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Ausgabe:

Mai/2018

Spalte:

524–525

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Bösel, Rainer

Titel/Untertitel:

Wie das Gehirn »Wirklichkeit« konstruiert. Zur Neuropsychologie des realistischen, fiktionalen und metaphysischen Denkens.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2016. 192 S. Kart. EUR 34,00. ISBN 978-3-17-030265-5.

Rezensent:

Hans-Dieter Mutschler

Traditionell metaphysische Erklärungen waren holistisch und gingen top down vor. Sie unterstellten einen ganzheitlich-ideellen Faktor im Seienden, der seine wesentlichen Eigenschaften erklärbar machen sollte. Moderne Naturwissenschaft orientiert sich eher an Demokrits Materialismus, wonach wir das Seiende in Teile zerlegen sollten, um daraus seine Ganzheit bottom up zu rekonstruieren.
Diese Sichtweise hat sich z. B. mit der Newtonschen Physik verbunden und führte im 18. Jh. zu einer Art von »Klötzchenmaterialismus«. Allerdings ließ sich dieser »Klötzchenmaterialismus« in der Physik nicht durchhalten. Steigt man hinab in die Welt der Quanten, so zeigt sich ein charakteristischer Holismus, für den das Ganze nicht mehr die Summe seiner Teile ist: Bei verschränkten Systemen, also bei Systemen, die in Wechselwirkung standen, superveniert der Zustand des Gesamtsystems nicht mehr auf den Teilsystemen, und weil die meisten Quantensysteme schon miteinander in Wechselwirkung standen, gibt es die begründete Auffassung, dass es in der Natur gar keine isolierten Systeme gibt, sondern dass sie nur von uns zum Zwecke der Berechnung ausgegrenzt werden. Dies erklärt übrigens leicht, weshalb die Entdecker der Quantentheorie, Erwin Schrödinger und Werner Heisenberg, keine Materialisten waren.
Eine ähnliche Entwicklung gab es in der Biologie. War nach der Entdeckung der Doppelhelix durch Crick und Watson in den 50er Jahren die Auffassung jahrzehntelang gang und gäbe, wonach die Gene die hinreichenden Erklärungsgründe für Bau und Verhalten der Organismen sein sollten – Gene waren also so etwas wie die Atome des Lebendigen –, so zeigte sich bald, dass die Kausalrichtung nicht nur bottom up lief, sondern dass auch Zellen Gene an- und ausschalten können im Sinn einer Top down-Kausalität. Mehr noch: Je mehr man die Wechselwirkung in der Zelle und im Or-ganismus verstand, umso mehr zeigte sich, dass im Bereich des Lebendigen mit einer reinen Bottom up-Kausalität nichts auszurichten war, wie in der Systembiologie heute allgemein anerkannt wird. Das hat zur Einsicht geführt, dass nicht nur ein Gen ganz verschiedene Eigenschaften codiert, sondern auch umgekehrt: Das materialistische Supervenienzprinzip ist hier verletzt. Der materielle Seinsbestand trägt nicht mehr die höheren Eigenschaften. Auch dies erklärt wiederum leicht, weshalb ein dogmatischer Ma­terialist wie Richard Dawkins bis heute die Ergebnisse der Systembiologie noch nicht zur Kenntnis genommen hat.
Ähnliches ließe sich in der Soziologie zeigen. Dort haben sich extrem liberalistische Konzepte, wonach sich die Eigenschaften des Sozialen aus denen der Individuen hinreichend verständlich ma­chen sollen, nicht bewährt. Daher z. B. die Bewegung des Kommunitarismus in der Sozialphilosophie. Aber die materialistische Philosophie einer atomistischen Bottom up-Philosophie sitzt tief und sie dominiert noch immer in den Neurowissenschaften. Dort ist die Vorstellung herrschend, es sei hinreichend, das Gehirn in im­mer kleinere Teile zu zerlegen, um zu erklären, was im Geist vor sich geht. Das liegt z. B. Daniel Dennetts »Multiple Drafts Model« zugrunde.
Dies ist auch die Strategie von Rainer Bösel. Er ist zugleich ausgewiesener Psychologe und Neurowissenschaftler, wählt aber als Einteilungsprinzip seiner Untersuchung nicht etwa die Semantik psychologisch verwandter Themen, sondern vielmehr die Teile des Gehirns, näherhin der Stirnhirnregion, die er in drei Areale aufteilt und manchmal noch nach rechts und links ausdifferenziert.
Schon ein erster Blick auf seine Arbeit zeigt aber, dass diese Einteilung nur sehr bedingt den inhaltlichen Gesichtspunkten entspricht, die er auf dem Niveau der Psychologie zur Geltung bringt, denn es ist so, dass vielen Themen der Psychologie gar kein be­stimmtes Hirnareal zugeordnet werden kann, auch ein und dasselbe Hirnareal scheint mit völlig verschiedenen psychischen Leis­tungen verbunden zu sein, die, inhaltlich gesehen, gar nichts miteinander zu tun haben. Wir haben also einen Sachverhalt wie in der Physik, Biologie oder Soziologie vor uns: Das Verhältnis zwischen Gehirn und Geist ist systemisch, zugleich bottom up und top down, d. h. nur analytisch und synthetisch zugleich verständlich zu ma­chen.
Die Kapitel des Buches sind grob eingeteilt in: Orientierung, Berücksichtigung von Wahrscheinlichkeiten, Ich-Beteiligung im Denken, Vergleiche und Analogien, Zweifel an der Erfahrung, Kommunikation, Passung und Bewertung. Diese Einteilung verdankt sich, wie gesagt, nur zum geringsten Teil dem Bezug auf bestimmte Gehirnareale. Auch die Unterkapitel scheinen sich eher dem zu verdanken, was in der psychologischen Forschung gerade so passiert. Unter »Wahrscheinlichkeit« soll sich z. B. Aberglaube, Gedankenexperiment und Intuition subsumieren lassen, unter »Vergleichen und Analogien bilden« Relationen, Spielen und fiktives Denken, und das meiste ist gar nicht mehr an das Gehirn rückgebunden.
Um es mit einem Wort zu sagen: Dieses Buch ist nützlich, wenn man es gegen den Strich bürstet. Es enthält sehr viele Berichte über neuere psychologische Experimente, die man mit Gewinn zur Kenntnis nimmt, so z. B. die Fähigkeit oder Unfähigkeit der Risikoabschätzung bei Glücksspielen, Lernprozesse, die infolge zufälliger Verstärkung in den Aberglauben hineinführen, Konfabulationen, bei denen wir Erinnerungen und Phantasien vermischen, usw. Dass solche Experimente von ihrer Thematik her keinem System folgen, liegt in der Natur der Sache. B. berichtet über das, was in der psychologischen Forschung eben geschieht, und das muss sich ja doch nicht künstlich in eine starre Ordnung bringen lassen. Man liest das Buch also am besten so, dass es uns über neuere Forschungsergebnisse der Psychologie informiert, ferner so, dass manche psychischen Prozesse bestimmten Hirnarealen zugeordnet werden können, was oft ebenfalls neu ist.
Der materialistische Anspruch einer reinen Bottom up-Erklärung wird aber durch diese Untersuchung glänzend widerlegt.