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Ausgabe:

Mai/2018

Spalte:

538–540

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Neugebauer, Matthias

Titel/Untertitel:

Ulrich Zwinglis Ethik. Stationen – Grundlagen – Konkretionen.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2017. 228 S. m. Abb. Kart. EUR 29,90. ISBN 978-3-290-17892-5.

Rezensent:

Andreas Pawlas

In der Zeit des 500-jährigen Reformationsgedenkens erscheint auch diese erfreuliche Studie über den Zürcher Reformator Ulrich Zwingli. Matthias Neugebauer, Züricher Titularprofessor für Sys­tematische Theologie (Ethik) und Pfarrer der Reformierten Kirchgemeinde Ins, versucht dabei, »die Ethik Zwinglis zu rekonstruieren« (16). Als Stärke, aber ebenso als Schwäche dieses Versuchs muss gewertet werden, dass er dabei »der Übersicht halber« auf »ständige Seitenblicke auf andere Gestaltungen der Reformation« (16) verzichtet.
So konzentriert sich N. zunächst auf »Biographische Stationen der ethischen Sensibilisierung« (21 ff.), wobei er sehr schön herauszukehren weiß, »dass das Evangelium von Jesus Christus Grund, Mitte und Ziel« des ethischen Denkens Zwinglis gewesen sei und er »aus dieser Tiefe […] seine Ethik entwickelt« habe (22). Aus dieser Perspektive habe er sich dann gegen die damals äußerlich für die Schweiz so erfolgreiche Reisläuferei (Söldnerwesen) gewendet, weil sie nicht dem Willen Gottes entspreche und zu »Uneinigkeit, Korruption, Sittenzerfall, Ungerechtigkeit und Unfreiheit« führe (35). Überhaupt habe er das hierbei zugrunde liegende Eigennutzdenken gegeißelt und als Mittel dagegen klar die evangelische Predigt bzw. die »neue Lehre« benannt (38). N. widmet sich sodann der Auseinandersetzung Zwinglis mit dem Humanismus (39 ff.) und geht anschließend auf Zwinglis »Erfahrung der Pestkrankheit« ein (61 ff.), die er jedoch nicht als theologische Wende oder als ein »Bekehrungserlebnis im Sinne des späteren Pietismus« begreift.
Im zweiten Abschnitt unterbreitet N. »Theologische und philosophische Grundlagen der Ethik Zwinglis« (69 ff.). Zentral sei dabei die Überzeugung, dass Gott den Menschen seinen unendlich guten Willen durch die Hl. Schrift mitgeteilt habe, diese ihn jedoch nicht erfüllten, und das ganze Lebens- und Leidenswerk Christi für eine erschöpfende Versöhnung des ethisch unvollkommenen Menschen mit Gott stehe (69). Insofern sei für Zwingli Gott »das höchs­te Gut« (70). Größte Untugend sei der Unglauben (91 f.), dem Glau be, Liebe und Hoffnung entgegenstünden (96 ff.). Und wenn N. sodann aus Zwinglis »Commentarius« (1525) referiert: »Est ergo toto Christiani hominis vita poenitentia« (100), so verwundert, dass hier kein Querverweis auf die erste der 95 Thesen Luthers erfolgt. N. zeichnet sodann nach, dass für Zwingli der Vollzug der christlichen Tugenden zu nichts anderem diene als der Hervorbringung des Guten, des höchsten Guts. Sodann bedeute für diese Tugenden »Prüfstein und Exempel« die Frage nach der Gerechtigkeit (109 ff.), wozu N. einen ganzen Strauß der Forderungen Zwinglis hierzu skizziert (113 ff.), die bis zu einer strukturellen Veränderung der Gesellschaft reichten (116). Überzeugend geht N. sodann auf die Frage nach der menschlichen Willensfreiheit bei Zwingli ein (116 ff.), die dieser bereits im März 1525 bestreitet (123 f.). Allerdings finden hierbei weder die Schrift des Erasmus von 1524 noch der Beitrag Luthers vom Dezember 1525 Erwähnung.
Im 3. Abschnitt seiner Untersuchung wendet sich N. den »Lebensweltlichen Konkretionen der Ethik« Zwinglis zu (133 ff.). Er greift dabei zuerst das Thema »Ehe und Familie« (134 ff.) auf, wobei er Zwinglis eigene (vor Luther) vollzogene Eheschließung als be­wusste reformatorische, ethische Entscheidung (135) darstellt, zu der gehört, dass für Zwingli die Ehe kein Sakrament sei (137). Etwas kurz kommt bei N. das auf Veranlassung Zwinglis in Zürich installierte Ehe-und Sittengericht (153 ff.), das von einigen Stimmen als ein Indiz für theokratische Bestrebungen Zwinglis in Zürich gewertet wird. Im Blick auf die Frage von »Arbeit und Müßiggang« (161 ff.) hebt N. die reformatorische Hochschätzung der Arbeit bei Zwingli hervor, die er mit Luther teilt, was jedoch nicht vermerkt wird, genauso wenig, wie der hier zu notierende lutherische Be­rufsbegriff.
Als dritte ethische Konkretion greift N. die Auffassung von »Staat und Obrigkeit« (171 ff.) bei Zwingli auf. Dabei existierten für ihn wohl so starke Überschneidungen von Staat und Kirche, dass er meinte, keine Unterschiede sehen zu können, da sie ja beide »das gleiche« verlangten (176). Daher sei seine Forderung nach Gehorsam auch konsequent (178), die jedoch ihre kritischen Grenzen habe, wenn sich die Obrigkeit anmaße, über die Gewissen und Seelen der Menschen zu herrschen oder wenn sie »die Freiheit der Predigt des Wortes Gottes« beschränke oder verbiete (184).
N. stellt dann die Position Zwinglis bezüglich der Finanzen dar (187 ff.). Wenn auch Ausgangspunkt Zwinglis Auffassung sein müsse, dass aller Reichtum ungerecht sei – und damit auch alle »Abgabe der Zehnten, Zins- und Zinseszinswesen, Leibeigenschaft« (189) –, so behalte er immer »ein scharfes Augenmaß und einen ausgeprägten Realitätssinn« und erachtet alles Umsturzartige, alles Aufrührerische und alles Überstürzte in der Ethik als nicht zielführend, denn es soll »die menschliche Gemeinschaft in Frieden erhalten« werden (189). Interessant ist, dass er ebenso wie Luther dafür plädiert, dass Zinsen verhältnismäßig zu sein hätten, also »entsprechend der Höhe der Summe einen Anteil vom Ertrag« ausmachen dürfen (193) sowie einen Satz von maximal 5 % (194). Er forderte gegebenenfalls hier Maßnahmen der Obrigkeit, insbesondere, keine »Juden oder andere Geldverleiher, die ganz oder teilweise den Zinseszins anwenden«, zu dulden (195). Vermisst wird hier insbesondere ein Hinweis auf die Position Calvins in dieser Frage.
Abschließend zeichnet N. Zwinglis Auffassung zu »Krieg und Frieden« nach (197 ff.). Die Reisläuferei (Kriegführen um Sold) sei eine »unmenschliche, schamlose und sündhafte Sache« (199). Es solle sich der Christ »der Waffen gänzlich enthalten«, soweit dies beim Zustand und beim Frieden des Staates möglich sei (201). Wenn Zwingli aber dann als Ziel kriegerischer Handlungen akzeptiert, »das Vaterland und diejenigen, die uns Gott anempfiehlt, zu schüt zen«, dann werde darin deutlich – wie N. zu Recht herausstreicht –, dass ein »radikaler Pazifismus« hier nicht gemeint sein könne (201). Und als dann das reformatorische Zürich und umliegende Gebiete durch turnusmäßigen Wechsel einem »altgläubigen« Landvogt unterstellt und die freie Predigt unterdrückt worden sei, so habe Zwingli es als seine Pflicht angesehen, die Sache der Reformation gegen eine befürchtete breite Allianz von Innerschweizern, dem Deutschen Reich und Habsburg auch kriegerisch zu verteidigen (204 ff.). N. meint, dass er dabei »zusätzlich das Argument eines Verteidigungskrieges auf seiner Seite« gehabt hätte (207). Aber warum wird nicht auf den gängigen Vorwurf gegen den dabei 1531 gefallenen Zwingli eingegangen, er habe die Religion mit der Politik verquickt und das Evangelium dadurch entweiht? Warum wird auch die Position Luthers vom »leidenden Ungehorsam« ausgeblendet sowie die ganze etwa von Luther durchaus erörterte Frage der Berechtigung des Anfangens eines Krieges bzw. eines Präventivkrieges? Sollte hier etwa entschuldigen, dass Zwingli »durch und durch Eidgenosse« (206) gewesen sei? Und was ist mit der Auffor-derung Zwinglis, gegebenenfalls als Revanche zu brandschatzen (207)? Immerhin betont N., dass bei Zwingli kein »blinder Fanatismus« oder eine »Djihad-Mentalität« zu erkennen sei, denn Zwingli habe nicht mit Gewalt bekehren, sondern nur erreichen wollen, »dass das Wort Gottes frei gepredigt werden« könne (208 f.)
Um resümierend deutlich zu machen, dass die Ethik Zwinglis einen Gehalt besitze, der »weit über den engeren Rahmen der geistigen und kulturellen Gegebenheiten des 16. Jh.s hinausweist«, beendet N. seine Untersuchung mit sieben Punkten, wobei vor allem von der Orientierung Zwinglis an Bibel, Menschenbild und Besonnenheit (211 f.) in der Tat fruchtbare Anregungen zur Bewältigung der vielfach ganz anders ausgeprägten ethischen Herausforderungen an die heutige Christenheit ausgehen dürften. Insofern kann die Studie als anregende Lektüre gern empfohlen werden.