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Ausgabe:

Mai/2018

Spalte:

513–515

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Wenzel, Gerhard

Titel/Untertitel:

»Dein Armer!« Das diakonische Engagement der Hugenotten in Berlin von 1672 bis 1772. Diakonie zwischen Ohnmacht, Macht und Bemächtigung.

Verlag:

Hamburg: Verlag Dr. Kovač 2016. XII, 742 S. = Studien zur Kirchengeschichte, 25. Geb. EUR 148,80. ISBN 978-3-8300-6623-1.

Rezensent:

Thomas Zippert

Der hier zu besprechende Band ist die Fortsetzung des 2013 erschienenen Werks Gerhard Wenzels: »Das diakonische Engagement der Hugenotten in Frankreich – von der Reformation bis 1685: Diakonie zwischen Ohnmacht, Macht und Bemächtigung« (vgl. ThLZ 141 [2016], 371 f.), dessen Ertrag in der Einleitung resümiert wird (15–19). Seine Anfänge gehen auf ein im Jahr 1991 bei Günter Brakelmann begonnenes und bei Ute Gause zu Ende gebrachtes Promotionsvorhaben zurück.
Hier nun folgt die Darstellung des diakonischen Engagements der Hugenotten im Refuge. Der Vf. belegt am Berliner Beispiel die drei Hauptthesen der ersten Monographie, nämlich erstens Diakonie als selbst verwaltete Gemeindediakonie zu betreiben, begründet im Verständnis der Kirche als »Mutter der Armen« (mit Verweis auf Calvins Ekklesiologie), zweitens dafür ein gemeindliches Diakonenamt zu nutzen, wie es in den ersten Flüchtlingsgemeinden als dreifaches Amt in Straßburg und Genf konzipiert, in den französischen Hugenottengemeinden weiterentwickelt und auch in Berlin als noch heute in der Gemeinde des französischen Domes bestehendes »Diaconat« etabliert wurde (anders als und unabhängig von Calvins viergliedrigem Amt). Diese Gemeindediakonie versteht sich drittens als Hilfe zur Selbsthilfe, die von der »Face-to-Face-Begegnung mit den Betroffenen selbst« (16) lebt und Bildung und Orientierung an den Bedürfnissen und Gaben der Betroffenen in den Mittelpunkt stellt und nicht deren Sozialdisziplinierung durch Zwangsarbeit in Manufakturen, Armen- und Zuchthäusern.
Diese diakonische Selbstorganisation ist nicht nur der Situation als Flüchtlingsgemeinde geschuldet, die als Fremde von den Leis­tungen des aus dem Mittelalter stammenden Hausarmenrechts ausgeschlossen waren, sondern auch den eigenen Ressourcen zur Selbstorganisation. Der Vf. entfaltet dies mit Blick auf die Armenfürsorge im restlichen Berlin, wie sie unter teilweiser Mitwirkung Philipp Jakob Speners vom preußischen Hof gänzlich anders konzipiert wurde (Kapitel 3). Ob dessen diakonisches Wirken in Kenntnis, Kontakt mit oder gar in konfessioneller Abgrenzung gegenüber dem Wirken der Flüchtlingsgemeinde geschah, ist unbekannt. Es muss zukünftiger Forschung zu denken geben, dass sich Speners diakonisches Wirken schon an seinem vorherigen Wirkungsort in Frankfurt (Main) (Gründung des Frankfurter Waisenhauses) deutlich von dem der dortigen Hugenottengemeinde unterschied. In beiden Gemeinden stellten Hugenotten zeitweise ein Fünftel der Bevölkerung – was geschah bzw. geschah nicht zwischen diesen Christenmenschen vor Ort?
Diese nichtpietistischen Varianten diakonischer Armenfürsorge derart material- und beziehungsreich dargestellt zu haben, erfüllt ein trotz neuer Forschung (Th. K. Kuhn u. a.) immer noch bestehendes Desiderat der Kirchen- und Diakoniegeschichtsschreibung, das sich sogleich um ein weiteres vermehrt, nämlich die Erhellung der Geschichte der Migrationsgemeinden in Deutschland, deren Ankunft zwar berichtet, deren Weiterentwicklung und Austausch mit den Eingeborenengemeinden sich aber im Dunkel verliert, auch wenn lokal- und regionalgeschichtliche Forschung hier und da die Lücken zu füllen beginnt. Ebenso führt es aus Verengungen hinaus, das Wirken von Diakonen bzw. diakonischen Ämtern vor und neben Wichern und Fliedner in Erinnerung zu rufen.
Das Hauptkapitel entfaltet die diakonische Praxis der Hugenottengemeinde in Berlin entlang der Gründung und Geschichte ihrer Einrichtungen bis zum Jahr 1772. Es sind dies zunächst zwei Einrichtungen, die Kurfürst Friedrich III., der spätere ersten Preußenkönig Friedrich Wilhelm I., für die Colonie stiftete bzw. unterstützte: das 1672 gegründete Hôpital Français für Alte, Kranke, Gebärende oder anders nicht Versorgte (S131–172) und das Maison Française de Charité aus dem Jahr 1688 für ca. 38 Menschen, die sich nicht selbst versorgen konnten (Menschen mit Behinderungen, in hohem Alter, alleinstehend, auch Jugendliche; 173–182) – der Name »Charité« erscheint hier in Berlin einige Jahrzehnte vor Gründung der 1710 als Pestlazarett gegründeten und noch heute bestehenden Charité, dem Berliner Universitätskrankenhaus.
Im Jahr 1699 gründet sich aus der Gemeindeleitung (»Consis-toire«) heraus das »Diaconat« als »das für die [sc. ambulante] Armenfürsorge zuständige Gremium der Gemeinde« (114); es tagte wö­chentlich und hatte pro Jahr zwischen 651 Anfragen (1705) und 1709 (1720) zu bearbeiten (497). Die Protokolle weisen in der Anfangszeit vor allem Akuthilfen für die ankommenden bzw. weiterreisenden Flüchtlinge aus. Die Leistungen heißen übrigens beinah prophetisch nicht mehr Almosen ( aumône), sondern assistance (261).
Im selben Jahr entstehen eine Armenküche (Marmite), eine Ar­menbäckerei (Boulangerie) und ein Flüchtlingsheim: das Hôtel de Refuge, gefolgt 1704 von der Maison d’Orange für Flüchtlinge aus Orange. Das »Sol pour livre« entstand schon 1688 als Selbsthilfefond von und für Militärangehörige und andere Staatsbedienstete bzw. deren Witwen, die 5 % ihrer Einkünfte einzahlten (253–261); auch preußische Militärs beteiligten sich an dieser freiwilligen Pensionskasse. Ab 1704/5 wurde daraus freilich eine vom Staat angeordnete Pflichtabgabe. Es war in dieser Form eine Vorform einer Rentenversicherung, hoch innovativ, und wirkte über den Kreis der Colonie hinaus – freilich im Rahmen von Standesgrenzen.
Innovativ wurde die zweite Generation der Flüchtlinge mit dem Waisenhaus (Maison des Orphelins, von 1725) und der Armenschule (École de Charité, 1747), die sich, wie Briefe belegen, an pädagogischen Konzeptionen aus Halle (Francke) und aus den Niederlanden, und zwar nicht dem auf Ausbeutung beruhenden Zuchthaus (Tuchthuis), sondern den Gründungen der wallonischen Gemeinde in Amsterdam und den Bürgerwaisenhäusern der Niederländer orientieren. Anders als bei Francke in Halle bleiben diese Häuser Einrichtungen der Gemeinde: Die Waisenhauskommission wurde zur Hälfte vom Consistoire und Diaconat beschickt, zur anderen waren es die »chefs de famille« (Familienoberhäupter; 286). Es ging um den »Primat der Bildung gegenüber einer reinen Arbeitsbeschäftigung« (645), sprich: um die »Ausrichtung an Wünschen, Neigungen und Eignung der Kinder selbst, die von gezielten Fördermaßnahmen begleitet worden war«, ja sogar Begabtenförderung gab es (291.313). Die Vermittlung in Lehrstellen wurde begleitet und setzte nach einer Probezeit auch das Einverständnis der Jungen und Mädchen voraus (317 f.). Zugriffe der Manufakturindustrie waren erheblich, wurden aber abgewiesen (324–385). Mit der Zeit nahmen freilich Assimilationsdruck und Disziplinierungsversuche zu.
Auf Realitätshaltigkeit überprüft wird diese Darstellung durch statistische Auswertungen der Protokolle und Kassenbücher sowie eine methodisch ausführlich reflektierte, an Themenstichworten orientierte Auswertung von im Druck vorliegenden Predigten der Berliner französisch-reformierten Gemeinde zu diakonischen Themen (515–636). Sie zeigt Begründungslinien für das diakonische Handeln (z. B. ein bisweilen betonter Verdienstcharakter von Nächstenliebe; vgl. 572–578), aber auch die Abhängigkeit vom preußischen Herrscherhaus und die Herausforderungen des eigenen Sonderstatus auf.
Ein hoch verdienstvolles Werk, dem weitere Nachfolger zu wünschen sind, die weitere weiße Flecken der Diakoniegeschichte mit Konturen versehen. Sie haben das Potenzial, die gegenwär-tigen Diskurse um Risiken von Migrationsgemeinden (»Parallelge-sellschaften«) um die von deren kreativen zivilgesellschaftlichen Selbstorganisationspotenzialen (vgl. A. K. Nagel) zu erweitern.