerkampfmotive (Ez 38f. u. a.) oder die Vernichtungsweihe (Num 21,2 f.; Jos 6-11; 1Kön 20,25-43 u. a.) Ausdruck von Exklusivismus als Reaktion auf die Gebets- und Kultpraxis von Israels Nachbarn. Ebenso gelten Erscheinungsformen von Pluralismus - wie z. B. Baal-Synkretismus (2Kön 17,7-23 u. a.) oder JHWH-Aschera-Frömmigkeit (1Kön 15,13; 2Kön 23,4 u. a.) - als Irrwege, die abgelehnt werden. Als den durchsetzungskräftigsten Ansatz im AT sieht R. den Inklusivismus an, der sich z. B. in den Konzeptionen von Noach- (Gen 9,8-17) und Abrahams-Bund (Gen 12,1-3 u. a.), Völkerwallfahrt zum Zion (Jes 2,2-5; Mi 4,1-5 u.a.) oder in der Entschränkung des Erwählungsbegriffes (Am 6,1; Jes 19,20 u. a.) äußert, durch alle Epochen israelitischer Religionsgeschichte vom El-Inklusivismus (Gen 28,20-22; Ri 5,3; Ex 23,14-17 u. a.) bis zum nachexilischen Inklusivismus (Ps 104) zieht und zur Zielvorstellung von Heil für die Völker und Israel führt. Das NT enthält im Vergleich zum AT - aufgrund des neuartig-missionarischen Selbstverständnisses der christlichen Gemeinde - im Vergleich zum AT "wenige Reflexionen auf Gebets- und Kultpraktiken ,der (nichtjüdisch-nichtchristlichen) Völker’ (Ùa öÓË)" (145). Ansätze von Exklusivismus sieht R. in Apg 4,12, wo ein gewisser Heilsexklusivismus der Urgemeinde zum Ausdruck kommt, Pluralismus im Phänomen der Hellenisierung des Christentums. Größtenteils ist aber nach R. auch das NT inklusivistisch: Bei den Synoptikern drückt sich dieser Inklusivismus in Jesus Christus als endgültiger Erfüllung alttestamentlicher Verheißungen (Lk 2,21-35; 4,16-30 u. a.) und im matthäischen Heilsuniversalismus unter eschatologischen Vorzeichen (Mt 2,1-12 u. a.) aus. Auch Joh eröffnet universale Heilschancen (Joh 10,1-21 u. a.). Bei Paulus lässt sich eine "Relativierung des pejorativen Umgangs mit den ,Heiden’ ... vor dem Hintergrund der paulinischen Rechtfertigungslehre" (167) feststellen (Röm 1,18-2,29 u. a.). "Dialogisches Verhalten aus dem Geiste des Inklusivismus be- oder verhindert nach Paulus keineswegs (christliche) Missionsaktivitäten; wie das Beispiel des missionsfernen antiken Judentums zeigt, setzt die paulinische Mission eine Heilszuschreibung an die Völker vielmehr gerade voraus." (175) Ebenso ziehen sich durch das ganze NT Beispiele inklusivistischer Praxis (z. B. Mk 4,24-30 Heil für die Heiden). Problematisch ist an diesem biblischen Befund allerdings, dass Fragen des interreligiösen Dialogs, die Terminologie "christlich-nichtchristlich" in diesen Texten nicht explizit enthalten sind.

In den ersten Jahrhunderten n. Chr. sieht R. ein Klima eirenisch-werbender Christianisierung inklusivistischer Provenienz vorherrschen. Um diesen Inklusivismus für die gesamte Kirchengeschichte - v. a. des Mittelalters - behaupten zu können, sucht sie nach historischen Modellsituationen für den interreligiösen Dialog und unterscheidet zwischen eirenisch-advokatorischer Theologie - z. B. in den gewaltfreien Missionsbemühungen des Franz von Assisi oder in der lobenden Erwähnung nichtchristlichen Betens bei Thomas von Aquin - und deren exklusivistischer Verwirklichung in der Praxis. Die - zweifellos exklusivistische - christliche Missionspraxis in Lateinamerika, Asien und Afrika am Beginn der Neuzeit wird als nur vordergründig "exklusivistisch-schwertgestützt" (240) bezeichnet. R. hebt im Rahmen dieser Kolonialisierungsgeschichte Beispiele inklusivistischer Missionsmethoden hervor, wie z. B. die von Papst Gregor XV. gegründete "Sacra Congregatio de propaganda fide" (1622), die "auf die gottgewirkt-inkulturierende Eigendynamik des Evangeliums abseits politisch kompromittierter Mission in einheimischen Kirchen mit einheimischem Klerus" (251) baute.

Die Arbeit ist klar gegliedert, die Sprache gut verständlich, übersichtliche Schaubilder fassen jedes Kapitel zusammen. Das Phänomen Gebet im Rahmen des interreligiösen Dialogs wird in seiner Komplexität und in ausführlicher Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur analysiert. R. bietet einen inklusivistischen Ansatz interreligiösen Dialogs von einer dezidiert katholischen Position aus. Die Arbeit untersucht weniger konkrete Gebetspraxis und -theologie "nichtchristlicher" Religionen als deren Beurteilungen in katholischer Theologie. Der Protestantismus ist in dieser Untersuchung marginal, in R.s Gang durch die Kirchengeschichte kommt die Reformation nicht vor, im 20. Jh. wird protestantische Theologie unter den Schlagworten Exklusivismus (Barth) und Pluralismus (Troeltsch) diskutiert. Das spezielle Verhältnis zwischen Judentum und Christentum wird kaum thematisiert. Es bleibt offen, was mit dem "heilsgeschichtlichen Kontext" konkret gemeint ist. Auch wenn die untersuchte Materialfülle beeindruckend ist, bleibt doch zu fragen, ob sowohl für Altes und Neues Testament als auch für die Kirchengeschichte der Inklusivismus als das prägende Modell gelten kann, ob nicht exklusivistische Tendenzen insgesamt als die dominanteren zu bewerten sind.