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Ausgabe:

Mai/2018

Spalte:

540–543

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Roth, Andrea

Titel/Untertitel:

Option Menschlichkeit. Wirtschaftsethische Perspektiven im Kontext Öffentlicher Theologie und religiöser Bildung.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2017. 404 S. = Öffentliche Theologie, 33. Kart. EUR 48,00. ISBN 978-3-374-04824-3.

Rezensent:

Andreas Pawlas

Es ist einfach erfreulich, dass Andrea Roth mit ihrer Doktorarbeit bei Heinrich Bedford-Strohm aus einem »leicht zu übersehende[n] Handlungsfeld kirchlichen Engagements für Menschen in der Arbeitswelt« (so die EKD-Denkschrift »Solidarität und Selbstbestimmung« 2015, 140) an die Öffentlichkeit tritt und vorbehaltlos Partei für die Schwachen ergreift, d. h. für ihre Berufsschüler in prekären Ausbildungsverhältnissen. Es ist ihr bleibendes Verdienst, damit dem vielfach unterschätzten Berufsschulreligionsunterricht (= BRU) ein eigenes theologisches Profil zuzuschreiben. Und diese Hochschätzung bleibt auch ungetrübt durch manche Anfragen und Bedenken bezüglich Verfahrensweise und Positionierung.
Denn so akzeptabel ihr Verfahren auch ist, methodologisch über das Prinzip »Sehen-Urteilen-Handeln« einen Weg zur Vermittlung zwischen christlicher Theologie und Ökonomie zu finden (18), so diskutiert sie angesichts der im Nachkriegsdeutschland leidenschaftlich geführten Debatten nicht, wieso das nur unter Bezug auf einen befreiungstheologischen Ansatz »Öffentlicher Theologie« (5) bzw. auf Karl Barths Lehre der »Königsherrschaft Christi« (269) möglich sein sollte. Allerdings räumt sie hierbei mit Anklang an die Verfahren der lateinamerikanischen Befreiungstheologie ein, dass die Arbeit keinen Anspruch auf Wertfreiheit erhebe, sondern »sich dezidiert theologisch-anwaltschaftlich« positioniere (45). Und hier sieht sie sich bedingungslos an die Seite ihrer Berufsschüler gestellt, insbesondere denen aus der Hotel- und Gastronomiebranche, wo sie meint, belegen zu können, dass dort jungen Auszubildenden »Zu­kunftschancen und Perspektiven« genommen würden (25).
Nach einer Reihe begriffs- und wissenschaftstheoretischer Klärungen (52 ff.) beginnt sie ihre Untersuchung unter der Überschrift »Sehen« (83 ff.) mit der Analyse der Ausbildungssituation der Gas­tronomiebranche. Dabei ist einerseits ihr Zugang mit Hilfe semistrukturierter Interviews sowie einer der Studie der DGB-Jugend erhellend, wonach es massive Verletzungen des Arbeitsrechts durch Unternehmen des Gastgewerbes (127.139 f.161) offenbar rechtfertigten, »von prekärer Ausbildung in der Gastronomiebranche zu sprechen« (183), und sie sich ihrem »anwaltschaftlichen Vorgehen« unter der Frage nach einer »Option Menschlichkeit« für Ausbildungsbedingungen gestärkt sieht (183).
Andererseits muss jedoch gefragt werden, wie die geringe An­zahl der Interviewten (elf Schüler und Schülerinnen) (153) und ihre Begrenzung auf diejenigen, die offenkundig Probleme anzeigten (152), zu bewerten ist. Denn, so unerfreulich unter den Auszubildenden dieser Branche auch die Abbrecherquote von ca. 50 % (179) ist, eine Reaktion der anderen 50 % fehlt. Und was bedeutet weiter der starke Bezug auf den Ausbildungsreport 2014 der DGB-Jugend? In welchem Verhältnis steht dazu die gerade im Jahr 2014 politisch umfangreich geführte Ausbildungsdebatte (vgl. z. B. Bundestagsdrucksache 18/1451 usw.)?
Nun spricht für die Studie, dass sie neben vorbehaltlosem Engagement für die »Schwachen« auch die branchenspezifischen Rahmenbedingungen der Ausbildungsbetriebe wahrnimmt – mit ihren Folgen für die Auszubildenden: So kann sie berechtigt Hotel- und Gaststättenbetriebe insgesamt als risikobehaftet und unter dem wenig kalkulierbaren Druck von Saison- und/oder Standortabhängigkeit, Kapazitätsproblemen und hoher Personalintensität charakterisieren (105), was jedoch keinesfalls zu würdeloser Be­handlung der Auszubildenden durch Vorgesetzte (174) berechtige, im Gegensatz zu zu fordernder menschengerechter Ausbildung, die geprägt sei etwa durch Achtung des Auszubildenden als Menschen, Respekt, Lob, monetäre und nicht-monetäre Anerkennung sowie Zuspruch (175).
Nach diesem Abschnitt des »Sehens« folgt nun die Phase des »Urteilens« (185 ff.), in dem R. »philosophische und ökonomische Perspektiven zur Wirtschaftsethik« vorstellt (186 ff.), so etwa die Konzepte von Homann oder Ulrich, und dann auf »Theologische Perspektiven zur Wirtschaftsethik« (202 ff.) kommt. Hier geht sie nach einem Blick auf katholische Ansätze zur Wirtschaftsethik auf protestantische wirtschaftsethische Ansätze ein, so auf Rich (213 ff.), Herms (219 ff.), Oermann (222 ff.) und die wirtschaftsethischen Denkschriften der EKD von 2006, 2008, 2009 und 2015, um sich dann letztlich bei den wirtschaftsethischen Überlegungen einer »Öffentlichen Theologie« in Sinne Bedford-Strohms (268 ff.) einzufinden. Und wenn sie dann Bedford-Strohms Ansatz in dem Satz zusammenfasst: »Es gibt einen gesellschaftlichen Orientierungsbedarf in Grundfragen des Menschseins mit öffentlicher und politischer Relevanz« (269), so dürfte sie sich gesamtkirchlicher Zustimmung sicher sein. Ebenso bei seiner Folgerung aus Barmen II, dass die Kirche sich Gedanken darüber machen müsse, »wie Jesus Christus in den verschiedenen Bereichen des Lebens zur Geltung gebracht werden kann – unter Respektierung vernünftiger, rationaler Argumentation der verschiedenen Wissenschaften« (270) unter Berücksichtigung einer Option für die Armen (271).
In diesem Rahmen »Öffentlicher Theologie« und dem Kontext von Bildung geht sie sodann auf den ihr nahestehenden Religionsunterricht ein (275). Und wenn nach Bedford-Strohm Kennzeichen »Öffentlicher Theologie« (neben Ermahnen und Hoffnung vermitteln) ihre »Zweisprachigkeit« (276) sei, so vermerkt R. zutreffend, dass Kirche im Religionsunterricht in »fundamentaler Weise« auf Zweisprachigkeit der Rede angewiesen sei, eben in der Vermittlung biblischer und kirchlicher Tradition in die Lebenswelt von Schülern (277). Und Kirche habe im Kontext »Öffentlicher Theologie« die Aufgabe, einzustehen für wirtschaftsethisches Orientierungswissen und Fürsorge (281 f.).
In ihrem dritten Abschnitt »Handeln« (284 ff.) kommt R. schließlich zu ihrem konkreten Arbeitsfeld BRU und der dortigen prekären Ausbildungssituation (285). Zur Erläuterung wirft sie noch einmal einen Blick auf den soziologischen und entwicklungspsychologischen Stand der Schüler, auf die Lehrer sowie die mitwirkenden Institutionen wie Schule, Kirche, Betriebe, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände (288 ff.). Dabei kann sie hinsichtlich des Lehrplans für wirtschaftsethische Fragestellungen am Beispiel des Bayerischen Lehrplans (297 ff.) zeigen, dass wirtschafts ethische Themen explizit, allerdings ohne großen Umfang, im Lehrplan für die Berufsschule verankert seien. Auch seien besonders im allgemeinen Teil des Lehrplans viele theologische Anknüpfungspunkte zur Wirtschaftsethik vorhanden, wobei sie die Themen christliches Freiheitsverständnis und Menschenbild, Würde, Rechtfertigung und Gottes- und Nächstenliebe anführt (308).
Wenn sie sich dann weiter als Aufgabe des ja kirchlich verantworteten BRU mit dem Aspekt Wirtschaftsethischer Bildung be­schäftigt (308 ff.), trägt sie erstaunlicherweise vor, dass es nicht das Ziel des Religionsunterrichts sein könne, »eine bestimmte Wertauffassung am Ende eines solchen Kompetenzbildungsprozesses zu haben«, denn es gehe darum, die Schüler dabei zu unterstützen, »unterschiedliche Wertauffassungen zu unterscheiden und zu beurteilen« (324). Sollte damit etwa die von der Kultusministerkonferenz für den BRU neben der Entwicklung reflektierter Wertvorstellungen auch geforderte »selbstbestimmte Bindung an Werte« (326) umschlossen sein?
Nach einer Berücksichtigung fächerübergreifender Bezüge im Rahmen des BRU (329 ff.), namentlich des Beitrags wirtschaftsethischer Bildung zur öffentlichen Bildung in der Demokratie (338), versucht R. noch genauer wirtschaftsethische Bildung im Kontext einer »Öffentlichen Religionspädagogik« (339 ff.) zu begreifen. Allerdings öffnen sich dazu Fragen nach dem kirchlichen Profil eines kirchlich getragenen BRU, wenn dabei allein »Bildung« zur regulativen Idee gewählt und so »auf einen allein theologisch oder kirchlich hergeleiteten Horizont ihrer Reflexionsanstrengungen« (344) verzichtet werden soll.
Im letzten Abschnitt ihrer Studie thematisiert R. »Wirtschaftsethische Bildungs- und Dialogmöglichkeiten im institutionellen Kontext der Berufsschule« (353 ff.), wobei der BRU auf eine »breite Allianz aus Arbeitgebern, Gewerkschaften und Kirchen« angewiesen sei, welche aber auch weitgehend bestehe (356). Als vor Ort hilfreich sieht sie die Arbeit des Kirchlichen Diensts im Gastgewerbe (KDG) an, der sich speziell um die Belange der Hotel- und Gastronomiebranche in ganz Bayern kümmere als Unterstützer, Seelsorger und Begleiter als Anwalt für die Schwächeren (359). Als fruchtbaren Beitrag wirtschaftsethischer Bildungs- und Dialogmöglichkeiten im institutionellen Kontext der Berufsschule stellt sie sodann das Konzept eines »Runden Tisches« vor, an dem ein interdisziplinärer Dialog zwischen allen beteiligten Institutionen möglich gemacht wer den soll (362), um damit letztlich das Problem prekärer Ausbildungsbedingungen in der Branche zu analysieren, zu beurteilen und Handlungsimpulse für eine menschengerechte Arbeit zu erreichen (368). Theologie habe dabei immer wieder (aus Gründen christlicher Nächstenliebe) die Diskussion um angebliche ökonomische Sachzwänge anzustoßen und mahnend auf Ungerechtigkeiten in Form von menschenungerechten Arbeits- und Ausbildungsbedingungen hinzuweisen (369). Ferner konnte sie deutlich machen, dass gerade aus christlicher Sicht dem Religionsunterricht in der beruflichen Bildung »ein hoher Stellenwert für die Entwicklung mündiger Bürger und damit auch Wirtschaftsbürger für die Zivilgesellschaft« zugerechnet werden muss (371).
Insofern ist zu hoffen, dass sich R.s Arbeit nicht nur in dem Versuch erschöpft, »eine kleine Forschungslücke auszufüllen« (371), sondern dass von ihr ein starker Impuls ausgeht, immer wieder und trotz starken Widerstands von »Sachzwängen« auch in der Wirtschaft um Gottes willen das Menschengerechte zu suchen.