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Ausgabe:

Mai/2018

Spalte:

489–490

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Robertson, Paul M.

Titel/Untertitel:

Paul’s Letters and Contemporary Greco-Roman Literature. Theorizing a New Taxonomy.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2016. VIII, 308 S. = Novum Testamentum. Supplements, 167. Geb. EUR 115,00. ISBN 978-90-04-32027-7.

Rezensent:

Thomas Johann Bauer

Gegenstand der von Paul M. Robertson unter der Ägide von Stanley Porter, Brown University, als Dissertation erarbeiteten Studie ist die in der Forschung bis heute kontrovers diskutierte Frage der Einordnung des Paulus und seiner Briefe im Kontext der antiken griechisch-römischen und (früh)jüdischen Literatur sowie der da­mit verbundenen Frage nach der Bildung und sozialen Herkunft bzw. Stellung des Paulus. Die bisherigen Versuche in diesem Be­reich sieht R. insgesamt als methodisch inadäquat und in ihren Ergebnissen deshalb als ungenügend an. Entschieden wendet er sich vor allem gegen die in der Forschung teilweise noch immer vertretene Behauptung der Unvergleichbarkeit und Einzigartigkeit von Form und Stil der paulinischen Briefe.
Demgegenüber möchte R. zeigen, dass sich die paulinischen Briefe innerhalb der antiken Literatur verorten lassen und sich hinsichtlich Inhalt, Form und (sozialer) Intention eindeutig als Vergleichstexte bestimmen lassen. Als innovativ und weiterführend erachtet R. die von ihm gewählte Methode des Vergleichs und der Identifizierung von Parallelen zu den paulinischen Briefen in der antiken Literatur. Diese beruhe auf transparenten Kriterien zur Erhebung klarer empirischer Daten, aus denen sich die Gemeinsamkeiten und Unterschiede bestimmen und damit der Grad der Entsprechung und Vergleichbarkeit erheben lassen (4 f.). Als Kriterien für den Vergleich und die Einordnung eignen sich nach R. weder syntaktisch-grammatische Merkmale aus der Philologie noch die Vorgaben antiker Handbücher für Rhetorik und Stil. Als Kriterien müssten vielmehr die literarischen Charakteristika dienen, die sich bei genauer Lektüre aus den paulinischen Briefen und den potentiellen Vergleichstexten selbst erheben lassen. Diese ge­meinsamen Charakteristika konstituieren die Konventionen, die in einer sozialen Gruppe bei der Abfassung und Gestaltung eines Textes mit bestimmtem Inhalt und Zweck (meist) unbewusst als nicht explizit formulierte Richtlinien beachtet werden (104 f.). Den traditionellen Begriff »Gattung« verwirft R. hierfür zwar nicht grundsätzlich, lehnt aber ihre zu enge und starre Konzeption ab und spricht deshalb lieber von »socio-literary spheres« (16), denen vergleichbare Texte angehören.
Durch den Vergleich anhand solcher aus den Texten selbst gewonnener literarischer Charakteristika kommt R. zu dem Ergebnis, dass unter den Schriften der antiken Literatur vor allem drei Werke sich nicht nur als adäquate Vergleichstexte, sondern als klare Parallelen zu den paulinischen Briefen in Inhalt, Form und Zielsetzung bzw. Intention erweisen, nämlich die Diatriben des Epiktet (50–120 n. Chr.) sowie De morte und De pietate des Philodem von Gadara (ca. 110–40/35 v. Chr.).
R. selbst räumt ein, dass bezüglich der Kriterien, die er der Erhebung der Daten und seinem empirischen Vergleich zugrunde legt, zunächst Vorbehalte und Skepsis bestehen könnten, da er diese nicht in einem deduktiven, sondern in einem induktiven Verfahren gewonnen und festgelegt habe. Ausgangspunkt seiner Analyse sei nämlich der bei der Lektüre gewonnene (zunächst subjektive) Eindruck, dass bestimmte Texte einander in Form und Inhalt ähnlich scheinen (124 f.). Bei einer mehrfachen genauen und gründlichen Lektüre werden dann die Merkmale erhoben, die diese Texte teilen und die sie einander ähnlich machen. Ob und in welchem Maße sich aus diesen Merkmalen tatsächlich eine Vergleichbarkeit und Zusammengehörigkeit dieser Texte ergibt, sei zudem festzustellen, wie oft die einzelnen dieser Merkmale in diesen Schriften jeweils vorkommen, in welchen Kontexten sie sich finden und welche Funktion(en) sie haben (141). Zur weiteren Absicherung der Ergebnisse ist eine Gegenkontrolle an anderen Schriften durchzuführen, um zu zeigen, dass dieselben Merkmale in ihnen nicht bzw. nicht in derselben Häufigkeit oder derselben Weise vorkommen (152 f.).
Für die paulinischen Briefe führt R. diese Gegenkontrolle exemplarisch bzw. primär an zwei Schriften durch, nämlich am Panathenaikos des Aelius Aristides (147 – nach 177 n. Chr.) und an der sogenannten Damaskusschrift (2. Jh. v. Chr.). In diesen beiden Schriften, die einerseits für eine hoch trainierte Rhetorik und literarische Elite, andererseits für apokalyptisch geprägte jüdische Kreise stehen, finden sich die erhobenen literarischen Charakteris­tika nicht in derselben Dichte und Weise wie in den paulinischen Briefen und den mit ihnen vergleichbaren Schriften des Epiktet u nd Philodem. Auf dieser Basis lassen sich für R. die in der Forschung vertretenen gegenteiligen Positionen zur sozialen Herkunft und zur Bildung des Paulus zurückweisen. Paulus sei weder der Spitze der sozialen und literarischen Elite mit höchster rhetorischer Ausbildung zuzuordnen, noch handle es sich bei ihm um jemanden, der über keine formale Ausbildung verfügt. Auch seien er und seine Briefe nicht einfach in das jüdisch-apokalyptische Mi­lieu einzuordnen. Paulus sei ausgebildet »in a bureaucratic and/or informal-piecemeal fashion that exposed him to different literary conventions and rhetorical-conceptual tropes« (203). Er sei mit philosophischen Wanderlehrern zu vergleichen, denen auch Epiktet nahestehe; in der Ausbildung und sozialen Stellung sei beiden Philodem etwas überlegen.
Charakteristisch für die Studie ist, dass sie etwas mehr als die Hälfte (1–120) auf methodische Erörterungen, einschließlich ausführlicher Darstellungen zur Forschungsgeschichte verwendet, um sie gegenüber bisherigen Thesen abzugrenzen und die Defizite der bisherigen Forschung herauszustellen. Die Darlegung der »Daten«, auf denen die eigenen Thesen beruhen, erscheint demgegenüber auffällig kurz (121–169). Dies ist der Tatsache geschuldet, dass die Studie nicht das gesamte Datenmaterial bieten will, das R. den Leserinnen und Lesern vollständig auf einer eigenen Homepage zur Verfügung stellt. Der Veranschaulichung des Befundes soll außerdem ein Anhang mit Darstellung der Daten in Diagrammen und Tabellen dienen (222–246). Auch die Auswertung der Daten im Blick auf die Ausbildung und die soziale Stellung des Paulus (170–214) und die abschließende zusammenfassende Schlussfolgerung mit Ausblick (215–219) mutet im Vergleich mit dem langen methodisch-forschungsgeschichtlichen Abschnitt knapp an.
Im Blick auf die präsentierten Ergebnisse lässt sich bestimmt fragen, ob es denn so neu ist, dass Paulus und seine Briefe sich gut mit philosophisch paränetischen Schriften des Epiktet und Philodem vergleichen lassen. Überrascht und skeptisch werden allerdings wohl einige lesen, dass die Briefe des Epikur sich weit weniger als Vergleichstexte eignen sollen. Neue Erkenntnisse in diesem Bereich sind letztlich auch nicht die Intention der Studie. Vielmehr möchte R. eine methodische Basis bieten, auf der sich die in der Paulusforschung strittige Frage der Einordnung des Paulus und seiner Briefe in den Kontext der antiken Literatur sicher, transparent und definitiv beantworten lässt. Dem dürfte geschuldet sein, dass die Studie sich zumindest stellenweise wie eine Kontrolluntersuchung liest.
Die Studie von R. lässt sich dabei wohl in den Rahmen der digital humanities einordnen. Durch die Erhebung empirischer Daten und ihrer Bearbeitung und Auswertung mit elektronischen Hilfsmitteln soll subjektives Empfinden ausgeschaltet und so ein möglichst objektives Ergebnis erzielt werden.