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Ausgabe:

Mai/2018

Spalte:

515–517

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Erne, Thomas

Titel/Untertitel:

Hybride Räume der Transzendenz. Wozu wir heute noch Kirchen brauchen. Studien zu einer postsäkularen Theorie des Kirchenbaus.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2017. 254 S. m. zahlr. Abb. Kart. EUR 34,00. ISBN 978-3-374-04832-8.

Rezensent:

Dietrich Korsch

Kirchen sind da, stehen als umbaute Räume im Raum. Es gibt sie. Das ist der Ausgangspunkt. Fragt man aber, warum es sie gibt, was sie bedeuten und wozu sie gut sein könnten, tut sich eine Vielzahl von Perspektiven auf: Städtebauliche und architektonische, ästhetische und raumtheoretische, liturgische und kommunikative Sichtweisen wollen zusammengebracht werden. Das gelingt Thomas Erne, dem ästhetisch und theologisch gleichermaßen gebildeten Direktor des Instituts für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart an der Philipps-Universität Marburg, indem er sich des Begriffs bedient, den der Titel – zunächst eher rätselhaft, dann aber sehr prägnant – einführt.
Will man die Rede von hybriden Räumen der Transzendenz nä­her aufschlüsseln, dann kommen folgende Merkmale ins Spiel: Transzendenz gibt es nur im Vollzug, nicht als Gegebenheit. Aus diesem Grund braucht es erstens »Räume«, an denen Transzendenz sich ereignet. Diese Räume müssen freilich, zweitens, auf die Vergegenwärtigung von Transzendenz verweisen, die statthaben soll. Der Verweischarakter schließlich, drittens, ist durch die Räume, so sehr sie sich in ihrer Art den Vollzugsformen auch wieder verdanken, nicht festgelegt. Es entsteht so das Bild einer Verschiebung und Überlappung von Perspektiven – eben: ein hybrides Gebilde –, welches in seiner Vielfältigkeit die Eigenart von Kirchen ausmacht. Im Grunde läuft die an einer Vielfalt orientierte Begrifflichkeit des Hybriden auf ein Verhältnis zu, in dem sich eine strukturelle Transzendenzerwartung und eine aktuelle Transzendenzereignung auf unvorhersehbare und unbeherrschbare Weise be­gegnen.
Damit verfügt E. über ein starkes Instrument zur Interpretation sowohl der systematischen Grundprobleme als auch der historischen Eckdaten des (neueren) Kirchenbaus. Systematisch lässt sich zeigen, dass Kirchengebäude stets dahin drängen, sich als Orte der Transzendenzfrage darzustellen. Dieser Gesichtspunkt stellt so etwas wie den cantus firmus bereit, über dem sich die verschiedenen Konzeptionen des modernen Kirchenbaus bewegen. Kirchengebäude fordern gewissermaßen einen Gebrauch, ohne ihn selbst vornehmen zu können. Auf das Ereignis warten zu müssen, das begrenzt ihre Rolle; diese Erwartung aber wachzuhalten, bleibt ihre Funktion. Und genau in dieser bestimmten Begrenzung be­steht ihr hybrider Charakter.
Diese systematische Perspektive (A. 18–30) leitet dann auch den Weg durch prominente Stationen des Kirchenbaus seit dem letzten Drittel des 19. Jh.s, also seit dem Eisenacher Regulativ von 1861 (B. 33–117). Dabei zeigt sich, dass es die Kirchen der jeweiligen Zeit stets mit dem Schweben zwischen Präsenzerwartung und Präsenzverwirklichung zu tun haben – auch wenn die Formen, unter denen die erhoffte Einheit eintritt, sich wandeln. Die Pointe dieses Durchgangs ist eine doppelte: Einmal besitzen und behalten die Kirchengebäude, unangesehen ihrer kirchbaulichen Programma tik, eine Transzendenzanmutung; je mehr diese architektonisch hintangestellt werden soll, umso mehr wird sie von den Besuchern eingefordert. Sodann aber: Die Art der Erfüllung dieser Transzendenzerwartung steckt nicht im Kirchenraum als solchem. Das bedeutet, dass nicht nur ein religiöser Umgang mit den Kirchen nötig ist, der sich aus eigenen Quellen speist, sondern dass auch andere als Kirchenbauten eine solche Transzendenzerwartung auslösen können, etwa Museen, Opernhäuser, Fußballstadien, Messehallen. Die gemeinsame Fluchtlinie beider Akzente besteht in der Einsicht in die Unvermeidlichkeit eines postsäkularen Kirchenbaus – aber eben in dieser Restriktion, die nach Erfüllung ruft, sie aber nicht erzeugen kann.
Wie sich diese postsäkulare religiöse Funktion darstellt und wie sie erlebt wird, ist Gegenstand des dritten Kapitels (C. 119–169). Dabei wird vom Erleben ausgegangen, welches Transzendenz als »Daseinsweitung« auffasst. Hier kommen die Merkmale zur Sprache, die Kirchen als zweckfreie, für nichts anderes als auf Transzendenzerfahrungen ausgerichtete Räume auszeichnen. In der Tat lässt sich die eigenartige, verwertungsresistente, insofern übermäßige Architektur von Kirchen gut aus dieser Perspektive aufschlüsseln. Gleichzeitig wird auch die Differenz zu anderen Baukörpern thematisch, die, wie gesagt, ebenfalls als Orte der »Daseinsweitung« verstanden werden können. Dass dabei Kunst und Sport eine b esondere Rolle spielen, liegt nahe, sind doch beide auf gewisse Weise mit der Zweckfreiheit der Religion verschwistert. Eine be­sonders interessante Reihe von Beobachtungen gilt alsdann um­gebauten Kirchen. Es zeigt sich nämlich durchgängig – und zwar wiederum: unabhängig von einer theologisch oder gemeindepädagogisch gesteuerten Programmatik –, dass es stets transzendenzbezogene Momente sind, die hinzugefügt und/oder verstärkt werden.
Das letzte Kapitel (D. 171–220) wendet sich der Funktion des Bildes in den Kirchen als Hybridräumen zu. Es zeichnet die Fruchtbarkeit von E.s Zentralbegriff aus, dass sich am Bild gewissermaßen eine Verdichtung des Rhythmus von Erwartung und Erfüllung durchdeklinieren lässt, der auch die Struktur von Kirchenräumen ausmacht. Das Bild zwingt dazu, das Nacheinander des Betrachtens ins Zugleich der anschaulichen Präsenz zu transformieren. Das ist ein Vorgang, der die Materialität und die Leitfunktion des Bildes nötig hat, der aber nicht allein vom Bild erzeugt wird, sondern der eine religionsanaloge Erfahrung darstellt. Nun geht es E. aber nicht um die Allgemeinheit einer Bildtheorie, sondern um die spezifische Verwendung von Bildern und bildähnlichen Inszenierungen in Kirchen, genauer gesagt: in gottesdienstlichen Handlungen im Kirchenraum. Denn auch das, was die Liturgie macht, ist am Ende nichts anderes als das, was auch Leistung des Kirchenraumes ist, lediglich in Handlungsabfolgen übersetzt. Damit kommt E. auf das in der Marburger Universitätskirche besonders gepflegte Projekt einer Liturgy-Specific Art zu sprechen, an dessen Konzeption Gaby Erne maßgeblich beteiligt ist. Kunst wird zum Medium der Liturgie, tritt als Liturgie auf und lehrt auf diese Weise, die Transzendenzerwartungen von Raum und Handlung so zuzuspitzen, dass das religiöse Erleben sich – aus eigenen Gründen! – einstellen kann. Im Grunde bewährt sich so eine dialektisch-theologische Einsicht, nämlich die von der Zuspitzung humaner Erwartung auf die Gottespräsenz, die sich dann doch allein durch Gott realisiert.
»Studien zu einer postsäkularen Theorie des Kirchenbaus« hatte E. in seinem zweiten Untertitel versprochen. Das Buch enthält mehr als das, nämlich Grundzüge einer Religionsästhetik als Disziplin der Praktischen Theologie. E. erweist sich darin als überzeugender Gesprächspartner von philosophischen Theoretikern wie Hans Joas, Matthias Jung, Martin Seel und Gunnar Hindrichs ebenso wie der theologischen Ästhetiker Wilhelm Gräb, Michael Moxter und Philipp Stoellger, um nur einige prominente Autoren zu nennen. Die Debatte um Gegenwart und Zukunft des Kirchenbaus wird an diesem Buch nicht vorbeigehen.