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Ausgabe:

Mai/2018

Spalte:

533–534

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Zwarg, Robert

Titel/Untertitel:

Die Kritische Theorie in Amerika. Das Nachleben einer Tradition.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2017. 464 S. m. 16 Abb. = Schriften des Simon-Dubnow-Instituts, 27. Geb. EUR 60,00. ISBN 978-3-525-37048-3.

Rezensent:

Dirk Braunstein

Detlev Claussen formulierte 1999 die These: »Keine Kritische Theorie ohne Amerika« und benannte damit die Tatsache, dass, was in den 1930er Jahren programmatisch noch begonnen wurde, in den USA, in die Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse, Friedrich Pollock, Leo Löwenthal u. a. hatten fliehen können, umgesetzt und weiter erarbeitet werden konnte. In Amerika, so heißt es in Die Kritische Theorie in Amerika, »nimmt die kritische Gesellschaftstheorie des Frankfurter Kreises überhaupt erst Formen an; hier spitzt sich die Ahnung der integrativen Kräfte der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft zur Erkenntnis ihrer sich in letzter Instanz selbst aufhebenden Entwicklungsdynamik zu; hier erfolgt die Erweiterung des Begriffs der bürgerlichen Gesellschaft hin zu einer umfassenden Dialektik der Aufklärung«, und, was für die Nachkriegszeit und für die Geschichte des Frankfurter Instituts bis in die heutige Zeit nicht zu überschätzen ist, »hier beginnen die Kritischen Theoretiker mit einer dialektischen Aneignung der empirischen Sozialwissenschaften.« (18) Sind auch zwei der wichtigsten Vertreter der Kritischen Theorie, Horkheimer und Adorno, nach dem Untergang des Nationalsozialismus nach Deutschland zurückgekehrt, bekamen ihre Texte doch im Laufe der 1960er Jahre eine ungeahnte Wirkmächtigkeit in den USA. Damit ist die Forschungsfrage umrissen, der sich Robert Zwarg in seiner überarbeiteten Dissertationsschrift stellt: »Der Rezeption der Kritischen Theorie in den Vereinigten Staaten seit den späten Sechzigerjahren, ihrem Nachleben und ihren Transformationen gilt dieses Buch.« (20)
Die Dissertation wurde am Leipziger Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur erstellt, in dessen Schriftenreihe sie nun veröffentlicht wurde. Betreut wurde sie vom Historiker Dan Diener und vom Philosophiehistoriker Ulrich Johannes Schneider. Das spezifisch Jüdische, von dem die Arbeit handelt, ist nun keinesfalls eine »religiös oder ethnisch imprägnierte ›Identität‹«, sondern ein »Habitus, der sich vor allem durch die Beschäftigung mit einem bestimmten intellektuellen Erbe realisiert« (165), das seinerseits nicht im engeren Sinne jüdisch ist, sich vielmehr der besonderen europäischen – und zumal deutschen – Geschichte verdankt. Das Exilantentum vieler Vertreter der Kritischen Theorie und die damit einhergehende Wirkung dieser in den Vereinigten Staaten ist Teil jener Geschichte, die beispielhaft anhand der Tätigkeiten des Historikers George L. Mosse und des Soziologen Hans Gerth nacherzählt wird, die als Vermittlungsinstanzen zwischen Europa und Amerika fungierten.
Die Erzählung beginnt mit einem Hinweis auf den 1970 erschienenen Sammelband Critical Interruptions. New Left Perspectives on Herbert Marcuse: »In Auftrag gegeben um die Jahreswende 1968/69, vollzog sich die Konzeption des Bandes auf der Schwelle zwischen Höhepunkt und Niedergang der Studentenbewegung. So mischen sich in den Beiträgen Ernüchterung, Pessimismus und ein durch das Versprechen der Theorie genährter Optimismus.« (49) So verstanden ist die Aneignung der Kritischen Theorie in den USA Symptom einer Krise der ›New Left‹; letztlich eine Verfallserscheinung. Was im Deutschland der Weimarer Republik seinen Anfang genommen hatte, sollte einer theoriebedürftigen Linken zu Orientierung und Neuausrichtung verhelfen, die etwa mit jenen intellektuellen und theoretischen Verwüstungen zu kämpfen hatte, die die McCarthy-Ära angerichtet hatte.
Die Studie beschränkt sich nicht auf Rezeptions- und Wirkungsforschung, sondern legt überdies noch dar, auf welche Weise eine genuin US-amerikanische Kritische Theorie formuliert und verbreitet wurde. Dazu untersucht sie die Gründung, die internen und öffentlichen Debatten sowie die diskursiven Auswirkungen zweier einschlägigen Zeitschriften, die den Transfer der Kritischen Theorie in die USA zu ihrer Aufgabe gemacht hatten: Telos, 1968 von Paul Piccone in Buffalo, New York, konzipiert, und New German Critique (NGC), die 1973 in Madison, Wisconsin, gegründet wurde. Auf diese Weise ist die Studie zugleich als Einführung in die amerikanische Kritische Theorie lesbar, vor deren Hintergrund sich wiederum erstaunlich viel über die ›kontinentale‹, sozusagen Frankfurter Kritische Theorie ablesen lässt.
Klug zeichnet Z. zudem die Demarkationslinie nach, welche die sogenannte zweite Generation der Kritischen Theoretiker, zumal Jürgen Habermas, sowohl inhaltlich als auch von der Traditionsbildung von jenen Autoren trennt, mit denen sich sowohl Telos als auch NGC zu allererst beschäftigt hatten. Am Beispiel der, hierzulande praktisch unbekannten, Theorie Piccones von der Artificial Negativity legt Z. die umfassenden amerikanischen Diskussionen über die Frage dar, wie eine Theorie zu bewerten sei, die sich vom Produktionsparadigma, d. h. von ihrem marxistischen Kern, verabschiedet hat. (219 ff.) Für die Anstrengung, die genuin US-amerikanische Kritische Theorie eben für die gesellschaftliche Situation in den Vereinigten Staaten ausgangs der 1970er Jahre zu aktualisieren, wird auf die Theorie von Habermas »bewusst verzichtet« (231): Der von Andrew Arato und Eike Gebhardt herausgegebene und wirkmächtige »The Essential Frankfurt School Reader« von 1978, der fast ausschließlich bislang noch nicht auf Englisch erschienene Texte brachte, enthielt keinen Text von Habermas. Er, dessen Werk selbstverständlich unterdessen einflussreicher in den USA geworden ist als das von Adorno, Horkheimer und selbst Marcuse, wird in der Folge weniger als radikaler Gesellschaftskritiker wahrgenommen, denn als Stichwortgeber für eine liberale politische Theorie; folgerichtig wird er schließlich als »Gegenbild zur Tradition von Marxismus, Kritischer Theorie und French Theory« (364) fungieren.
Es handelt sich bei dieser – wenn man dieses Wort verwenden möchte – Qualifikationsarbeit kurzum nicht lediglich um eine Schrift, die Z. zur Erlangung eines Doktortitels befähigen soll, sondern um ein Werk, in dem jeder Satz dafür steht, den Inhalt, die Kritische Theorie in Amerika, endlich einmal zur Disposition zu stellen und also dem europäischen, zunächst eben deutschsprachigen Diskurs, bekannt zu machen. Die Liste der in Anspruch genommenen Archive ist umfangreich: Neben etlichen Privatarchiven und Korrespondenzen mit Zeitzeugen, aus denen Z. reichhaltig zitieren kann, besuchte er in Frankfurt am Main das Theodor W. Adorno Archiv sowie das Archivzentrum der Goethe-Universität und sah die Special Collections der University of Wisconsin in Madison ein, die Radical America Papers der Wisconsin Historical Society sowie schließlich diverse Sammlungen der State University of New York at Buffalo und der State University of New York, Stony Brook. Der immense Aufwand hat sich gelohnt; Z. versteht es, das Material dergestalt in einen Zusammenhang zu bringen, dass es wahrhaft jene Geschichte der Kritischen Theorie in Amerika erzählt, die der Titel des Buchs verspricht.
Die umfassende Studie macht deutlich, wie wünschenswert es für die europäische Kritische Theorie wäre, sich intensiver mit ih­rem amerikanischen Pendant zu beschäftigen. Denn viele Schwierigkeiten, denen sie notwendigerweise begegnet – erwähnt sei nur das Verhältnis von Theorie und Praxis –, wurden offensichtlich in den USA bereits auf eine Weise reflektiert, die hier größtenteils noch unbekannt ist; es dürfte hilfreich sein, hier transatlantische Übersetzungsarbeit zu leisten. Z. hat mit diesem hervorragenden Buch den ersten Schritt getan.