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Ausgabe:

Mai/2018

Spalte:

519–522

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Franz, Ansgar, Kurzke, Hermann, u. Christiane Schäfer [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die Lieder des Gotteslob. Geschichte – Liturgie – Kultur. Mit besonderer Berücksichtigung ausgewählter Lieder des Erzbistums Köln. Hrsg. m. Unterstützung v. R. Mailänder unter Mitwirkung v. A. Ackermann.

Verlag:

Stuttgart: Verlag Katholisches Bibelwerk 2017. 1314 S. Geb. EUR 78,00. ISBN 978-3-460-42900-0.

Rezensent:

Johannes Schilling

Dieses Buch ist ein Schatzhaus der Liturgie-, Kirchen- und Kulturgeschichte, ein rechter thesaurus ecclesiae. Sein Reichtum ist in einer Rezension nicht zu erschließen, aber einen Weg kann man weisen und sagen, dass es sich lohnt, diesen Liederschatz zu besichtigen und mit und von ihm zu singen und zu sagen.
Seit dem Jahr 2000 erschließen die Evangelischen mit der in Heften erscheinenden »Liederkunde« nach und nach das »Evangelische Gesangbuch«. Es könnte sein, dass dieses monumentale, großar-tige Werk dann zum Abschluss gekommen sein wird, wenn die evangelischen Kirchen in Deutschland ein neues Gesangbuch vorbereiten oder herausgeben. Noch ist es nicht so weit, aber der Zeitdruck hat längst auch die Kirchen erreicht, und Anwälte vermeintlich oder tatsächlich drängender Innovationen melden ihre vermeintlichen oder begründeten Rechte an.
Ungefähr ein halbes Jahrhundert lang hatte das Evangelische Kirchengesangbuch (EKG) zwei Generationen deutschsprachiger Protestanten als ihr Gesangbuch gedient. Es erschien zuerst 1950, nach schwerer Zeit; es hat durch seine Konzentration auf die reformatorische Liedtradition zu manchen theologischen Klärungen beigetragen und durch die Verbannung religiöser »Volkslieder« zugleich manchen Schaden angerichtet – kein Wunder, dass Lieder wie »Herr, deine Liebe« oder »Der Tag, mein Gott, ist nun vergangen« aus dem Evangelischen Gesangbuch nunmehr zu Lieblingsliedern in vielen Gemeinden geworden sind. Und auch nicht zu vergessen, dass »Stille Nacht, heilige Nacht« im EKG als für den Gottesdienst nicht geeignet bezeichnet worden war. Da wandert die Frömmigkeit dann eben aus der Kirche aus. Auch künftige Gesangbuchmacher werden sorgfältig zu bedenken haben, wie das Verhältnis von Religiosität und Theologie in einem Gesangbuch zu bestimmen ist und was eine solche Verhältnisbestimmung für die Aufnahme oder den Ausschluss von Liedern bedeutet.
Das Gotteslob (GL) als katholisches Einheitsgesangbuch er­schien zuerst 1975. Wie die »Einheitsübersetzung«, die einen einheitlichen Bibeltext für die deutschsprachigen katholischen Diözesen herstellte, diente auch das GL dem Zweck, gemeinsame Lieder für die deutschsprachigen Katholiken bereitzustellen, mit Anhängen für die einzelnen Diözesen, entsprechend denen für die evangelischen Landeskirchen.
Seit 2013 gibt es nun das neue Gotteslob 2, und der vorliegende Band erschließt dieses Gesangbuch. Wofür die Evangelischen Jahrzehnte brauchen, das wird hier auf einen Streich erledigt – eine bemerkenswerte Leistung. Freilich konnten die Verfasser vielfach auf die Monographien der »Liederkunde« zurückgreifen, und die Herausgeber sind erfahren in gemeinsamer hymnologischer Arbeit – zwei von ihnen, Franz und Kurzke, waren Mitherausgeber und Autoren des »Geistlichen Wunderhorn« (zuerst 2001, letzte Auflage 2009), jenem wunderbaren Hausbuch, das die bedeutendsten und schönsten geistlichen Lieder in seinen Auslegungen zwar nicht zum Klingen, aber doch zum Verstehen bringt. Und dann singen sie sich eben auch schöner als zuvor.
»Die Lieder des Gotteslob« kommen mit einer gewissen Feierlichkeit daher. Zwischentitel mit Versalien des Alphabets schmü-cken den Band; das Dünndruckpapier ermöglicht die Aufnahme des reichen und umfangreichen Inhalts in einen Band; drei Lesebändchen, ein schwarzes, ein graues und ein rotes, unterstreichen den Eindruck, dass es sich um ein geistliches Werk handelt. Der Textteil beginnt mit »A« und der Auslegung von Ach bleib mit deiner Gnade (GL 436), einem evangelischen Lied, und endet mit »Z« – Zum Mahl des Lammes schreiten wir ist das letzte behandelte Lied. Die Zwischentitel enthalten jeweils eine Übersicht über die unter dem jeweiligen Buchstaben behandelten Lieder. Der Anhang (1235–1314) enthält Hinweise zur Handhabung, abgekürzt zitierte Lite-ratur, Gesangbücher und Quellenwerke (*Sternchenverzeichnis), Liedregister, Bibelstellenregister, Autorenkürzel, Nachwort und Dank.
Die Lieder des Gotteslob 2 werden also weder in der nummerischen Reihenfolge behandelt noch etwa in der des Kirchenjahres, sondern eben alphabetisch. Das große Werk, das die 293 Lieder des Stammteils sowie 20 Kölner Lieder behandelt, ist von insgesamt 23 Autoren erarbeitet; sie beziehen sich außer auf die wissenschaft-liche Literatur bei neueren Liedern auf Selbstauskünfte der Verfasser – eine, wie ich finde, kluge Entscheidung – und unveröffentlichte »Lieddossiers«, die in Mainz entstanden sind. Da dürfte viel Vorarbeit für dieses Buch geleistet worden sein.
Die Monographien erschließen die Lieder in vielfältiger Hinsicht. Behandelt werden Text, Melodie, Vorlagen, Geschichte, Aufnahme in die Gesangbücher und kulturelle Kontexte oder Wirkungen. Zu zahlreichen Stücken findet man die originalen Erstfassungen und/oder die Vorlagen, so etwa das Gloria in excelsis Deo (15), das Stabat mater (104 f.), den Hymnus Lauda Sion salvatorem (161–163) zu Gottheit tief verborgen (GL 497) oder den Sonnengesang des Franz von Assisi (465).
Sehr erhellend ist die Darstellung der Rezeption evangelischer Lieder in katholischen Gesangbüchern vor dem GL – da gibt es manchmal verschlungene Wege über Diözesangesangbücher, die dann in das Einheitsgesangbuch münden. Etliche evangelische Lieder werden in von den evangelischen Gesangbüchern abweichenden Textfassungen und/oder Melodien geboten: Unverständlich sind die Verkürzungen von Befiehl du deine Wege (GL 418/EG 361) auf vier oder des auch im EG nicht vollständigen Liedes Herzliebster Jesu (GL 290) von 15 auf ebenfalls nur vier Strophen oder die Auslassungen in Lobt Gott, ihr Christen alle gleich (GL 247), die jeweils von den Bearbeitern kritisch angemerkt werden.
Aber auch Evangelische können Entdeckungen machen: Markus Jennys Übertragung von Veni redemptor gentium (dessen Übertragung Luthers in Nun komm, der Heiden Heiland nicht leicht zu verstehen ist) in Komm, du Heiland aller Welt (GL 227) fehlt im EG. Sehr bedenkenswert ist hier Alexander Zerfass’ Kritik an der Fassung im GL. – Detlev Blocks Lied Das Jahr steht auf der Höhe (GL 465) hat in den Stammteil des EG nicht Eingang gefunden – Luther hat den Johannistag, für den es bestimmt ist, freilich noch für ein Christusfest gehalten. – Jochen Kleppers Lied Der du die Zeit in Händen hast (GL 257) wird mit einer anderen Melodie als der im EG versehen, und die wirkt sehr passend. Auch sonst sind Variationen der katholischen Lieder zu den evangelischen erhellend: Du lässt den Tag, o Gott, nun enden (GL 96) hat die gleiche Vorlage wie Der Tag, mein Gott, ist nun vergangen (EG 266), ebenso nahe beieinander sind Engel auf den Feldern singen (GL 250) und Hört der Engel helle Lieder (EG 54).
Für den Historiker sind Lieder wie Alles meinem Gott zu Ehren (GL 455, Duderstadt 1724) von Interesse, wenn sie, wie hier im Kommentar, in den konfessionsgeschichtlichen Kontext eingeordnet werden. Und der Reformationshistoriker wird sein Augenmerk besonders auf die Lieder Luthers und der übrigen Reformatoren richten. Oder wenn man die Übersetzungen von Dicimus grates tibi anschaut, die mit Gott aller Schöpfung heilger Herr (GL 539) und Melanchthons Bearbeitung verglichen werden (368–372).
Die Übertragungen altkirchlicher Hymnen durch den Eichstätter Theologieprofessor Friedrich Dörr (1908–1993) sind ziemlich stark und unbedingt eine Bereicherung des Kirchengesangs. Denn sie fassen die Theologie der alten Kirche in Gesänge, deren geistiger und geistlicher Horizont weiter ist als der mancher späterer Hervorbringungen. Sehr überzeugend ist daher die gemeinsame Behandlung von Komm, Schöpfer, Geist, kehr bei uns ein (GL 351), Veni, creator spiritus (GL 341) und Komm, Heilger Geist, der Leben schafft (GL 342; 659–667).
In die Musik- und Kulturgeschichte führen Liedmonographien wie die zu Bei stiller Nacht (GL 761), mit Hinweisen auf die ganz anders ausgefallene Bearbeitung von Johannes Brahms (In stiller Nacht) oder Nun danket alle Gott (GL 405). – Von den zahlreichen Marienliedern hat das Lied Maria durch ein’ Dornwald ging (GL 224) über die Jugendbewegung, insbesondere den »Zupfgeigenhansel«, erst unlängst Einzug in das GL (224) gefunden – Maria, breit den Mantel aus (GL 534) dagegen hat eine lange Rezeptionsgeschichte seit dem Dreißigjährigen Krieg aufzuweisen.
Protestanten können aus der Lektüre dieses Buches lernen, was der katholische Kirchengesang Christoph von Schmid (1768–1854), Heinrich Bone (1813–1893) und seinem Gesangbuch Cantate (zuerst 1847), Maria Luise Thurmair (1912–2005) und Georg Thurmair (1909–1984) verdankt – und zugleich feststellen, dass zahlreiche ihrer Texte auch in evangelischen Gebrauch übergegangen sind. Und umgekehrt wird etwa die Bedeutung der Übertragungen von Jürgen Henkys (1929–2015) für die katholischen Gesangbücher deutlich. Die Ökumene des Gesangs, so möchte man sagen, ist viel weiter fortgeschritten als die in anderen Bereichen, und auch deshalb ist es gut, wenn wir weiter in versöhnter Verschiedenheit leben, zur wechselseitigen Bereicherung.
Begründete Kritik im Einzelnen und die Korrektur von Versehen wird nur aus genauem Studium der Artikel und aus eigener gründlicher Kenntnis kommen. Mir ist bisher Folgendes aufgefallen: Adolf Krummachers Lied lautet am Anfang: Stern, auf den ich schaue, Fels (nicht: Feld, so 667), auf dem ich steh’; S. 707 fehlt zwischen der 3. und 4. Strophe eine Leerzeile; der Titel des Straßburger Kirchenamts lautet korrekt: »Teutsch Kirchen ampt … singt vnd halt … vnser sterck … Koͤpphel« (1280). Bei den Gottesdienstordnungen und Gesangbüchern des 16. und 17. Jh.s wären die VD 16- bzw. VD 17-Nummern, sofern vorhanden, nützlich. – Es mag derlei noch mehr geben, aber man studiert ein solches Werk ja nicht auf seine möglichen oder tatsächlichen Fehler hin.
Das Buch ist insgesamt ein großer Wurf; den Autoren und Herausgebern gebührt hoher Respekt und der Dank der belehrten und erfreuten Leser und Benutzer. Es kann einen lehren, dass die Kirche in all ihren Lebensäußerungen und also auch in ihren Gesängen gut daran tut, sich auf ihre Geschichte zu besinnen. Dann vermag der Reichtum, der Schatz, der in dieser Geschichte ja nicht verborgen ist, sondern am Tage, auch in der jeweiligen Gegenwart neue Kräfte hervorzubringen und zu entfalten.