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Ausgabe:

Mai/2018

Spalte:

527–529

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Kucinski, Andrzej

Titel/Untertitel:

Naturrecht in der Gegenwart. Anstöße zur Erneuerung naturrechtlichen Denkens im Anschluss an Robert Spaemann.

Verlag:

Paderborn: Ferdinand Schöningh 2017. 626 S. Kart. EUR 89,00. ISBN 978-3-506-78710-1.

Rezensent:

Johannes Soukup

Im Sinne des Untertitels besteht das vorliegende Buch aus zwei Teilen. Auf den ersten gut 200 Seiten werden die Grundlagen des Naturrechtsdenkens dargestellt und in einem zweiten Teil zeigt Andrzej Kucinski auf über 300 Seiten, dass dieser philosophische Ansatz nicht nur im Zentrum von Robert Spaemanns Lebenswerk steht, sondern weshalb ihm dessen Überlegungen als besonders geeignet erscheinen, um das Naturrechtsdenken zu erneuern und für die vor uns stehenden Probleme zu erweitern.
Die Philosophie Robert Spaemanns stellt K. gut nachvollziehbar dar und – trotz seiner unverborgenen Sympathie dafür – auch sehr sachlich. Auf den Inhalt dieser Philosophie einzugehen, kommt mir als Rezensent des vorliegenden Buches nicht zu; deswegen widme ich mich vorwiegend dem ersten Teil, K.s Vorstellungen vom Naturrecht.
Letzteres erscheint K. offensichtlich als ethisches Nonplusultra. Er versucht nicht, dies zu begründen, und verzichtet vollkommen darauf, andere Ansätze auch nur zu erwähnen. Dass es sich hierbei im Wesentlichen nur (noch) um eine »katholische Ethik« handelt, ist ihm sehr wohl bewusst, stellt aber keinen Einwand dar. Er beginnt seine kurze historische Darstellung mit der vorchristlichen Antike, zeigt die Bedeutung des Naturrechtsdenkens in der (Hoch-)Scholastik und sieht für unsere gemeinsame Zukunft mit ihren absehbaren Problemen praktisch nur die Chance, diese große Tradition in der Gegenwart wiederzubeleben.
Sofern Bedenken oder kritische Einwände gegen den Ansatz überhaupt Erwähnung finden, werden diese mit dem Hinweis re­lativiert, dass sie sich lediglich auf die Engführung des naturrechtlichen Denkens in der Neuscholastik bezögen; sie wird zum Sündenbock für die »gegenwärtigen Mißverständnisse«. Deswegen geht es darum, zu der großen antik-mittelalterlichen Tradition zu­rückzukehren.
Sowohl die Argumentation K.s als auch seine Auswahl der relevanten Probleme und Zitate ist sicherlich ein wenig einseitig an den offiziellen kirchlichen Verlautbarungen orientiert; seine polnische Herkunft ist wohl nicht völlig sekundär. Die beste Zusammenfassung gibt K. auf den Seiten 571–572 selbst:
»Das Naturrecht als Bezeichnung für die unhintergehbaren und der positiven Gesetzgebung vorgelagerten Grundorientierungen des menschlichen Verhaltens im Umgang miteinander gehört zu den großen Themen der philosophischen Reflexion seit ihren Anfängen in der Antike. Hintergrund dieses Interesses ist die universale Suche nach sicheren Kriterien, die jenseits der kulturellen und zeitlichen Grenzen ihre bleibende Gültigkeit für das richtige Recht behalten. Die antik-mittelalterliche Entsprechung von Denken und Sein im Rahmen einer groß angelegten Synthese von Diesseits und Jenseits war das ursprüngliche, günstige Ambiente für die Naturrechtsreflexion, die durch die Begründung der naturrechtlichen Normativität im Unbedingten ihre zunächst im Grundsätzlichen unhinterfragte Absicherung fand.
Auf dieser Grundlage […] war es in der Hochscholastik möglich, einerseits die richtige Erkenntnis der lex naturalis zu gewährleisten, andererseits der menschlichen – durch das göttliche Licht erleuchteten – Vernunft eine umfassende Konkretisierungskompetenz des Naturrechts zuzusprechen. Durch die nominalistische Erschütterung des Vertrauens in die Einheit des göttlichen Wesens und Willens […] hat in der Neuzeit die Vernunft die Rolle der gesetzgeberischen Autorität übernommen […]
[…] Der Versuch einer katholischen Restauration des Naturrechtsdenkens in Form der neuscholastischen Verpflichtung auf ein undifferenziertes Wesensdenken und Deduktionsverfahren trug zu einem weiteren Bedeutungsverlust des Naturrechts als einer seriösen Option universalethischer Verstän- digung bei. […] Dagegen bietet die nach dem Zweiten Weltkrieg profilierte Ethik der Menschenrechte für das Naturrechtsdenken eine Chance, den Gedanken einer notwendigen ethischen Grundgemeinsamkeit angesichts von globalen Problemen neu einzuführen. […]
In der klassischen Tradition des Naturrechts fungiert Gott als Garant einer Entsprechung von Sein und Sollen […]« (Hervorhebungen von mir; J. S.).
Jenseits aller Polemik gibt es einige Fragen, die etwas tiefer hätten ausgeleuchtet werden müssen; insbesondere bestehen zwei wich-tige Probleme, bei denen K. meines Erachtens etwas hinter den heute in der Philosophie üblichen Standards zurückbleibt, obwohl sie für das Thema – auch nach Ansicht von K. – von entscheidender Bedeutung sind; das betrifft die Fragen der Wahrheit und der Subjektivität.
K. erwähnt keinerlei Arbeiten, in denen der traditionelle Subjektbegriff – als »Tod des Subjekts« – infrage gestellt oder ein denkbarer Gegenentwurf – im Sinne von Barbaras, Henry, Lacan oder Levinas beispielsweise – aufgezeigt wird. Er denkt das Subjekt ganz traditionell als Objekt, das heißt, als Körper mit einer Individualseele. Dass diese Konstruktion aus einem Objekt kein Subjekt machen und auch die Ehrenbezeichnung »Person« daran nichts ändern kann, sieht K. nicht.
K. glaubt, hierbei weiter zu sein als die Neuscholastik, indem er deren Aussagenlogik durch eine Prädikatenlogik ergänzt. Aber das hat nicht nur überhaupt nichts mit einem Denken des Subjekts zu tun, sondern zeugt auch nicht davon, dass K. die Möglichkeiten und Grenzen jeglicher Logik verstanden haben könnte.
Bei der Wahrheit kennt K. – ganz im Sinne des letzten Papstes, auf den er sich auch des Öfteren beruft – nur zwei Ebenen; oder besser: nur eine einzige Ebene: Die Wahrheit ist objektiv und der Zeit enthoben; in diesem Sinne absolut und, insoweit es Glaubensfragen betrifft, in den Dogmen unkorrigierbar festgehalten. Daraus ergeben sich nicht zuletzt Funktion und Aufgaben des katholischen Lehramts. Die Alternative dazu besteht in Relativismus, Be­liebigkeit oder Willkür. Dieses »anything goes« kommt nicht zu­letzt darin zum Ausdruck, dass Staaten völlig falsches Recht als das positiv gesetzte (Un-)Recht ihrer Gesetze erlassen können.
Dass es noch eine dritte Ebene geben könnte, die das Gewissen und die Mündigkeit der Subjekte berücksichtigt, kommt K. nicht in den Sinn. Wahrheit könnte subjektiv sein, weil sie sich aus unserer Biographie, unserem Hier und Jetzt sowie den daraus entspringenden Aufgaben ergibt. Dann hat unsere Wahrheit etwas mit uns, unserem Leben und dessen Sinn zu tun. Hierfür ist es nicht nur bedeutungslos, worin die Summe »1+1« besteht; sondern die übliche Überzeugung, sie sei »2«, ist auch nicht wahr. Es gibt gar keine Wahrheit in den exakten Wissenschaften; in der Theologie oder Philosophie sollten wir uns jedoch darum bemühen – aber das setzt Offenheit für die Fragen der Zeit voraus.
Damit habe ich gleich ein Beispiel dafür angegeben, dass die Wahrheit nicht nur subjektiv, sondern sogar situativ ist: Fragen mich meine Enkel, ob es wahr sei, dass »1+1= 2« ist, sage ich natürlich ohne Zögern »ja«; ich will ihnen doch keine Schwierigkeiten in der Schule bereiten.
Wenn ich das zu Ihnen sage, lüge ich. Wir können voneinander Wahrhaftigkeit – nicht verlangen, aber immerhin – erhoffen; die Wahrheit kann in diesem Leben niemand haben. Es gibt sie nur als Weg, weil wir uns entwickeln sollten, solange wir leben. K. beschreibt – wie ich überzeugt bin – sehr wahrhaftig den Status quo seines Denkwegs bezüglich Recht, Subjektivität und Wahrheit; der Rezensent ebenfalls.