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Ausgabe:

Mai/2018

Spalte:

517–519

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Falkenroth, Christina

Titel/Untertitel:

Die Passion Jesu im Kirchenlied. »Die auf ihn sehen, werden strahlen vor Freude …«.

Verlag:

Tübingen: Narr Francke Attempto 2017. 595 S. = Mainzer Hymnologische Studien, 28. Kart. EUR 88,00. ISBN 978-3-7720-8614-4.

Rezensent:

Jochen Arnold

In einer Zeit, in der die Bedeutung der Passion Jesu für Theologie und Kirche gleichermaßen strittig scheint, kommt eine Untersuchung zu evangelischen Passionsliedern gerade richtig. Christina Falkenroth legt in ihrer Wuppertaler Dissertation, erschienen in der re­nommierten Mainzer Reihe für hymnologische Studien, einen in mehrfacher Hinsicht interessanten Beitrag zum Gespräch vor.
Sie widmet sich exemplarisch 14 Liedern aus dem 16. und 17. Jh., die auch im Evangelischen Gesangbuch (zumindest teil­weise) vertreten sind. Zwei Drittel der Arbeit nehmen die Einzeluntersuchungen ein, je ein Sechstel fasst die Ergebnisse systematisch-theologisch und praktisch-theologisch zusammen. Der hermeneu-tische Schlüssel ist eine Orientierung an der »Passionsauffassung Luthers«, wie sie zum einen im »Sermon von der heiligen Betrachtung des heiligen Leidens Christi« (1519) und im Osterlied (!) Christ lag in Todesbanden (EG 101) deutlich wird. Gerade der Ausgangspunkt bei letzterem überrascht, erweist sich aber bei genauerem Hinsehen als höchst plausibel, bietet das Lied doch verschiedene Interpretamente und Bilder für das Sterben (und Auferstehen) Jesu an: seine Stellvertretung pro nobis im Reich des Todes, das duellum mirabile (»wunderlicher Krieg«) und das christologisch verstandene Passafest (Brücke zum Abendmahl) sowie anthropologisch die Trias von »Erschrecken über der eigenen Sünde«, »Erkennen der Liebe Gottes« und Dankbarkeit.
Wesentlich für die Interpretation der Lieder und damit auch des Passionsgeschehens ist der Ansatz bei Luther in mehrfacher Hinsicht. F. akzentuiert die Souveränität Gottes im Passionsgeschehen (»Allein Gottes Handeln«, vgl. 30 f.) und damit auch den Geschenkcharakter (sacramentum). Ihm nachgeordnet ist der paränetische Charakter (exemplum), der zur liebenden Tat der Hingabe auffordert. Unter den göttlichen Eigenschaften wird die Liebe damit der (All)weisheit und (All)macht klar vorgeordnet. Trinitätstheologisch gewendet ist Gott nicht (stoisch) apathisch, der Vater leidet mit dem Sohn mit. Im Blick auf die zentrale soteriologische Frage, inwiefern Luther Anselms Satisfaktionslehre vertritt (38 f.), meint F., dass »er Schwerpunkte neu setzt«, ohne ein systematisch ge­schlossenes Konzept vorzulegen, sich aber deutlich »von der ju-ris­tischen Rechnung Anselms« entfernt, woraus folgt, dass »Chris­tus nicht den Zorn Gottes versöhnt …«. Das Wesen der Rechtfertigung liege »hier nicht in der satisfactio, sondern in der Vernichtung der Sünde« (39). Auch die grundlegende Bedeutung der Musik und des Singens wird in einigen Kernaussagen von Luther her entwickelt. Die Liedanalysen bleiben nicht nur auf der Textebene, sondern versuchen, musikalisch-melodische Phänomene inhaltlich zu deuten. Dazu einige Beispiele:
In Luthers Lied (EG 101) wird der Klangraum von insgesamt einer Oktave untersucht. F. bringt die Teile über dem Zentralton a‘ mit der göttlichen und die darunter liegenden mit der »menschlichen, todesverfallen Sphäre« (66) zusammen, wobei das Herabkommen Christi in die letztere die Verhältnisse wendet. Im zweiten Teil der ersten Strophe wird dies durch die »energetische Bewegung aus der Zone des Menschlichen« hin zum Lob Gottes (Halleluja) sinnenfällig.
Für das Lied Christus, der uns selig macht (EG 77) deutet F. das feierliche Schreiten in regelmäßigen Vierteln als Weg zum Kreuz und damit zum Mitleiden, wobei die angezeigten Stunden jeweils an bestimmten Stationen innehalten und meditieren. Das allmähliche Fallen der ersten vier Phrasen vom Spitzenton wird als Bild für das Herabkommen Jesu aus der himmlischen Sphäre Gottes und damit als Abbildung der Erniedrigung gedeutet.
Für das Lied O Traurigkeit (EG 80) beschreibt F. eindrücklich den musikalischen Innovationsgehalt hinsichtlich des klagenden Af­fektes, z. B. durch die Melodieführung (Dreiklangsbrechung und Seufzermotivik) und die expressiven Pausen: »Diese musikalische Gestaltung ist ungewöhnlich und zeugt von einem Paradigmenwechsel in der Gattung des Liedes, das sich zuvor eher durch Symmetrie und im Gleichmaß gehaltene Choralzeilen auszeichnete. […] Es handelt sich hier um eine Liedgattung, die um 1600 in Deutschland allmählich Fuß fasst: Das deutsche Generalbaß-Lied (GB), das vom italienischen Solomadrigal beeinflusst ist.« (230 f.)
Von großer Bedeutung ist die Interpretation des nicht unumstrittenen Paul-Gerhardt-Liedes Ein Lämmlein geht (EG 83), das mit seiner Melodie traditionelles Material (An den Wasserflüssen, Psalm 137) aufnimmt. F. betont, dass mehrere »neutestamentliche Deutungen« in das Lied eingeflossen seien, wobei der universale, heilsgeschichtliche Horizont im Blick bleibe. Für die Gesamtaussage des Liedes, das sich in seiner dialogischen Struktur an Nun freut euch, liebe Christen g’mein von Luther anlehnt, scheint mir wesentlich, dass F. den »Gehorsam Jesu dem Vater gegenüber« nicht nur als Tugend, sondern als »Willenseinheit Christi mit dem Vater« deutet, womit eine wichtige soteriologische Weiche gestellt ist (vgl. 301): Gottes Liebe treibt Christus zur Welt und ins Leiden. Dies tut er jedoch freiwillig für uns. Diese Zuwendung wird von mensch-licher Seite durch innige Jesus-Liebe beantwortet, deren Herkunft F. nicht nur in der mittelalterlichen Mystik, sondern auch in der paulinischen Theologie begründet sieht (vgl. Gal 2,20), und zu den schönsten Passionsstrophen zu rechnen ist.
F. äußert sich nur an wenigen Stellen auch kritisch gegenüber einzelnen Texten und Aussagen. So konstatiert sie etwa im Lied Du großer Schmerzensmann (EG 87) Spuren anselmischer Satisfaktionslehre. In Str. 1 (»vom Vater so geschlagen«) würde gar Gott missverständlich als Ursache des Leidens bezeichnet (vgl. 393). Andererseits fänden sich im Lied auch der weniger problematische Loskaufgedanke und Aussagen zur Stellvertretung.
Hilfreich sind m. E. die in Kapitel 4 vorgetragenen systematischen Bündelungen zur »Theologie der Passionslieder«. Dabei werden zunächst unterschiedliche Deutekategorien zum Tod Jesu referiert: An der Spitze steht der Begriff Opfer. Er taucht in den Liedern des 16./17. Jh.s (im EG) erstaunlicherweise nur einmal auf (EG 76,1) und ist mit dem Zusatz »für uns« verbunden, womit rechtfertigungstheologisch klar ist, dass eine menschliche Leistung für Gott nicht gemeint ist: »Der Handelnde im Geschehen ist Gott. Er vollzieht nicht nur die Entsühnung, sondern er gibt sich selbst als Opfergabe.« (476) Weitere Kategorien sind der Gedanke der »Stellvertretung« samt seinen ethischen Implikationen (als Befreiung zu einem verantwortlichen Leben) sowie das Bild des Loskaufs. Andere Themen der Passionslieder sind die »Gründung der Person in Christus« (488 ff.) und die wiedergewonnene Gottebenbildlichkeit des Menschen ( Imago Dei), die eine Begegnung vor dem Kreuz »ohne Scham« ermögliche.
Im praktisch orientierten Kapitel 5 wird beschrieben, was passiert, wenn Menschen heute Passionslieder singen. F. ermittelt Ambivalenzerfahrungen von Verrat und Tugend, Ohnmacht und Mitleid, Trauer und Trost. Sie geht davon aus, dass bei der Betrachtung Christi am Kreuz nicht nur Betroffenheit entsteht, sondern auch neue Erkenntnis wächst, die am Ende dazu führt, Trost und Hoffnung für das eigene Sterben zu vermitteln: »Der Tod ist kein herrschaftsloser Raum, kein chaotischer Ort ungerichteter Kräfte. Sondern auch dort waltet Gott …« (546). Optimistisch formuliert sie: »Der Singende steht vor dem Gekreuzigten und indem er ihn betrachtet, findet er Antwort zu den Grundfragen des Lebens: ›Wer bin ich?‹, ›Worauf ist mein Leben gegründet?‹; ›Worauf kann ich mich verlassen?‹« (577)
Am Ende wird so ein fast seelsorgliches Anliegen deutlich: In der Begegnung mit dem gekreuzigten Christus und in einer »Lebenshaltung des Empfangens« (581) werde es den Glaubenden aufs Neue geschenkt, »ohne Scham« vor Gott zu leben und zu »strahlen vor Freude« (Ps 34,6). Insofern enthält das Buch nicht nur eine kluge Reflexion alter (in ihrer ganzen Komposition diskutierter) Kirchenlieder, sondern auch die Beschreibung einer theologischen Anthropologie des Singens, die zu befreitem Leben und fröhlichem Danken ermutigt.
Insgesamt atmet die Arbeit eine große Weite und besitzt eine klare wissenschaftliche Stoßrichtung, die auch anschlussfähig für den aktuellen kirchlichen Diskurs ist. Fast ist es zu bedauern, dass sich F. auf die Lieder des 16./17. Jh.s beschränkt und nicht auch aktuelle Passionslieder vorgestellt und interpretiert hat.