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Ausgabe:

Mai/2018

Spalte:

496–498

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Zimmermann, Ruben

Titel/Untertitel:

Die Logik der Liebe. Die ›implizite Ethik‹ der Paulusbriefe am Beispiel des 1. Korintherbriefs.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (Neukirchener Theologie) 2016. XV, 349 S. = Biblisch-Theologische Studien, 162. Kart. EUR 55,00. ISBN 978-3-7887-2993-6.

Rezensent:

Vitor Hugo Schell

Nach einem viel beachteten Aufsatz aus dem Jahr 2007, der die Idee einer »impliziten Ethik« skizzierte, beschäftigte sich Ruben Zimmermann immer wieder an unterschiedlichen Stellen mit der Fragestellung. Maßgeblich für seine Beschäftigung mit dem Thema sei laut Z. der Ruf an die Johannes Gutenberg-Universität Mainz (IX) gewesen, wo er die Gründung des Forschungszentrums »Ethik in Antike und Christentum« im Jahr 2009 vorgenommen hat. In der Monographie »Die Logik der Liebe. Die ›implizite Ethik‹ der Paulusbriefe am Beispiel des 1. Korintherbriefes« legt Z. seine Überlegungen dar, »wie die ›implizite Ethik‹ wahrgenommen und re­flektiert werden kann« (X). Durch die Erforschung des 1. Korintherbriefes im Blick auf ein kohärentes System der Handlungsbegründung — eine »implizite Ethik« — zeigt Z., warum es möglich ist, Paulus als Ethiker zu bezeichnen, und wie die Ermutigung zum Handeln aus Liebe innerhalb seiner Briefe mit Vernunft und Einsicht einer gewissen »Logik« folgt. Die Analyse zielt u. a. darauf, die biblische Ethik in die aktuelle Wertediskussion wieder einzubeziehen. Um dies zu tun, versucht Z. »die Begründungszusammenhänge paulinischer Ethik mit Deskriptionsformen der gegenwärtigen Ethiktheorie zu analysieren« (VIII). Nach Z. gebe es im christlich-ethischen Diskurs Normen und Argumentationen, »die allgemein vermittelbar und z. B. mit Vernunft nachvollziehbar sind« (3). Die spezifisch ethische Dimension des 1. Korintherbriefs wird bei Z. herausgearbeitet. Eine ethische Plausibilisierungsstrategie, die hinter der rhetorischen Ausgestaltung des Paulus steht, sowie die Art und Weise, wie der Apostel durch sprachliche Mittel moralische Signifikanz erzeugt, wird dargestellt. Im 1. Korintherbrief kann nach Z. ein Verfahren entdeckt werden, das den ethischen Gehalt eines historischen Textes entschlüsselt und sogar »Impulse für die ethische Interpretation anderer Texte des Neuen Testaments oder des frühen Christentums« anbietet und darüber hinaus den innertheologischen Ethik-Diskurs bereichert.
Im ersten Teil seines Werkes setzt sich Z. mit allgemeinen Überlegungen bezüglich des Begriffs und der Begründung der Ethik auseinander. Nachdem die zentralen Begriffe Moral, Ethos, Ethik und Metaethik erklärt werden, kommt Z. auf die Frage zu sprechen, ob der Begriff der »Ethik« bei Paulus überhaupt zu gebrauchen wäre, da solche »Ethik« bei ihm in Briefform vorliege. Laut Z. sei die Suche nach einer »Ethik des Paulus« nur dann legimitiert, wenn die Kriterien von Rationalität, Kohärenz und Systematizität beiseite gelassen werden. Im Anschluss thematisiert Z. kurz die moderne Ethiktheorie, die antike ethische Reflexionskunst sowie die Differenz des Reflexionsniveaus. Im zweiten Teil des ersten Kapitels kommt er schließlich auf den Begriff der »impliziten Ethik« zu sprechen. Nach Z. sei es gerechtfertigt, von einer »impliziten Ethik« zu sprechen, da der Apos­tel in seinen Briefen in Einzelfällen Fragen beantwortet und damit Verhaltensregeln und Wertmaßstäbe aufstellt, die zeitüber greifende und sogar universelle Geltung beanspruchen. Darüber hinaus versucht Z. konkret aufzuzeigen, wie »in einem Text ethische Plausibilität und Wertung erzeugt« (19) wird. Am Ende des ersten Kapitels erläutert Z. die Rezeption und Wirkung von Bultmanns »Indikativ-Imperativ-Modell«, dessen Fortschreibungen bei Ernst Käsemann, Otto Merk, Josef Blank, Wolfgang Schrage, Dieter Zeller, Christoph Landmesser, Hans Weder und Michael Wolter sowie die Kritik des Bultmanns-Modells bei Knut Backhaus, Udo Schnelle, Folker Blischke, David Horrell, Hermut Löhr und Friedrich W. Horn. Auch Z. steht dem »Indikativ-Imperativ-Modell« kritisch gegenüber. Z. hält das Modell für unzureichend, »[u]m die Begründungszusammenhänge der paulinischen Ethik auf einem dem moralphilosophischen Wissenschaftsdiskurs angemessenen Niveau interpretieren und interdisziplinär vertreten zu können« (34).
Im zweiten Kapitel wird eine implizite Ethik »im Anschluss an die moralphilosophische Debatte und Terminologie« (IX) zunächst mit Beispielen aus dem ganzen Corpus Paulinum sichtbar ge­macht. Die »implizite Ethik« wird von Z. »bewusst als ein pluralistisches und pragmatisches Begründungskonzept« (37) gedeutet. Indem sich Sprache auf menschliches Handeln bezieht, habe sie Z. zufolge immer eine ethische Dimension. Bei Paulus geht es um Schriftsprache. Die implizite Ethik ist im Text gebunden, und Z. unterscheidet dabei drei Ebenen der »Textualität«: die intratextuelle, extratextuelle und intertextuelle Dimension der Ethik, die im zweiten Kapitel dargestellt werden. In diesem Kapitel geht Z. auf die Diskussion um die Traditionsgeschichte und Hierarchisierung von Normen ein (die Theorie der »starken Wertungen« des kanadischen Philosophen Charles Taylor wird von Z. rezipiert) und auf die Frage, wie moralische Signifikanz erzeugt wird. Nach Z. bringt »die jeweilige Sprachgestalt eine je spezifische Form der ethischen Reflexionsweise zum Ausdruck« (89). Bei Paulus sieht Z. verschiedene Reflexionsformen (narrative, metaphorische, mimetische und doxologische Ethik), die kombiniert und vermischt auftreten. Z. beschäftigt sich mit der Frage nach dem Subjekt der Ethik und überlegt, inwiefern es berechtigt wäre, »Subjektbegriff und Fragen der Autonomie und Heteronomie an die paulinischen Texte zu stellen« (99). Am Ende des zweiten Kapitels beschäftigt sich Z. me­thodisch mit der Frage nach einem Ethos, das implizit oder sogar explizit aus den paulinischen Quellen wahrgenommen werden kann. Z. fragt nach der Art und Weise, wie Paulus auf traditionelle Handlungsweisen Bezug nimmt und ein neues Ethos generiert, sowie nach Textindizien, die zeigen würden, »inwiefern die ethische Reflexion in 1Kor von vornherein auf Ausweitung der Horizonte angelegt ist« (121).
Im dritten Kapitel werden Beispiele einer impliziten Ethik aus dem 1. Korintherbrief erläutert. Z. zeigt auf, wie Paulus im 1. Korintherbrief zeitgenössische, popularphilosophische, hellenistisch-philosophische, jüdische und frühchristliche Normen nicht nur pauschal und unkritisch rezipiert, sondern »innerhalb einer eigenen Axiomatik und Ethik verortet« (140). 1Kor 14 und 1Kor 9 werden dabei im Spannungsfeld zwischen einer deontologischen und einer teleologischen Sichtweise untersucht. Die Güterabwägung wird am Beispiel des Ehediskurses in 1Kor 7 thematisiert. Eine »narrative Ethik« wird in 1Kor 11, eine metaphorische Ethik in 1Kor 14 und 1Kor 12, eine mimetische Ethik in 1Kor 10 und 4 bzw. 11 sowie eine doxologische Ethik in 1Kor 13 dargestellt. Im Blick auf das Subjekt der Ethik spricht Z. »im Anschluss an den Galaterbrief von einer ›Christonomie‹« (223). Explizite Ethos-Bezüge werden u. a. am Fallbeispiel der Abendmahlspraxis nach 1Kor 11,17–34 sowie textliche Geltungsansprüche insbesondere nach den sexualethischen Aussagen in 1Kor 5–6 sichtbar gemacht.
Im vierten Kapitel legt Z. die systematisch-hermeneutischen Folgen aus den ersten drei Kapiteln dar, die »über die Fachexegese hinaus auch die systematisch-theologische Ethikdebatte oder gar die Moralphilosophie anregen können« (251). Laut Z. sei die »implizite Ethik des Paulus« eine »Trapez-Ethik«, da sie »einlädt, gleichsam an den Tisch der Normendiskussion zu kommen und mit-zudiskutieren« (256). Abschließend zeigt Z., warum die »implizite Ethik des Paulus« durchaus im Sinne einer praktischen, einer Verzichts-, einer Körper- sowie einer Liebesethik interpretiert werden kann. Mit zahlreicher Literatur und drei Anhängen, die den Ge­brauch des Imperativs in 1Kor beschreiben sowie eine Auswahl von Normen und metaphorischer Ethik thematisieren, ist die Monographie von Z. ein unverzichtbares Werk im Blick auf die Diskus-sion über eine »Ethik bei Paulus«.