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Ausgabe:

Mai/2018

Spalte:

529–532

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Rivero, Gabriel

Titel/Untertitel:

Zur Bedeutung des Begriffs Ontologie bei Kant. Eine entwicklungsgeschichtliche Untersuchung.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2014. XIV, 247 S. = Kantstudien-Ergänzungshefte, 180. Geb. EUR 109,95. ISBN 978-3-11-034180-5.

Rezensent:

Matthias Heesch

Das verbreitete Kant-Verständnis, gerade das theologisch wirksam gewordene Kant-Verständnis, geht davon aus, dass Kant die nunmehr als vorkritisch zu bezeichnende Lehre vom Sein und somit vom Sein des Seienden, d. h. der seienden Gegenstände, also die Ontologie, überwunden hat. An die Stelle der Ontologie tritt eine Wende zum Subjekt und seinen spezifischen Leistungen im Prozess der Erkenntnis. Zwar wird eingeräumt, dass Kant sich zu solchen Einsichten von zunächst ontologischen, also vorkritischen, Anfängen her vorgearbeitet hat. Aber werkgeschichtlich gesehen, so wird gesagt, sei die vorkritische, also ontologische Fragestellungen einschließende, Philosophie Kants in der kritischen Phase seines Denkens überwunden worden.
Das ist gewiss – jedenfalls teilweise – richtig. Die solchermaßen zusammenzufassende Kant-Deutung ist aber in zwei zusammenhängenden Punkten zu ergänzen: Einerseits hängen die werkgeschichtlichen Phasen von Kants Philosophie zusammen, die kritische Philosophie stellt also nicht einfach und jedenfalls nicht ausschließlich einen Neuanfang dar. Andererseits wird mit der kritischen Philosophie der Anspruch erhoben, Probleme, mit denen Kant sich auch in der vorkritischen Phase seines Denkens befasst hat, in einer geänderten Herangehensweise neu aufzugreifen und einer Lösung näher zu bringen. Es ist mithin nicht so, dass Kant, angesichts des Scheiterns seiner Ontologie, es nun mit einer Philosophie des Subjekts versucht hätte, der dann mehr Erfolg beschieden gewesen wäre. Mit diesen beiden Aspekten der Einheit von Kants philosophischem Denken befasst sich die vorliegende Monographie.
Kant hat, was nicht ganz einfach zu verstehen ist, auch in relativ späten Texten die (kritische, also subjektivitätstheoretisch orientierte) Transzendentalphilosophie als Ontologie bezeichnet (1 f.). So ergibt sich die These der Monographie, dass die subjektive Wende der Kritik der reinen Vernunft besser zu verstehen ist, wenn man sie in der Kontinuität mit der Frage nach dem Gegenstand überhaupt deutet (5), auch wenn der Aufbau rationaler Erkenntnis als solcher (mit Kant zu sprechen, die Architektonik der reinen Vernunft) nach Kants späterer Einsicht eben keine Ontologie mehr sein soll (6, zu den begriffsgeschichtlichen Zusammenhängen 20 u. ö.), womit gegenüber der von Kant zur Kenntnis genommenen Ontologie bzw. den Systemen Leibniz’, Wolffs, Baumgartens u. a. eine grundsätzliche Differenz etabliert wird: Denn diese weisen der Ontologie als abstraktester und somit in gewisser Weise umfassendster Wissenschaft eine leitende Funktion in der Architektonik zu (21). Dies wirft freilich die Frage auf, ob damit eine Begrenzung der Architektonik auf den sachlichen Radius einer formellen Ontologie gemeint ist, oder ob in irgendeiner Weise auch die Materie der Erkenntnis in die Architektonik einbezogen sein soll (33). Es ist zu fragen, wie das gehen könnte, angesichts der Programmatik einer nichtpsychologisch begründeten Logik (34.51 f.) und eines generellen Vernunftverständnisses, das die Vernunft als Rahmen materiell sehr unterschiedlicher Gegenstandserkenntnis versteht, und die insofern ihrerseits nicht als ein beobachtbares und insoweit konkretes bzw. konkretisierbares Faktum verstanden werden kann (38). Wenn die Logik für die Architektonik strukturbildend ist, wird die Integration inhaltlichen Wissens in die Architektonik der reinen Vernunft zum Problem, das begründungspflichtige Antworten verlangt. Da­mit ist aber noch nicht ohne Weiteres eine Wende zum Subjektiven verbunden: Vielmehr resultiert hieraus eine Aufwertung der Kategorie des Gegenstandes überhaupt (55), wobei sich natürlich fragt, wie dieser erfassbar sein soll. Er ist jedenfalls nur im Rahmen einer Disziplin erfassbar, die Kant immer noch Metaphysik nennt und auf konkretisierbare Gegenstände bezogen sieht, keinesfalls im Rahmen der Logik, die nur nach Aussagestrukturen jenseits jeden Gegenstandsbezuges fragt (58). Die zu stellende Frage ist also die nach dem Gegenstand überhaupt, dem konkretisierende Eigenschaften zugewiesen werden können, was natürlich nicht mehr in die Metaphysik fällt und allenfalls, jedenfalls der Beschreibung der ermöglichenden Prozesse nach, in die später so bezeichnete Transzendentalphilosophie. Zwischen dem Konkretheitsanspruch der Metaphysik und deren Tendenz zur Formalisierung bis hin zur Behandlung des reinen Seins (der Ontologie) zerreißt die vorkri-tische Metaphysik in gewisser Weise (70–75 u. ö.). Die entsprechende Frage wird allerdings an die spätere Transzendentalphilosophie weitergegeben.
Im Sinne der auf der Kategorie reiner Gegenständlichkeit beruhenden Ermöglichungszusammenhänge sind nun die metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft, der Psychologie sowie aller Dinge überhaupt (also der Ontologie) und der Metaphysik selbst zu klären (60). Diese auf eine Vorlesungsnachschrift verweisende Beschreibung eines bestimmten Stadiums von Kants Philosophie (ca. 1762–1765) zeigt, dass Kant auf der Suche nach einer Grunddisziplin zum Verständnis von gegenstandsbezogener Erkenntnis überhaupt war, und dass er womöglich erwogen hat, das Kategoriengerüst dieser Disziplin auch auf diese selbst anzuwenden. Diese letztere, später von Hegel umgesetzte, Konsequenz hat Kant bekanntlich nicht gezogen, was zu einer Reihe von Deutungsambivalenzen im Umgang mit seiner späteren (kritischen) Philosophie geführt hat. Jedenfalls kann sich die Metaphysik vom Gegenstandsbezug nicht losmachen (63.65 u. ö.), und das begrenzt ihre Erweiterbarkeit in Richtung einer Transzendentalphilosophie, die sich auf kein (empirisch) gegebenes Objekt bezieht (74). Warum nicht? Weil im Vorfeld empirischer Erkenntnis für die Näherbestimmung von Sachverhalten (also als Prädikate) nur Verstandesbegriffe in Betracht kommen. Damit wird das Urteil aber subjektiv – nicht im Sinne psychologisch-innerlicher Bestimmtheit, sondern in dem Sinne, dass Prozesse des Zusammenfügens von Verstandesbegriffen Synthesen darstellen, denen der Stoff für die konkrete Gestaltung von Bewusstseinsgegebenheiten erst von außen zugeführt werden muss (106 u. ö.). Dies darf allerdings nicht so gedacht werden, dass es am Ende zum Widerspruch wird, dass die (ganz in sich abgeschlossen gedachte) Vernunft überhaupt sachlich bestimmte Erkenntnisse gewinnen kann (119). Womöglich schon im Vorgriff auf den später entwickelten Begriff der transzendentalen Logik differenziert Kant in der Auseinandersetzung mit Baumgarten realen und logischen Grund, was unmittelbare ontologische Konsequenzen hat: Das Eine findet sich, wo Einheit ist (128): Der ganze Begriffsapparat der Ontologie lässt sich zwar an Phänomenen zur Anwendung bringen, man kann ihn also in den Kontext des Wirklichkeitsverstehens im Sinne (transzendental-) logischer Begründung durchaus integrieren, aber seine Objektivsetzung außerhalb dieses Anwendungszusammenhangs ist außerordentlich problematisch. Das Eine stellt sich somit als heuristische Kategorie heraus. Wenn das nicht gesehen wird, dann droht die falsche Gleichsetzung logischer und realbezogener Aspekte. Das Transzendentale ist also als eine Art logische Notwendigkeit (131) zu verstehen (also als Inbegriff dessen, was für die Erschließung sinnvoll benennbarer und verstehbarer Phänomene erforderlich ist): Damit ist die Transformation der Metaphysik in eine Transzendentalphilosophie (unter Einschluss einer transzendentalen Logik) vorgezeichnet, deren Inhalte in dem Sinne als subjektiv gelten, als sie die einzig als Etwas überhaupt real (d. h. durch Erfahrungstatsachen) bestimmbare Instanz, das Subjekt, bestimmen (138), und damit die konkrete Bestimmtheit des Erfahrungssubjekts herstellen. In gewisser Weise tritt also das Subjekt in die Funktion des Gegenstandes und die Transzendentalphilosophie in die Funktion der Metaphysik ein. Das ist aber nicht als Subjektivierung von Erkenntnis, sondern eher als Objektivierung des Subjekts zu verstehen. Daran ist auch angesichts dessen festzuhalten, dass die Struktur der Zueignung von Prädikaten an das Subjekt, die Logik als Formenlehre des Urteilens, von diesem selbst als Gegenstand der (transzendentalphilosophisch umgedeuteten) Metaphysik zu unterscheiden ist, die damit zugleich in die Stellung der Ontologie einrückt (142). Eine Ontologisierung der Logik bzw. ihres Gegenstandsbereichs ist für Kant aber ausgeschlossen.
Kategorien sind Handlungen der Vernunft, durch die ein Ge­genstand gedacht wird (169), in subjektivitätstheoretisch umgedeuteter Weise also: wodurch das Etwas überhaupt, das erkennende Bewusstsein als solches, bestimmt wird. In gewisser Weise gilt also – fast tautologisch – dass die Bestimmungsleistung, die das transzendental-subjektive Etwas überhaupt (als Subjekt im allgemeins­ten Sinne) den Objekten gegenüber erbringt, und womit diese konstituiert werden, zugleich das Etwas überhaupt (also gewissermaßen auch als Objekt) bestimmt. Dieses rückt damit, jedenfalls in der Lesart einiger Nachfolger Kants, etwa Fichtes, in die Stellung der Indifferenz von Subjekt und Objekt ein – eine Konsequenz, die Kant freilich genauso wenig zieht, wie die im Kontext seines Denkens als möglich erscheinende und von Hegel durchgeführte transzendentale Deutung der Transzendentalphilosophie selbst. Somit weist die Arbeit einerseits den werkgeschichtlichen Zusammenhang der Thematik im Denken Kants auf und verhilft auch zu einer Perspektive auf die über Kant hinausgehende Entwicklung der Philosophie.
Andererseits: Wenn Kant betont, dass sich die Leistungen des Verstandes, mithin der sinnlich gebundenen Vernunft, von den Formen der Anschauung nicht lösen lassen (211), dann ist das zwar der Inbegriff der kritischen Wende zum Subjekt, aber es macht zugleich das transzendentale Subjekt als Transformationsgestalt des Etwas überhaupt deutlich, das sich entsprechend seiner Eigenlogik bestimmen lässt und bestimmt werden muss, wenn sich nicht die ganze Erkenntnis auf Leerformen beschränken soll. Es macht weiter deutlich, dass, wenn eine solche Bestimmung im Rahmen der raumzeitlichen Sinnlichkeit geschehen ist, objektive Erkenntnis seiender Dinge und Sachverhalte gegeben sein kann. Der Rückverweis dieser Deutung von Erkenntnis auf eine sozusagen allgemeine Wissenschaft entspricht in gewisser Weise dem Modell, das auch schon der vorkritischen Metaphysik Kants und seiner Vorgänger zugrunde gelegen hat. Womöglich reflektiert sich das auch in Kants in der Arbeit referierter Äußerung, metaphysische Erkenntnis stelle einen Übergang des Sinnlichen hin zum Übersinnlichen dar (216). Zwar verweist der Vf. darauf, dass die nachgezeichnete Entwicklung von Kants Denkweg zu den Themen Metaphysik, Ontologie und Transzendentalphilosophie sich nicht bruchlos im Sinne dieser These verstehen lässt (216). Aber die Deutung von Subjekts- und Gegenstandssphäre durch den jeweils anderen Bereich lässt die Theorie des transzendentalen Subjekts und der seiner Wirklichkeitserschließung zugrundeliegenden transzendentalen Logik in einem ähnlichen Sinne wie die vorkritische Metaphysik und Ontologie als in einem bestimmten Sinne als übersinnlich deutbar erscheinen: Diese Übersinnlichkeit besteht in der tragenden Rolle und transzendentalphilosophischen Realisierung des Konzepts eines Gegenstandes bzw. Etwas überhaupt.
Im Sinne dieser Überlegungen lässt sich aus der dargestellten Kant-Interpretation folgern, dass Objektivität und transzendentale Subjektivität zwar nicht dasselbe meinen, dass sie aber unterschiedliche Gestalten eines Gedankens sind: Dass die Struktur des Wirklichen sich letztlich in einem beschreib- und nachvollziehbaren Konzept denken lassen muss, wenn Realität nicht völlig irrational werden soll. Diese Parallelität zwischen reiner (der Sache nach: transzendentaler) Gegenständlichkeit und reiner (transzendentaler) Subjektivität wird auch dadurch erkennbar, dass der erkenntnistheoretische Status weder des einen noch des anderen Konzepts bei Kant klar wird. Bezogen auf die Substanzmetaphysik der Schulphilosophie des 17. und frühen 18. Jh.s hat Kant das gesehen. Zu der Folgerung einer Transzendentalphilosophie der Transzendentalphilosophie, die erst den epistemologischen Status der transzendentalen Subjektivität hätte sichern können, ist freilich nicht Kant selbst, sondern erst die nachfolgende Generation gelangt, am konsequentesten Hegel. Diese abschließenden Überlegungen entfernen sich etwas von dem zu besprechenden Buch, machen aber das Gewicht der in dem Buch zusammengetragenen Beobachtungen und des abschließenden Ergebnisses deutlich: Dass es zwischen der vorkritischen Ontologie und der kritischen Transzendentalphilosophie keinen grundlegenden Widerspruch gibt, auch da nicht, wo Kant vom Boden der Transzendentalphilosophie aus das Projekt einer Ontologie negativ bewertet und den entsprechenden Begriff als zentrale Chiffre der Distanzierung von jenem Ausgangspunkt benutzt, der in gewisser Weise auch den Boden der Transzendentalphilosophie darstellt. In dem geleisteten Beitrag zur Aufhellung dieser geschichtlichen, vor allem aber sachlichen, Zusammenhänge besteht das Verdienst dieser hervorragenden Monographie.