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Ausgabe:

Mai/2018

Spalte:

535–537

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Fenner, Dagmar

Titel/Untertitel:

Religionsethik. Ein Grundriss.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2016. 302 S. = Ethik – Grundlagen und Handlungsfelder, 12. Kart. EUR 30,00. ISBN 978-3-17-029240-6.

Rezensent:

Marco Hofheinz

Mit diesem Band möchte die Autorin Dagmar Fenner das Desiderat einer Religionsethik als angewandte Ethik einlösen. Sie beansprucht, das Paradigma der »angewandten Ethik« (applied ethics) um einen weiteren Bereich über die etablierten Bereichsethiken wie Natur- oder Umweltethik, Medizin- oder Wirtschaftsethik hinaus zu erweitern. Diese Innovation sei erforderlich, da die »Konflikte zwischen verschiedenen Religionen, die zunehmende Gewaltbereitschaft fundamentalistischer Gruppen und die Spannung zwischen Gläubigen und Atheisten« (17) übergeordnete ethische Kriterien oder Standards für das menschliche Zusammenleben notwendig machten. Um Religion nicht ausschließlich als Konfliktursache erscheinen zu lassen, beeilt sich die Vfn., die positive Aufgabe einer solchen Ethik hervorzuheben, nämlich zu untersuchen, »inwiefern Religionen zu einem besseren menschlichen Leben oder richtigem Handeln beitragen können« (ebd.). Für die Vfn. ist bzw. bezieht sich dieses Leben auf das der »modernen demokratischen Gesellschaften Europas« (8). Bereits hier zeigt sich die funktionale Denkungsart, die diesen Entwurf trägt. Ihm liegt eine Zuordnungslogik zugrunde, der zufolge die materiale Ethik sich mit der »Anwendung« gesetzter Prinzipien beschäftigt. Ihre »Theorie« ist dabei Praxistheorie, deren Geltung sich an dem bemisst, was sie funktionieren macht. Ungeachtet dieser funktionalen Bezugsbestimmung, die auch die Grundlage einer Unterscheidung zwischen guter und schlechter Religion bildet (vgl. Kapitel 6), ist das Wissenschaftsideal dabei das einer »›Neutralität‹ im Sinne von Unparteilichkeit« (7) bzw. eines »methodischen Ag-nostizismus« (ebd.), dem sich die Vfn. verpflichtet fühlt. Sie sieht dieses Ideal im Blick auf ihre persönliche Verfasserschaft dadurch eingelöst, dass sie »nicht von vornherein eine bestimmte Religion vorzog und allen real existierenden Religionen gleich offen ge­genübertrat« (ebd.). Ob diese Selbstzuschreibung der eigenen Standortgebundenheit gerecht zu werden vermag, sei dahingestellt. Die Vfn. intendiert jedenfalls eine Religionsethik, »die sich unabhängig von konkreten Glaubensinhalten und Wahrheitsansprüchen der verschiedenen Religionen mit den ethischen Fragen im Zusammenhang mit der Religionsausübung, also der religiösen Praxis befasst« (17).
Diese Programmatik versucht die Vfn. in den sechs Kapiteln ihres Grundrisses einzulösen. Das Einleitungskapitel (9–41) ist der begrifflichen Klärung gewidmet und erläutert die Grundbegriffe ihrer Untersuchung, nämlich Religion, Ethik und Religionsethik, Aufklärung und Rationalität des Glaubens sowie Säkularisierung und Transformation der Religion. Zur Definition dessen, was sie unter dem Kollektivsingular »Religion« versteht, greift die Vfn. überraschenderweise auf das Schema Transzendenz/Immanenz zurück, das freilich längst auch religionswissenschaftlich hinsichtlich seiner Beschreibungskraft im Blick auf die Vielfalt religiöser Traditionen infrage gestellt wird. Überrascht ist man des Weiteren über den semantischen Gebrauch von Säkularisierung, der darunter nur die Emanzipation des weltlichen, nicht aber auch des geistlichen Bereichs versteht. Diese doppelte Emanzipation ist indes in reformatorischer Tradition auf dem Hintergrund einer recht verstandenen Zweireiche-Lehre ausdrücklich theologisch gewürdigt worden.
Das 2. Kapitel (42–86) vertieft eine ungleich stärker differenz- als konsenshermeneutisch agierende Verhältnisbestimmung von religiöser und säkularer Ethik. Die Vfn. kommt dementsprechend typologisch auf die Differenzen zwischen beiden Ethiken anhand der Gegensatzpaare Heteronomie und Autonomie, hermeneutisch-narrativ und begründungsorientiert bzw. personen- und handlungszentriert, rationalistisch und gefühls- bzw. intuitionenbezogen, universalistisch und partikularistisch bzw. traditionsbezogen, Moral im weiteren und engeren Sinne sowie transzendente und immanente Perspektive zu sprechen. Darüber hinaus werden Heilige Schriften als Quellen religiöser Ethik thematisiert, und zwar im Blick auf die Inspirationsfrage (Verbal- und/oder Re-alinspiration), die historisch-kritische Forschung, die Notwendigkeit der Interpretation und grundlegende hermeneutische Prinzipien. Eine Erörterung der Frage »Universelle Menschenrechte als Minimalkonsens?« schließt das Kapitel ab, wobei die Vfn. diese »nicht lediglich [als] eine Schnittmenge unterschiedlichster kultureller und religiöser Orientierungssysteme« versteht, sondern als ein normatives Konzept, als »säkularen moralischen Rahmen, in dem sich Religionen und Weltanschauungen bewegen sollen« (86).
Das 3. Kapitel (87–126) ist der Individualethik gewidmet, führt diese aber überraschenderweise auf die Frage »Sind religiöse Menschen glücklicher?« eng. Die Vfn. bezieht diese Zuspitzung neben der Sinnfrage und letzten Fragen (Grenzfragen) auf die Belastungs- und Kontingenzbewältigung (im Umgang mit Krankheit und Tod) und die soziale Einbettung. Kritisch sei dazu bemerkt: Die für eine individuelle Person relevanten ethischen Fragen des Verhaltens (z. B. Gewissensfragen) lassen sich im Konfliktfeld der Religion wohl kaum prudentiell auf diesen Komparativ reduzieren.
Nach der individualethischen oder prudentiellen Perspektive entfaltet die Vfn. in Kapitel 4 (127–200) die sozialethische oder moralische und zwar anhand der Leitfrage: »Ohne Religion keine Moral?« Diese Leitfrage wird eingangs nochmals zugespitzt: »Sind religiöse Menschen moralisch besser?« (128) Im weiteren Verlauf ihrer Thematisierung erfährt diese Frage die Variation, ob Menschen mit oder ohne Religion zum einen (moral)begründeter und zum anderen (moral)motivierter handeln. Etwas appendix- bzw. exkurshaft wirkende Überlegungen zum Weltethos-Projekt bilden einen vorläufigen Abschluss der Darlegungen, bevor die Vfn. in Kapitel 5 (201–269) das eigentliche Anwendungsfeld betritt. Auf demselben wählt sie als Beispiele religiöser Konflikte den religiösen Fundamentalismus (als Aufstand gegen die Moderne verstanden), den Kopftuchstreit bzw. das Burkaverbot, die Kontroverse um den Schwangerschaftsabbruch sowie die um den Religions- oder Ethikunterricht an Schulen. Hier zeigen sich (freilich unvermeidliche) Überlappungen zu anderen bereichsethischen Feldern wie der Medizin-, der Rechts- und der politischen Ethik sowie der religiösen Erziehung.
Die bereits erwähnten Überlegungen zur Frage »Was ist eine gute Religion?« schließen mit Kapitel 6 (270–279) diesen programmatischen Grundriss ab. Als Kriterien nennt die Vfn. Reflexionsfähigkeit und Vernunftorientierung, Religionsfreiheit und religiöser Pluralismus, aufklärerische Rationalitätsstandards, Säkularisierung als Ausdifferenzierung der Wertsphären, Methoden und Erkenntnisse der Wissenschaft, moderne Demokratie mit ihren normativen Grundlagen, universelle Verbundenheit und Gemeinwohlorientierung sowie Lebenszufriedenheit durch kognitives Umstrukturieren. Die Vfn. erachtet eine »pauschale Verurteilung ›der‹ Religion als schlecht oder irrational« für ebenso kontra-produktiv wie die gegenteilige »Extremposition zur Vermeidung eines postkolonialen Eurozentrismus«, der zufolge das Phänomen der Religion »stillschweigend als etwas Unerklärliches und rational Unzugängliches hinzunehmen oder gar das religiöse ›Multikulti‹ pauschal als ›bereichernd‹ zu verklären« (270) ist.
In didaktischer Hinsicht ist der Band durch Fettung zentraler Begriffe auf den betreffenden Seiten, ein Sach- und Personenregis-ter (298–302) nebst einem Literaturverzeichnis (280–297) sowie knappe, wenngleich recht schematisch bleibende Überblicke übersichtlich zu einem praxistauglichen Lehrbuch aufgearbeitet. Sie betreffen die klassischen Gottesbeweise (24–26), José Casanovas drei Dimensionen der Säkularisierung (34–41), das Ethos der einzelnen Weltreligionen einschließlich der Neuen religiösen Bewegungen (48–56), säkulare Theorien des Glücks (94–96), psychologische Verhaltens-Experimente (135–138), Moralbegründungsmodelle mit und ohne Religion (139–159), die Weltethos-Prinzipien (183–195) und schließlich ein Argumentarium gegen das Tragen von Kopftüchern und Burkas (223–241). Mit und von diesem Lehrbuch werden sicherlich auch Theologen lernen können – u. a. nicht einfach einem ungebrochen affirmativen Religionsbegriff anzuhängen, der bar jeder Religionskritik daherkommt. Ein unkritisches und unreflektiertes »Pauken« anhand dieses Grundrisses sollte freilich nicht erfolgen, dürfte aber auch nicht drohen. Zu deutlich sind neben seinen darstellerischen Stärken die (oben genannten) inhaltlichen Schwächen. Die gewichtigste unter ihnen besteht m. E. darin, dass die Vfn. des selbstkritischen Potentials der Religionen leider nicht oder nur ansatzweise gewahr wird. Dies ist umso bedauerlicher, als sich die Vfn. nach eigener Aussage »[f]ür das bessere Verständnis der Innenperspektive von Gläubigen […] über viele Jahre hinweg intensiv mit religiösen Schriften und Standpunkten auseinander gesetzt« (7) hat. Aus der Perspektive der Theologie meint Religionskritik indes immer auch, ja sogar primär, interne Religionskritik. Sie bildet eine bleibend wichtige theologische Aufgabe.